Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallrente. Rentenantrag. Berufung. Ausschluß

 

Orientierungssatz

Läßt das SG in seinem Urteil offen, ob der Kläger 1940 Unfallrente erhalten hatte, so hält es für möglich, daß der Kläger entweder den Anspruch angemeldet hatte oder aber daß der Anspruch von Amts wegen festgestellt worden war. Die Klage betrifft dann nicht einen Bescheid, der einen Rentenantrag wegen Versäumung der Ausschlußfrist abgelehnt hatte. Die Berufung ist danach nicht nach § 145 Nr 1 SGG ausgeschlossen.

 

Normenkette

SGG § 145 Nr. 1; RVO § 1546 Fassung: 1942-08-20

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 19.12.1962)

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 1962 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger behauptet, während des ersten Weltkrieges als Munitionsarbeiter in Oberschlesien bei einer Explosion an beiden Händen schwer verletzt worden zu sein. Eine Unfallrente will er wegen dieser Schädigung erst im Jahre 1940 nach seiner Übersiedlung in die Provinz Posen erhalten haben; sie sei ihm bis zu seiner Flucht nach Luckenwalde Anfang 1945 gezahlt worden. Dort habe er sich, wie er weiter behauptet, um die Bewilligung der Rente erneut bemüht, sei aber nicht in ihren Genuß gekommen, da er im September 1948 weiter nach dem Westen habe flüchten müssen.

Im September 1959 kam er aus Lothringen, wo er bis dahin gelebt hatte, in die Bundesrepublik. Hier beantragte er am 24. Februar 1960 beim Versicherungsamt der Stadt Gießen die Gewährung einer Unfallrente wegen der Folgen des behaupteten Arbeitsunfalls. Die Beklagte stellte hierzu Ermittlungen an. Durch Bescheid vom 26. Januar 1961 lehnte sie den Entschädigungsanspruch ab, weil weder der behauptete Arbeitsunfall noch der ursächliche Zusammenhang zwischen der bestehenden Versteifung beider Handgelenke des Klägers mit hochgradiger Bewegungseinschränkung sämtlicher Finger und einem Arbeitsunfall erwiesen sei, der Kläger außerdem den Entschädigungsanspruch nicht rechtzeitig nach §§ 1546, 1547 der Reichsversicherungsordnung (RVO) angemeldet habe.

Mit der Klage hiergegen hat der Kläger des näheren geltend gemacht, er habe im Jahre 1917 einen schweren Unfall in der Munitionsfabrik in K. bei Oppeln erlitten und seit dieser Zeit eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung erhalten. Das Sozialgericht (SG) Gießen hat hierüber durch Vernehmung von Zeugen Beweis erhoben. Durch Urteil vom 3. Juli 1962 hat es die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe die Anmeldefristen der §§ 1546, 1547 RVO versäumt. Er sei bereits im September 1959 aus Lothringen in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Seinen Antrag auf Wiederbewilligung der Unfallrente habe er erst fünf Monate später, im Februar 1960, gestellt und damit nicht die Frist des § 1547 RVO gewahrt, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre. Es könne dahingestellt bleiben, ob dem Kläger überhaupt ein Anspruch auf diese Unfallrente zustand. Da der Kläger über den Zeitpunkt des Unfalls wechselhafte Angaben gemacht habe und nicht verständlich sei, daß er nicht mehr wissen wolle, welcher Versicherungsträger ihm vom Jahre 1940 an eine Unfallrente gezahlt habe, sei der behauptete Rentenanspruch nicht als glaubhaft anzusehen.

