Entscheidungsstichwort (Thema)

Alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit. wesentliche Mitwirkung anderer Ursachen

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Gefährlichkeit der Unfallstelle (zB stark ausgeprägte Wölbung der abschüssigen Straße bei stellenweiser Vereisung) sowie eine leichtsinnige Beladung, durch die die Gleichgewichtshaltung beeinträchtigt wird, können auch bei absoluter Fahruntüchtigkeit eines Mopedfahrers (Blutalkoholkonzentration 1,78 0/00) derart wesentliche Bedingungen für den Unfall sein, daß die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit nicht die rechtlich allein wesentliche Unfallursache ist.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Dezember 1968 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die 1959 geborene Klägerin ist ein uneheliches Kind des Kranführers Peter H (H.), der am 22. Dezember 1964 tödlich verunglückt ist. Sie begehrt Waisenrente aus der Unfallversicherung.

H. hatte am Unfalltag von 7.30 bis 14.00 Uhr im Hafenbetrieb der Firma Sch & B in P gearbeitet. Auf der Heimfahrt nach seinem Wohnort S stürzte er mit seinem Moped gegen 14.30 Uhr auf der Kreisstraße Nr. 3 in B und war sofort tot. Eine ihm entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,78 0 / 00 . Die von H. befahrene Straße war gewölbt und, in Fahrtrichtung des H. gesehen, abschüssig; sie war zur Unfallzeit stellenweise stark vereist. H. führte vorn auf dem Tank des Mopeds unbefestigt drei Farbtöpfe mit. Es gibt keine Zeugen des Unfallgeschehens.

Durch Bescheid vom 12. März 1965 lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, H. sei als Mopedfahrer mit einer BAK von rund 1,8 0 / 00 absolut fahruntüchtig gewesen; deshalb spreche die Vermutung dafür, daß die Alkoholbeeinflussung die alleinige Unfallursache gewesen sei.

Hiergegen richtet sich die Klage. Das Sozialgericht (SG) hat eine Ortsbesichtigung durchgeführt, den Kraftfahrer H und den Polizeihauptwachtmeister T als Zeugen sowie den Polizeioberkommissar I als Verkehrssachverständigen und den Internist Dr. D als ärztlichen Sachverständigen vernommen. Durch Urteil vom 11. Januar 1967 hat es dem Antrag der Klägerin entsprechend die Beklagte zur Gewährung der Waisenrente verurteilt: Neben der alkoholbedingten Verkehrsuntüchtigkeit des H. seien, wie sich insbesondere aus dem Gutachten des Verkehrssachverständigen ergebe, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die ungünstigen Straßenverhältnisse (Glatteis bei abschüssiger, gewölbter, schmaler Fahrbahn) zumindest wesentlich an dem Entstehen des Unfalls beteiligt gewesen. Die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit sei somit nicht die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen, so daß der Versicherungsschutz nicht ausgeschlossen sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat ohne weitere Beweisaufnahme die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 18. Dezember 1968 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: H. habe im Unfallzeitpunkt grundsätzlich unter Versicherungsschutz nach § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestanden. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfall und versicherter Tätigkeit sei jedoch in Frage gestellt, wenn alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die einzig rechtlich erhebliche Ursache für den Eintritt des Unfalls gewesen sei (BSG 12, 242). H. sei als Mopedfahrer mit einer BAK von 1,78 0 / 00 absolut verkehrsuntüchtig gewesen (BSG 13, 13). Es sei deshalb zu entscheiden, ob daneben auch betrieblich bedingte Umstände als wesentliche Teilursachen am Zustandekommen des Unfalls mitgewirkt hätten. Das liege durchaus im Bereich der Gegebenheiten. Die Beschaffenheit des Unfallortes sei im Unfallzeitpunkt nach dem Ergebnis der Ortsbesichtigung und aufgrund der Aussage des Verkehrssachverständigen in außerordentlichem Maße verkehrsgefährdend gewesen (stark ausgeprägte Wölbung und stellenweise starke Vereisung der Fahrbahn). Deshalb habe H. offensichtlich die für ihn günstige linke Fahrbahnseite benutzt. Darüber hinaus sei eine weitere wahrscheinliche Ursache für den Sturz, daß H. drei Farbtöpfe offensichtlich unbefestigt auf dem Tank des Mopeds mitgenommen habe. Um mit den Knien ein Abrutschen der Farbtöpfe zu verhindern, habe H. die Füße auf den Fußrasten belassen und sei deshalb nicht in der Lage gewesen, die Gleichgewichtshaltung des Mopeds mit den Füßen auf der Fahrbahn zu unterstützen. Das unsachgemäße Mitführen der Farbtöpfe schließe jedoch den Versicherungsschutz nicht unter dem Gesichtspunkt des "selbst geschaffenen Gefahrenbereichs" aus; eine solche Wertung würde ein schuldhaftes, nicht auf Vorsatz beruhendes Verhalten des Versicherten bei der Herbeiführung des Unfalls entgegen den gesetzlichen Bestimmungen zum Nachteil des Versicherten berücksichtigen (BSG 12, 246). Deshalb sei auch die Behauptung der Beklagten unerheblich, das Mitführen der Farbtöpfe habe den Privatzwecken des H. gedient und müsse daher als rechtlich wesentliche Mitursache für das Zustandekommen des Unfalls ausscheiden.

