Leitsatz (amtlich)
Ist das Gutachten eines Sachverständigen in einem für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentlichen Punkt in den Urteilsgründen übergangen worden und läßt deshalb das Urteil nicht erkennen, daß das Gericht seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet hat, so liegt ein Verstoß gegen SGG § 128 Abs 1 und damit ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vor.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 2. März 1954 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
Der Kläger hat ein Wirbelsäulenleiden. Er führt die Krankheit auf einen Arbeitsunfall vom Februar 1948 zurück. Damals war er als Kraftfahrer in einem Ferntransportunternehmen in Rendsburg tätig. Er hatte zusammen mit seinen Arbeitskameraden ... und ... einen Lastkraftwagen mit Stückgut zu beladen, das er am folgenden Tage nach Hamburg fahren sollte. Auf dem Wege vom Lagerraum zum Wagen rutschte er mit einer 75 bis 100 kg schweren Kiste - wie es in der Unfallanzeige heißt - aus und kam zu Fall. Er richtete sich auf und setzte sich, über Rückenschmerzen klagend, auf die Kiste. Nachdem ... ihn in den Lagerraum geleitet hatte, ruhte er sich dort eine Weile aus, um später an seinem Wagen Beschäftigung zu suchen. Am folgenden Tage führte er die Fahrt nach Hamburg durch, obwohl er noch starke Schmerzen verspürt haben will.
Am 20. Januar 1949 zog der Kläger zum ersten Male wegen der Rückenschmerzen, die nach seiner Behauptung in der Zwischenzeit zunächst nachgelassen, sich dann aber wieder gesteigert hatten, einen Arzt zu Rate. Vom 7.Februar bis 12.April 1949 wurde er in der Neurologischen Abteilung des Landeskrankenhauses Schleswig stationär behandelt. Auf Grund dieser Behandlung und einer Nachuntersuchung vom 19. und 31. August 1949 erstattete der Chefarzt ... folgendes Gutachten:
Bei der Wirbelsäulenerkrankung des Klägers handele es sich um eine Spondylolisthese (Wirbelverschiebung) und eine Osteochondrose (Knochen- und Knorpelentzündung). Wenn man die Erkrankung in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall vom Februar 1948 bringen wolle, so sei erste Voraussetzung, dass ein nennenswertes und adäquates Trauma der Wirbelsäule stattgefunden habe. Dies könne aber nach den Schilderungen des Klägers und der Zeugen ... und ... nicht angenommen werden. Im übrigen sei die Erkrankung des Klägers nicht traumatischer Ursache; sie sei schicksalsbedingt. Es sei anzunehmen, dass sie anlagemäßig bereits vor dem Unfall vorhanden gewesen sei und sich später weiterentwickelt habe, ohne dass ein nennenswerter oder meßbarer Einfluß des Unfalls auf die Entwicklung der Krankheit festzustellen sei.
Aus den in diesem Gutachten angeführten Gründen lehnte die Beklagte die Entschädigungsansprüche des Klägers durch Bescheid vom 27. September 1949 ab. Seine Berufung hiergegen hat das Oberversicherungsamt (OVA.) Schleswig nach Anhörung des Gerichtsarztes ... am 14. Januar 1950 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen des Urteils heißt es u.a.: Der Unfallhergang sei zwar in tatsächlicher Hinsicht nicht ausreichend sicher festgestellt. Es komme jedoch nicht darauf an, ob ein Trauma der Wirbelsäule bestanden habe. Das Leiden des Klägers sei nicht traumatischer Ursache; es sei ein aus innerer Ursache und schicksalsmäßig ablaufendes Leiden, das durch den Unfall weder ausgelöst noch verschlimmert worden sei.