Im Berufungsverfahren hat der Kläger zur Begründung seines Klaganspruchs nichts vorgetragen. Das Landessozialgericht (LSG) hat am 19. Dezember 1962 im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden. Es hat die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Berufung sei nach § 145 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Das SG habe den geltend gemachten Entschädigungsanspruch abgelehnt, weil der Kläger die in § 1546 RVO vorgeschriebene Anmeldefrist für die Unfallentschädigung nicht eingehalten habe. Damit sei der Fall des Berufungsausschlusses nach § 145 Nr. 1 SGG gegeben. Der Ausnahmefall des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO, der hier allein in Betracht kommen könnte, liege nicht vor, da der Kläger nach der zutreffenden Feststellung des SG den Anspruch binnen drei Monaten nach Wegfall des Hindernisses hätte geltend machen müssen. Er habe aber erst fünf Monate danach den Antrag gestellt.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Das Urteil ist dem Kläger am 18. Januar 1963 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 14. Februar 1963 Revision eingelegt und diese am 8. März 1963 begründet. Er rügt ua, das LSG hätte die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern in der Sache entscheiden müssen. Dazu trägt er vor: Das LSG habe die Berufung zu Unrecht nach § 145 Nr. 1 SGG für ausgeschlossen gehalten. Es habe außer acht gelassen, daß der Kläger im Jahre 1940 nach seiner Umsiedlung in deutsches Gebiet die Unfallrente schon erhalten habe. Damals sei ihm erstmals Gelegenheit gegeben gewesen, seinen Anspruch auf die Unfallentschädigung geltend zu machen. Außerdem habe er während seines Aufenthaltes in Luckenwalde erneut Antrag auf Entschädigung des Unfalls aus dem Jahre 1917 gestellt. Das SG hätte über dieses Klagevorbringen Beweis erheben, mindestens die Ehefrau des Klägers als Zeugin vernehmen müssen. Bei richtiger Anwendung der §§ 1546 und 1549 RVO wäre die Anmeldefrist als gewahrt anzusehen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des ablehnenden Bescheides der Beklagten ihm aus Anlaß seines Arbeitsunfalls im Jahre 1917 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80 v. H. zu gewähren,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie macht im wesentlichen geltend: Es sei nicht als erwiesen anzusehen, daß der Kläger jemals wegen des Unfalls eine Rente bezogen habe. Die Vorinstanzen hätten daher davon ausgehen müssen, daß etwaige Entschädigungsansprüche jedenfalls nicht rechtzeitig angemeldet worden seien.

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft, da der gerügte Verfahrensmangel vorliegt. Das Berufungsverfahren leidet an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; das LSG hat die Berufung als unzulässig verworfen, obwohl sie statthaft war und deshalb eine Sachentscheidung hätte ergehen müssen (BSG 1, 283).

Die Zulässigkeit der im August 1962 eingelegten Berufung ist nach § 145 Nr. 1 SGG idF des am 1. Juli 1958 in Kraft getretenen Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl I 409) zu beurteilen. Danach ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Berufung ua nicht zulässig, wenn sie Anträge betrifft, die wegen Versäumung der Ausschlußfrist (§ 1546 RVO aF) abgelehnt wurden, es sei denn, daß die Ausnahmefälle des § 1547 RVO aF geltend gemacht werden. Die Auffassung des LSG, daß der Ausschlußgrund des § 145 Nr. 1 SGG im vorliegenden Fall gegeben sei, trifft nicht zu. Die Berufung betraf entgegen der Annahme des LSG nicht einen Antrag, der wegen Versäumnis der Anmeldefrist des § 1546 RVO aF abgelehnt worden war. In dem erstinstanzlichen Urteil sind zwar die §§ 1546 und 1547 RVO aF angeführt. Aus der Begründung der Entscheidung ergibt sich jedoch, daß ein Anwendungsfall des § 1546 nicht vorliegen kann. Das SG hat offengelassen, ob der Kläger im Jahre 1940 wegen des Unfalls, der ihm im Jahre 1917 zugestoßen sein soll, Rente erhalten hat. Damit hat es für möglich gehalten, daß der Kläger entweder im Jahre 1940 den Entschädigungsanspruch angemeldet hatte oder daß damals die Leistung von Amts wegen festgestellt worden war. In beiden Fällen konnte der Kläger mit seinen Ansprüchen nicht nach § 1546 RVO aF ausgeschlossen sein. Bei diesem Sachverhalt kann dahingestellt bleiben, ob die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils dazu, daß der behauptete Arbeitsunfall nicht erwiesen sei, als eine die Entscheidung des SG tragende Begründung anzusehen sind. Da sonach das SG der Klage den Erfolg nicht wegen Versäumung der Ausschlußfrist des § 1546 RVO aF versagt hat, ist ein Anwendungsfall des § 145 Nr. 1 SGG nicht gegeben. Die Berufung war somit nicht auf Grund dieser Vorschrift ausgeschlossen und daher gemäß § 143 SGG zulässig.

Die hiernach statthafte Revision ist auch begründet. Zwar hat es bei dem vorliegenden Sachverhalt den Anschein, daß ein Anwendungsfall der §§ 1546, 1547 RVO aF gegeben sein könnte. Mit Rücksicht darauf, daß insoweit der Streitfall vor den Tatsacheninstanzen jedoch noch nicht abschließend erörtert worden ist, kann nicht völlig ausgeschlossen werden, daß die Entscheidung bei prozessual einwandfreiem Verfahren zu Gunsten des Klägers ergangen wäre.

Das angefochtene Urteil mußte daher, weil der Sachverhalt einer weiteren Klärung bedarf, mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379713

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