Ein klares Beweisergebnis über die Frage, welche Umstände im einzelnen und in ihrer Beziehung zueinander (vergleichende Wertung) für das Zustandekommen des Unfalls maßgebend gewesen seien, lasse sich jedoch nicht eindeutig erzielen, da die Beweismittel erschöpft seien. Die Nichtbeweisbarkeit des Umstandes, daß nach der Behauptung der Beklagten die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des H. die allein rechtlich wesentliche Ursache im Rechtssinne gewesen sei, gehe zu deren Lasten, weil sie sich hierauf berufen habe (BSG 7, 249). Nach allem sei die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Das LSG habe verkannt, daß es im vorliegenden Fall nicht um die Beweislast, sondern ausschließlich um die Würdigung des Beweisergebnisses - die Subsumtion der ermittelten Tatsachen unter das Gesetz - gehe. Nach den festgestellten Tatsachen sei die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Unfallursache. Die Eisglätte am Unfallort - als betriebsbezogener Umstand - könne für den Sturz nicht ursächlich gewesen sein, weil H. bereits rund 3 km auf vereisten Straßen zurückgelegt gehabt habe, ohne zu stürzen. Die Fahrbahnwölbung könne angesichts der hohen BAK von 1,78 0 / 00 für den Unfallhergang ebenfalls kaum ausschlaggebend gewesen sein. Die Mitführung der Farbtöpfe als weitere wahrscheinliche Unfallursache sei eine von H. selbst geschaffene Gefahr und überdies dem eigenwirtschaftlichen Bereich zuzuordnen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.

H. ist auf einem mit seiner versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg von dem Ort seiner Tätigkeit tödlich verunglückt (§ 550 Satz 1 RVO). Der Klägerin steht deshalb die beantragte Waisenrente zu (§§ 589 Abs. 1, 595 Abs. 1, 583 Abs. 5 RVO).

Das LSG geht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 12, 242; 13, 13; 18, 101) davon aus, daß der Unfallversicherungsschutz entfällt, wenn alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Beschäftigten die rechtlich allein wesentliche Ursache des auf einem Wege von oder nach dem Ort der Tätigkeit (§ 550 RVO) erlittenen Unfalls ist. Aufgrund der ermittelten BAK von 1,78 0 / 00 hat das LSG zutreffend angenommen, daß H. im Zeitpunkt des Unfalls infolge Alkoholeinwirkung absolut fahruntüchtig, d.h. nicht mehr in der Lage war, sein Moped verkehrssicher zu führen. In der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit hat das LSG eine wesentliche Unfallursache gesehen. Das ergibt sich daraus, daß es die Prüfung für erforderlich gehalten hat, ob neben der Verkehrsuntüchtigkeit auch betrieblich bedingte Umstände als wesentliche Teilursachen des Unfalls mitgewirkt haben. Die Frage, ob solche wesentliche Mitursachen gegeben sind, hat das LSG als "durchaus im Bereich der Gegebenheiten" liegend bezeichnet. In den folgenden Ausführungen befaßt sich das LSG mit der Unfallörtlichkeit und gelangt aufgrund des Ergebnisses der vom SG durchgeführten Ortsbesichtigung und der Aussage des Verkehrssachverständigen zu der Beurteilung, die Beschaffenheit des Unfallortes sei im Unfallzeitpunkt in außerordentlichem Maße verkehrsgefährdend gewesen. Es hat hierzu hervorgehoben, daß die Fahrbahn im Bereich der Unfallstelle eine stark ausgeprägte Wölbung aufgewiesen und stellenweise stark vereist gewesen sei. Die anschließenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen, der Senat sehe darüber hinaus eine weitere wahrscheinliche Ursache für den Sturz des H. in dem Umstand, daß dieser drei Farbtöpfe offensichtlich unbefestigt auf dem Tank seines Mopeds mitgenommen habe, läßt erkennen, daß das LSG auch die verkehrsgefährdende Beschaffenheit des Unfallortes als eine Mitursache für das Zustandekommen des Unfalls angesehen hat.