Dieses Urteil hat der Kläger rechtzeitig mit dem Rekurs angefochten. Gemäß § 215 Abs. 8 SGG ist das Rechtsmittel vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg als Berufung auf das Landessozialgericht (LSG.) übergegangen. Der Kläger hat vor allem die Auffassung vertreten, es dürfe nicht offen bleiben, ob ein Trauma der Wirbelsäule herbeigeführt worden sei. Wenn ein Trauma bestanden habe, müsse nach dem Gutachten des ... als hinreichend wahrscheinlich gelten, dass das Trauma das Leiden des Klägers hervorgerufen, jedenfalls aber in seiner Entwicklung beschleunigt und verschlimmert habe.
Das LSG. hat den Oberarzt der Chirurgischen Klinik der Universität Kiel, Privatdozent ..., als Sachverständigen vernommen. Dieser hat nach der Vernehmungsniederschrift vom 2. März 1954 ausgesagt:
"Daß die Wirbelsäule erheblich degenerativ vorerkrankt war, ist zweifelsfrei. Bisherige Beschwerdefreiheit spricht nicht dagegen. Die Annahme einer richtunggebenden Verschlimmerung hängt davon ab, ob ein "Unfall" überhaupt vorlag. Ein Verhebetrauma wie hier wird von allen erfahrenen Gutachtern als unfallrechtliches Trauma abgelehnt. Ein echter Unfall läge nur dann vor, wenn ein Stolpern, ein Sturz, eine Hyperlordosierung im Spiele wäre. Im vorliegenden Fall handelte es sich um eine zwar schwere, aber keineswegs ungewöhnliche Belastung (hat solche Lasten schon öfters getragen). Es liegt ein typischer Ablauf einer degenerativen Wirbelsäulenerkrankung vor. Die Wirbelsäule, an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit stehend, versagte bei einer alltäglichen Belastung."
Durch Urteil vom 2. März 1954 hat das LSG. die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Entscheidung ist im wesentlichen wie folgt begründet: Ausweislich der Röntgenaufnahmen vom Februar 1949 sei das Wirbelsäulenleiden des Klägers nach Art und Ausdehnung der festgestellten Veränderungen nicht erst durch das Unfallereignis vom Februar 1948 entstanden, sondern damals schon vorhanden gewesen. Dem stehe nicht entgegen, dass der Kläger vorher keine Beschwerden gehabt habe. Das Leiden sei auch nicht durch das Unfallereignis wesentlich und richtunggebend in seinem Verlauf beeinflußt worden. Dies folge vor allem daraus, dass die Röntgenaufnahmen keine Hinweise auf traumatische Veränderungen zeigten, vielmehr das Bild aufwiesen, wie es einer schicksalsmäßig ablaufenden Abnutzung der Wirbelkörper und der langsamen, an den typischen Stellen stärkster physiologischer Beanspruchung besonders ausgeprägten Zermürbung der Zwischenwirbelscheiben entspreche. Daraus folge zugleich, dass das behauptete Trauma nicht schwer gewesen sein könne. Daß das Unfallgeschehen die Krankheit nicht beeinflußt habe, ergebe sich auch daraus, daß der Kläger in der Lage gewesen sei, bereits unmittelbar nach dem Sturz aufzustehen, herumzugehen und eine leichte Beschäftigung auszuüben, und dass er noch viele Monate habe arbeiten können.
Das Urteil ist dem Kläger am 3. Mai 1954 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 18. Mai 1954 durch seinen Prozessbevollmächtigten Revision eingelegt und diese zugleich begründet.
