Leitsatz (amtlich)
Ein Antrag ist auch dann "wegen Versäumnis der Ausschlußfrist abgelehnt" worden (SGG § 145 Nr 1), wenn das SG die Klage ausschließlich wegen Versäumung der Anmeldefrist des RVO § 1546 aF abgewiesen hat, ohne daß der Versicherungsträger sich auf diesen Ablehnungsgrund berufen hatte.
Normenkette
SGG § 145 Nr. 1 Fassung: 1958-09-03; RVO § 1546 Abs. 1 Fassung: 1942-08-20
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 2. Juni 1965 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger verlor am 27. April 1943 durch Unfall den linken Arm. Er war als siebenjähriges Kind in der Scheune des landwirtschaftlichen Betriebes seiner Eltern in Zachow, Krs. Königsberg/Neumark, von den Kammrädern der laufenden Häckselmaschine erfaßt worden.
Seit dem Jahre 1959 lebt der Kläger, der aus der SBZ gekommen war, endgültig im Bundesgebiet. Im Mai 1963 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung der gesetzlichen Unfallentschädigung. Er behauptete, zur Unfallzeit mit dem Suchen von Hühnereiern in der Scheune beschäftigt gewesen und dabei gestolpert zu sein; beim Versuch, sich an der Häckselmaschine festzuhalten, sei er in die Kammräder geraten.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24. Juli 1963 den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, der Kläger habe nicht glaubhaft machen können, daß er bei einer gegen Unfall versicherten Tätigkeit verunglückt sei; daraus, daß er bisher von keinem der früher zuständig gewesenen Versicherungsträger eine Unfallrente erhalten habe, sei zu schließen, daß es sich damals nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt habe.
Im Klageverfahren ist Beweis erhoben worden über die näheren Umstände, unter denen sich der Kläger den Verlust des linken Armes zugezogen hatte.
Das Sozialgericht (SG) Bremen hat durch Urteil vom 3. Dezember 1964 die Klage als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Nach § 1546 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF habe der Anspruch auf Unfallentschädigung zur Vermeidung des Ausschlusses spätestens zwei Jahre nach dem Unfall bei dem Versicherungsträger angemeldet werden müssen, wenn die Entschädigungsleistung nicht von Amts wegen festgestellt worden sei. Diese Frist habe gemäß § 10 des Fremdrentengesetzes (FRG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I 93) spätestens im Herbst 1959 zu laufen begonnen und sei deshalb - bei großzügigster Auslegung - am 31. Dezember 1961 abgelaufen. Da der Kläger seinen Antrag auf Entschädigung erstmals am 3. Mai 1963 gestellt habe, sei die gesetzlich vorgesehene Ausschlußfrist von zwei Jahren fruchtlos verstrichen. Diese Ausschlußfrist, die von Amts wegen zu beachten sei, hindere den Kläger unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung daran, den Anspruch noch geltend zu machen. Auch die Bestimmung des § 1547 RVO aF schließe die Annahme einer rechtzeitigen Antragstellung aus, weil die Amputation des linken Armes seit dem Jahre 1943 nicht zu einer irgendwie gearteten, erst jetzt den Bezug einer Unfallrente berechtigenden Verschlimmerung geführt habe. Die neue Fassung des § 1546 Abs. 1 RVO sei erst mit Wirkung vom 1. Juli 1963 in Kraft getreten und nur anwendbar auf Unfälle, die nach diesem Zeitpunkt eingetreten seien. Bei dieser Sachlage könne es dahingestellt bleiben, ob die nach § 4 FRG lediglich erforderliche Glaubhaftmachung der nach dem Gesetz erheblichen Tatsachen dem Kläger gelungen sei. Die sich zum Teil widersprechenden Erklärungen der beiden Elternteile des Klägers in bezug auf wesentliche Momente sowohl hinsichtlich des Unfallgeschehens als auch der weiteren Umstände müßten erhebliche Zweifel an einem Geschehensablauf erwecken, der als Arbeitsunfall zu werten wäre. Solche Umstände seien auch nicht glaubhaft gemacht.