Die Mitnahme der Farbtöpfe hat nach der Überzeugung des LSG dazu geführt, daß H. nicht in der Lage war, die Gleichgewichtshaltung des Mopeds mit den Füßen auf der Fahrbahn zu unterstützen. Auch darin sieht das LSG eine Ursache für den Sturz. Mit Recht hat das LSG in dem unsachgemäßen Mitführen der Farbtöpfe nicht eine von H. "selbst geschaffene Gefahr" erblickt, die den Unfallversicherungsschutz entfallen läßt (vgl. BSG 6, 164, 169; 14, 64, 67; 30, 14, 15). Das ungesicherte Transportieren der Farbtöpfe war zwar leichtsinnig, nicht jedoch in so hohem Maße unvernünftig, daß dadurch der ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit entfiel. Selbst wenn H. die Farbe nur zu privaten Zwecken verwenden wollte - den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist dies nicht eindeutig zu entnehmen -, ist die durch den unsachgemäßen Transport eingetretene Mitverursachung des Unfalls entgegen der Auffassung der Revision nicht als ein Umstand zu werten, der dem Unfallversicherungsschutz entgegensteht; dadurch ist nicht in Frage gestellt, daß der Weg des H. im Unfallzeitpunkt wesentlich dem Erreichen seiner Wohnung nach Beendigung der Arbeitstätigkeit diente.

Die Ausführungen des LSG, die Beweismittel seien erschöpft, sind dahin zu verstehen, daß andere als die festgestellten Unfallursachen nicht zu ermitteln waren. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 18, 101, 103) setzt die Prüfung, ob ein Tatbestand, der neben der Alkoholbeeinflussung als mitwirkende Ursache des Unfalls in Betracht kommt, für das Zustandekommen des Unfalls rechtlich wesentlich ist, eine vergleichende Wertung der Unfallursache voraus. Die vergleichende rechtliche Wertung kann der Senat selbst vornehmen.

Die tatsächlichen Feststellungen des LSG über das Zustandekommen des Unfalles rechtfertigen es, die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des H. nicht als derart überragende Unfallursache zu werten, daß demgegenüber die sowohl durch die Gefährlichkeit der Unfallstelle als auch durch die behinderte Gleichgewichtshaltung bedingten Umstände als rechtlich unwesentliche Mitursachen völlig in den Hintergrund gedrängt worden sind und deshalb für die Frage der Verursachung des Unfalls unberücksichtigt bleiben müßten. Die rechtlich wesentliche Mitwirkung der ungünstigen Straßenverhältnisse - Glatteis bei abschüssiger, gewölbter Fahrbahn - bei dem Zustandekommen des Unfalls, die auch das SG u.a. aufgrund der Aussagen des Verkehrssachverständigen angenommen hat, ist entgegen der Meinung der Revision nicht deshalb zu verneinen, weil H. bis zur Unfallstelle bereits etwa 3 km ohne Sturz zurückgelegt hatte. Die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des H. war hiernach nicht die rechtlich allein wesentliche Unfallursache.

Für die Ausführungen des LSG zur Beweislastverteilung ist sonach kein Raum. Die Entscheidung des LSG, daß der Klägerin die Waisenrente zusteht, ist jedoch im Ergebnis zutreffend.

Die Revision der Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670498

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