Er vertritt die Auffassung, dass das LSG., weil über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden sei, die Revision hätte zulassen müssen. Ferner rügt er, dass das LSG. seiner Verpflichtung zur erschöpfenden Ermittlung des Sachverhalts nicht genügt habe. Der Sachverständige ... - so meint der Kläger - habe nur deshalb den ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfall und Krankheit verneint, weil er zu Unrecht davon ausgegangen sei, daß ein Sturz, ein Stolpern oder ein Fallen nicht vorgelegen habe. Diese Feststellung hätte das Gericht treffen müssen, anstatt sie dem Sachverständigen zu überlassen. Es hätte insoweit den Sachverhalt durch Vernehmung des Klägers und der Unfallzeugen ... und ... klären müssen. Dabei hätte sich ergeben, daß der Kläger mit der Kiste ausgerutscht oder gestolpert sei und dabei einen heftigen Ruck im Kreuz davon getragen habe, daß also seine Wirbelsäule einer außergewöhnlichen Belastung ausgesetzt gewesen sei. Endlich rügt der Kläger, das LSG. habe bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Unfall und Krankheit das Gesetz verletzt. Er meint, dieser Zusammenhang sei schon deshalb als ausreichend wahrscheinlich anzusehen, weil er in seinem langen Arbeitsleben bis zum Unfall von 1948 keine ernsthafte Krankheit verspürt habe, dann aber innerhalb eines Jahres Vollinvalide geworden sei.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Unfallentschädigung zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie als unbegründet zurückzuweisen.
Sie führt aus: Die Nichtzulassung der Revision stelle keinen Verfahrensmangel dar. Die Rüge der mangelnden Sachaufklärung sei nicht substantiiert vorgebracht. Sonstige Verfahrensmängel seien nicht gerügt, vielmehr beanstande der Kläger den sachlichen Gehalt der Entscheidung. Damit könne die Statthaftigkeit der Revision nicht begründet werden. Selbst wenn der Sachverständige ... zu Unrecht davon ausgegangen sei, der Kläger sei bei dem Tragen der Kiste nicht gestolpert, so sei dies unerheblich; denn das angefochtene Urteil stelle es nicht hierauf ab, sondern auf die Erkenntnisse, die das Röntgenbild vermittele. Das LSG. habe auch den Ursachenbegriff nicht verkannt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist auch statthaft, weil das LSG. bei der Erforschung und Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfallereignis vom Februar 1948 und dem Wirbelsäulenleiden des Klägers gegen Vorschriften des Verfahrensrechts verstoßen und die Revision den darin liegenden wesentlichen Mangel wirksam gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Der vom LSG. vernommene Sachverständige ... hat die Beantwortung der Frage, ob das Geschehnis vom Februar 1948 die Krankheit des Klägers wesentlich verschlimmert habe, davon abhängig gemacht, ob ein "echter Unfall" - er versteht darunter ein "erhebliches Trauma" - vorgelegen habe. Diese Voraussetzung hat er für den Fall eines Stolperns, eines Sturzes oder einer übermäßigen Verbiegung der Wirbelsäule (Hyperlordosierung) bejaht. Von entscheidender Bedeutung dafür, ob der wirkliche Geschehensablauf einer dieser Möglichkeiten entsprach, waren die Unfallschilderungen des Klägers vor der Polizei-Abteilung Rendsburg und gegenüber dem Sachverständigen ... sowie die Aussagen der Unfallzeugen ... und ... vor der Polizei. Inwieweit diese Unterlagen dem Sachverständigen bekannt waren, ist aus der Vernehmungsniederschrift vom 2.März 1954 nicht klar ersichtlich. Es heißt zwar darin, der Sachverständige habe sein Gutachten "nach Durchsicht der Akten" erstattet. Jedoch fällt auf, dass er die Belastung der Wirbelsäule allein in dem Tragen der schweren Kiste gesehen und nicht in Betracht gezogen hat, daß nach den angeführten Beweisunterlagen, vor allem nach der Bekundung des Zeugen ..., ein Stolpern oder ein Sturz mit der Kiste sehr wohl in Frage kam. Es hätte im Rahmen der richterlichen Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts und seiner Bedeutung für den Ursachenzusammenhang gelegen, den Sachverständigen hierauf hinzuweisen, und ihm die Frage vorzulegen, ob das, was dem Kläger über das bloße Tragen der Kiste hinaus widerfahren ist, als