In der Rechtsmittelbelehrung des Urteils hat das SG ausgeführt, der Kläger könne gegen dieses Urteil Berufung einlegen.
Der Kläger hat die Berufung eingelegt und folgendes geltend gemacht: Es sei nicht ausreichend aufgeklärt worden, ob sein Entschädigungsanspruch zweifelsfrei gegeben sei, so daß die Ausschlußfrist nicht geeignet sei, den Klaganspruch zu Fall zu bringen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Mutter des Klägers als Zeugin über den behaupteten Unfallhergang und über die Wahrung der Anmeldefrist vernommen.
Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend und hat im Termin zur mündlichen Verhandlung in erster Linie beantragt, die Berufung des Klägers als unzulässig zu verwerfen.
Das LSG hat diesem Antrag durch Urteil vom 2. Juni 1965 entsprochen. Zur Begründung ist u. a. folgendes ausgeführt: Die Berufung des Klägers sei nach § 145 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Ein Ausnahmefall des § 1547 RVO aF sei nicht geltend gemacht. Die Beklagte habe zwar den Entschädigungsanspruch des Klägers lediglich mit der Begründung abgelehnt, ein Arbeitsunfall sei nicht glaubhaft gemacht worden. Das SG habe aber die Klage wegen Versäumung der Ausschlußfrist des § 1546 RVO aF abgewiesen. Deshalb sei die Berufung unzulässig. Die im vorliegenden Fall zu prüfende Frage, ob die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch des Klägers zweifelsfrei erfüllt seien, sei zu verneinen. Die Beklagte habe auch nicht etwa dadurch, daß sie den Entschädigungsanspruch lediglich mit der Begründung abgelehnt habe, ein Arbeitsunfall sei nicht glaubhaft gemacht worden, auf die Geltendmachung der Fristversäumung verzichtet. Das Verfahren erster Instanz leide auch nicht an einem wesentlichen Mangel. Ebensowenig liege ein Anwendungsfall der Nr. 3 des § 150 SGG vor.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist den Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 3. August 1965 zugestellt worden. Der Kläger hat durch seine Prozeßbevollmächtigten gegen dieses Urteil am 26. August 1965 Revision eingelegt und diese am 19. Oktober 1965 innerhalb der nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG verlängerten Frist begründet.
Die Revision rügt, das LSG sei unter Verstoß gegen materielles und formelles Recht zu der Auffassung gelangt, daß der Kläger die Tatsachen, die den behaupteten Arbeitsunfall ergäben, nicht glaubhaft gemacht habe; ferner meint sie, bei erschöpfender Aufklärung des Sachverhalts sowie gesetzlich einwandfreier Beweiswürdigung ergebe sich, daß der Klaganspruch gerechtfertigt sei.
Der Kläger hat beantragt,
unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen nach dem Klagantrag zu erkennen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist zulässig; sie hatte aber keinen Erfolg.