erhebliches Trauma anzusehen sei (§ 103 SGG). Die Revision hat auch mit Recht darauf hingewiesen, dass die Feststellung des Sachverhalts allein Sache des Richters ist (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechts, 7. Aufl. S. 568). Entweder hätte das LSG. den Sachverhalt, den es als erwiesen ansah, dem Sachverständigen ... vor Erstattung seines Gutachtens unterbreiten oder ihn veranlassen müssen, jede in Frage kommende Möglichkeit der Tatsachenbeurteilung zu berücksichtigen, also z.B. sowohl den Fall, daß die Kiste ohne besonderen Anlaß lediglich von der Schulter des Klägers herabgerutscht ist, als auch den Fall, daß der Kläger ausgerutscht, gestolpert oder gestürzt ist und dabei einen heftigen Ruck im Kreuz verspürt hat. Das LSG. bezeichnet zwar in den Entscheidungsgründen seines Urteils den Hergang des Unfallereignisses als unstreitig, jedoch lassen ihn weder der Tatbestand noch die Entscheidungsgründe eindeutig erkennen; immerhin ergibt sich aus dem Zusammenhang des Urteils, daß das wirkliche Geschehnis nicht mit den Vorstellungen übereinstimmt, von denen der Sachverständige ... nach der Niederschrift seiner gutachtlichen Äußerung ausgegangen ist. Diese Unklarheit hätte das LSG. beheben müssen. Außerdem liegt ein Verstoß gegen § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG vor. Soweit der Sachverständige ... einen "echten Unfall" für den Fall eines Stolperns, eines Sturzes oder einer Hyperlordosierung bejaht hat, hat der Vorderrichter das Gutachten ungewürdigt gelassen, obwohl es sich dabei um einen für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentlichen Punkt handelt. Das Urteil läßt infolgedessen nicht erkennen, daß das Gericht seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, wie es § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG vorschreibt, gebildet hat. In den angeführten Verstößen gegen Verfahrensvorschriften liegen wesentliche Mängel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
Entgegen der Auffassung der Beklagten entsprechen die oben erörterten Revisionsrügen den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG. Obwohl nur § 103 SGG ausdrücklich als verletzt bezeichnet wird, lassen die substantiiert vorgetragenen Tatsachen in ausreichender Weise erkennen, daß auch § 128 Abs. 1 SGG als verletzt angesehen wird (vgl. BSG. in SozR., SGG § 164, Bl. Da 2 Nr. 9).
Da die Revision schon nach den vorangegangenen Ausführungen statthaft ist, bedurfte es nicht mehr der Prüfung, ob auch die vom Kläger gerügte Nichtzulassung der Revision einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG darstellt und ob die Statthaftigkeit der Revision außerdem aus § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG hergeleitet werden kann.
Die Revision ist auch begründet. Das LSG. ist zu dem Ergebnis gelangt, das Unfallereignis vom Februar 1948 habe weder das Wirbelsäulenleiden des Klägers hervorgerufen, noch zu einer wesentlichen Verschlimmerung der Krankheit geführt. Zur Begründung seiner Auffassung, daß es an einer Verschlimmerung durch den Unfall fehle, hat das LSG. sich allerdings nicht auf das Gutachten des ... sondern in der Hauptsache auf die Röntgenbilder und auf das Verhalten des Klägers nach dem Unfall gestützt. Gleichwohl beruht das angefochtene Urteil auf den von der Revision mit Recht gerügten Verfahrensmängeln. Wenn ... bei erneuter Anhörung zu dem - nach dem ersten Teil seiner gutachtlichen Äußerung vom 2. März 1954 folgerichtigen - Ergebnis gelangt, daß der Sturz des Klägers mit der Kiste geeignet war, ein für den Verlauf der Wirbelsäulenerkrankung wesentliches Trauma herbeizuführen, so erscheint es nicht ausgeschlossen, daß ein solches Gutachten die Beweiswürdigung des Gerichts zu Gunsten des vom Kläger vertretenen Standpunktes beeinflussen könnte.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.
Der erkennende Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil es noch einer Beweiserhebung bedarf. Der Rechtsstreit wurde deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen.
Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG. in seinem abschließenden Urteil zu entscheiden haben.
Fundstellen