Das LSG hat zu Recht angenommen, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 3. Dezember 1964 nach § 145 Nr. 1 SGG ausgeschlossen ist. Nach dieser Vorschrift ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Berufung nicht zulässig, soweit sie Anträge betrifft, die wegen Versäumnis der Ausschlußfrist (§ 1546 RVO aF) abgelehnt wurden; es sei denn, daß Ausnahmefälle des § 1547 RVO aF geltend gemacht worden sind. Im vorliegenden Falle ist ein Anspruch streitig, der zwar nicht von der Beklagten, wohl aber vom SG deshalb als unbegründet angesehen worden ist, weil er erst nach Ablauf der Ausschlußfrist des § 1546 RVO aF iVm § 10 FRG geltend gemacht wurde. Aus diesem Grund allein hat das SG die Klage abgewiesen. Der Antrag, der den Gegenstand des klagabweisenden erstinstanzlichen Urteils bildet, betrifft auch die Berufung des Klägers, der sich mit ihr gegen die Auffassung des SG wendet, daß ihm wegen fruchtlosen Ablaufs der Anmeldefrist des § 1546 RVO aF kein Entschädigungsanspruch aus Anlaß seines Unfalls vom Jahre 1943 zustehe. Daß eine nachträgliche Geltendmachung des Anspruchs durch einen der Ausnahmefälle des § 1547 RVO aF gerechtfertigt sei, hat der Kläger nicht behauptet; es war für das Berufungsgericht auch nicht ersichtlich, daß ein solcher Fall gegeben wäre. Somit sind die Voraussetzungen des § 145 Nr. 1 SGG für den Ausschluß der Berufung gegen das Urteil des SG vom 3. Dezember 1964 gegeben. Dies hatte zur Folge, daß für die Nachprüfung der Frage, ob die erstinstanzliche Entscheidung zutrifft, d. h., ob das SG die Rechtslage im Hinblick auf § 1546 RVO aF zutreffend beurteilt hat, im Berufungsverfahren kein Raum mehr war. Das gilt auch für die Frage, ob das SG die Versäumung der Anmeldefrist, auf die sich die Beklagte nicht berufen hatte, zu Recht von Amts wegen beachtet hat.
Einen Antrag, der im Sinne des § 145 Nr. 1 SGG wegen Versäumnis der Ausschlußfrist abgelehnt wurde, betrifft die Berufung ohne Rücksicht darauf, daß die Beklagte die Fristversäumung nicht ausdrücklich eingewendet hatte. Insoweit kommt es lediglich auf die Entscheidung des SG an. Da im vorliegenden Fall durch das erstinstanzliche Urteil der mit der Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten verfolgte Entschädigungsanspruch lediglich wegen Versäumung der Anmeldefrist des § 1546 RVO aF verneint worden ist, hat das SG den in Streit befangenen Antrag im Sinne des § 145 Nr. 1 SGG abgelehnt. Die Ablehnung des Antrages im Sinne dieser Vorschrift muß nicht eine Maßnahme des Versicherungsträgers sein. Daß sich der Versicherungsträger auch nicht wenigstens im Streitverfahren auf die Ausschlußfrist berufen haben muß, damit der Grund des § 145 Nr. 1 SGG für die Ausschließung der Berufung gegeben ist, folgt schon aus dem umgekehrten Fall, der Gegenstand der Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. Januar 1962 (SozR Nr. 11 zu § 145 SGG) war. Dort hatte der Versicherungsträger sich auf die Versäumung der Anmeldefrist des § 1546 RVO aF berufen, das SG jedoch die Frage der Fristversäumung dahingestellt sein lassen und die Klage wegen Nichterweislichkeit des Arbeitsunfalls abgewiesen; das Berufungsgericht hatte den Ausschlußgrund des § 145 Nr. 1 SGG für gegeben gehalten, weil die Rechtsfolgen des § 1546 RVO aF feststellbar seien und der auf diese Vorschrift gestützte Einwand der Beklagten nicht rechtsmißbräuchlich sei; diese Auffassung ist im Revisionsurteil für unrichtig und die Berufung als statthaft angesehen worden.
Dafür, daß die somit nach § 145 Nr. 1 SGG ausgeschlossene Berufung des Klägers auf Grund eines der Tatbestände des § 150 SGG zulässig wäre, ist kein Anhalt ersichtlich. Das LSG hat zutreffend und von der Revision unwidersprochen verneint, daß dem Verfahren des SG ein wesentlicher Mangel (§ 150 Nr. 2 SGG) anhafte und ein Anwendungsfall des § 150 Nr. 3 SGG vorliege.
Die Rechtsmittelbelehrung des SG, nach der gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung eingelegt werden könne, ist sonach unrichtig. Damit ist für den Kläger jedoch keine diesem unrichtigen Inhalt der Rechtsmittelbelehrung entsprechende Anfechtungsmöglichkeit eröffnet worden (BSG SozR Nr. 10 zu § 150 SGG).
Die Revision mußte somit als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen