Leitsatz (amtlich)

1. Stiefkinder sind iS von AVG § 39 Abs 2 Nr 2 (= RVO § 1262 Abs 2 Nr 2) in den Haushalt des Rentenberechtigten aufgenommen, wenn sie mit ihm einer Familiengemeinschaft - als der Schnittstelle von Merkmalen örtlicher (Familienwohnung), materieller (Vorsorge, Unterhalt) und immaterieller Art (Zuwendung von Fürsorge, Begründung eines familienähnlichen Bandes) - angehören (Anschluß an und Fortführung von BSG 1977-10-19 4 RJ 57/76 = BSGE 45, 67).

2. Fehlt eines dieser Merkmale, entfällt der Anspruch auf Kinderzuschuß.

3. Wer das Stiefkind in der DDR zurückläßt, hebt regelmäßig die Familiengemeinschaft mit ihm auf.

 

Normenkette

AVG § 39 Abs 2 Nr 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1262 Abs 2 Nr 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 01.11.1978; Aktenzeichen III ANBf 63/77)

SG Hamburg (Entscheidung vom 14.10.1977; Aktenzeichen 10 AN 719/76)

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Gewährung von Kinderzuschüssen.

Der 1920 geborene Kläger hatte 1964 in der DDR geheiratet. Seine Frau brachte ua die Kinder T (geboren 1959) und C (geboren 1960) in die Ehe.

Im Jahre 1973 erhielt der Kläger in der DDR Invalidenrente. Im Januar 1974 reiste er allein in die Bundesrepublik aus.

Auf seinen Antrag bewilligte ihm die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ab 1. Januar 1974 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wobei sie Kinderzuschüsse für das in der DDR lebende eheliche Kind S (geboren 1965) und ein in der Bundesrepublik lebendes nichteheliches Kind I B. (geboren 1959) gewährte (Bescheide vom 12. August 1974, 24. März 1975, 23. Februar 1976, 28. Mai 1976, 14. Juli 1976 und 16. Februar 1978).

Bereits gegen den Bescheid vom 23. Februar 1976 hatte der Kläger Klage ua mit dem Begehren erhoben, ihm Kinderzuschüsse für die Stiefkinder T und C zu gewähren. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. Oktober 1977), und das Landessozialgericht (LSG) hat in dem angefochtenen Urteil vom 1. November 1978 die Berufung des Klägers hiergegen zurückgewiesen. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, ein Stiefkind sei im Sinne des § 39 Abs 2 Nr 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in den Haushalt des Rentenberechtigten nur aufgenommen, wenn der Zusammenhang mit dem Hausstand nicht dauernd aufgehoben sei und ein familienähnliches Verhältnis erhalten bleibe. Bei in der DDR lebenden Stiefkindern bedürfe es einer berechtigten Aussicht auf baldige Familienzusammenführung. Insoweit komme es auf objektive Gegebenheiten, nicht auf subjektive Vorstellungen an.

Gegen dieses am 2. Januar 1979 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der vom LSG zugelassenen Revision, die beim Bundessozialgericht (BSG) am 5. Februar 1979 eingegangen ist. Er bringt vor, er habe die Revisionsschrift schon am 1. Februar 1979 vor 12.00 Uhr in den Postbetrieb gebracht; einen verspäteten Zugang habe er nicht zu vertreten. In der Sache könne ihm die räumliche Trennung von seiner Familie aus politischen Gründen nicht angelastet werden. Eine "objektive Betrachtung" der Aussichten einer Familienzusammenführung sei von der Hand zu weisen. Da die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die DDR nicht als Ausland anerkenne, müsse diese als Inland angesehen werden. Die Auffassung des LSG sei formaljuristisch. Er steht mit seiner Familie in regem Briefwechsel, habe an allen wichtigen, die Kinder betreffenden Entscheidungen teilgenommen und unterstütze insbesondere die Kinder im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit.

Der Kläger beantragt, ihm bezüglich der versäumten Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 1. November 1978 und - sinngemäß - das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 14. Oktober 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Kinderzuschüsse für seine Stiefkinder T und C zu seiner Erwerbsunfähigkeitsrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, der Begriff "Aufnahme in den Haushalt des Rentenberechtigten" verlange ein auf längere Dauer gerichtetes Betreuungsverhältnis und Erziehungsverhältnis familienähnlicher Art. Dementsprechend liege eine Aufnahme in den Haushalt vor, wenn der Rentenberechtigte das Stiefkind in die Familiengemeinschaft, der er selbst angehöre, aufgenommen habe und ihm seine Fürsorge zuwende. Abgesehen davon, daß eine regelmäßige Unterhaltszahlung des Klägers für seine Stiefkinder nicht festgestellt sei, reiche ein Unterhaltsbeitrag allein nicht aus, um einen Anspruch auf Kinderzuschuß zu begründen. Es fehle an einer Wohngemeinschaft, die regelmäßig die wesentliche Voraussetzung für die Aufnahme der Stiefkinder in die Familiengemeinschaft sei. Dieses Manko lasse sich auch nicht durch Unterhaltszahlungen kompensieren.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist zulässig. Zwar hat der Kläger die ab der Zustellung des angefochtenen Urteils laufende Frist von einem Monat für die Einlegung der Revision versäumt (§ 164 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Unter anderem auf Grund der vom Senat bei der Oberpostdirektion Hamburg angestellten Ermittlungen erscheint jedoch der Vortrag des Klägers hinreichend glaubhaft, daß eine ihm nicht anzulastende Verzögerung in der Postbeförderung für den verspäteten Eingang der Revisionsschrift anzuschuldigen ist. Antragsgemäß war dem Kläger bezüglich dieser Frist daher Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 SGG).

In der Sache ist die Revision nicht begründet.

Nach § 39 Abs 1 Satz 1 AVG (= § 1262 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) erhöht sich die Rente ua wegen Erwerbsunfähigkeit für jedes Kind um den Kinderzuschuß. Als Kinder gelten neben ehelichen Kindern ua die in den Haushalt des Rentenberechtigten aufgenommenen Stiefkinder (§ 39 Abs 2 Nr 2 AVG). Zu Recht haben die Vorinstanzen angenommen, daß die in der DDR lebenden Kinder der Ehefrau des Klägers T und C - seine "Stiefkinder" - seit seinem Umzug in die Bundesrepublik nicht mehr "in seinen Haushalt aufgenommen" sind.

Der Kläger hat seit seiner Ausreise aus der DDR, also seit Januar 1974 seinen Haushalt nur noch in der Bundesrepublik. In diesem seinem Haushalt leben die in der DDR zurückgebliebenen Stiefkinder nicht; er kann sie daher in ihm auch nicht "aufgenommen" haben.

Nun ist dem Kläger zuzugeben, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung und ihr folgend das Schrifttum unter Haushaltsaufnahme nicht allein die Begründung einer Wohngemeinschaft verstanden hat. So ist darunter "ein auf längere Dauer gerichtetes Betreuungsverhältnis und Erziehungsverhältnis familienähnlicher Art" (BSGE 29, 292 = SozR Nr 19 zu § 1262 RVO; BSGE 20, 91, 93 = SozR Nr 10 zu § 2 KGG), die "Aufnahme in die Familiengemeinschaft" (BSGE 39, 207, 208 = SozR 2200 § 1267 Nr 10) oder ein "elternähnliches, auf die Dauer berechnetes Band" (BSGE 20, 91, 94) verstanden worden. Darüber hinaus hat die Rechtsprechung die Aufnahme in den Haushalt mit "Versorgen" gleichgestellt (vgl BSGE 20, 91, 93 und 29, 292, 293), aber auch in bezug hierauf alsbald klargestellt, daß das Hauptgewicht nicht auf dem Gewähren von Unterhalt liege (BSGE 45, 67, 69, 70 = SozR 2200 § 1262 Nr 11). Auch endet die einmal vollzogene Aufnahme der Kinder in den Haushalt nicht durch jede zeitliche und räumliche Trennung wie etwa zum Zwecke der auswärtigen Ausbildung (BSGE 25, 109, 111 = SozR Nr 14 zu § 2 KGG; vgl hierzu ferner Koch/Hartmann/v.Altrock/Fürst, AVG, 3. Aufl, Bd IV, § 39 Anm II 3, S V 376; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 6. Aufl § 1262/§ 39, Anm 5). Andererseits verneint die höchstrichterliche Rechtsprechung die Aufnahme in den Haushalt, wenn das Stiefkind zur Fürsorgeerziehung dauernd in einem Heim untergebracht ist (BSGE 20, 91, 94 = SozR Nr 10 zu § 2 KGG; BSGE 29, 294, 295 = SozR Nr 20 zu § 1262 RVO; vgl dazu ferner Verbandskomm, 6. Aufl, § 1262 Anm 6 S 11).

Nach allem ist richtig, daß unter Haushaltsaufnahme nicht nur ein örtlich gebundenes Zusammenleben zwischen Stiefeltern und Stiefkindern zu verstehen ist, sondern daß sie die Schnittstelle von Merkmalen örtlicher (Familienwohnung), materieller (Vorsorge, Unterhalt) und immaterieller Art (Zuwendung von Fürsorge, Begründung eines familienähnlichen Bandes) bezeichnet. Das BSG hat in BSGE 45, 67, 69, 70 = SozR 2200 § 1262 Nr 11 diese Schnittstelle als "Familiengemeinschaft" umschrieben, der sowohl der Stiefelternteil als auch das Stiefkind "angehören" müssen und in der jener dem Kind "seine Fürsorge zuwenden" müsse. Fehlt oder entfällt auch nur eines der oben bezeichneten, die "Familiengemeinschaft" bildenden Merkmale, so liegt eine Aufnahme des Stiefkindes in den Haushalt nach § 39 Abs 2 Nr 2 AVG - und der vergleichbaren Vorschrift in § 44 Abs 1 Satz 1 AVG ( = § 1267 Abs 1 Satz 1 RVO) und § 2 Abs 1 Nr 5 und 6 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) - nicht (mehr) vor. Deshalb läßt die völlige, auf Dauer angelegte räumliche Trennung zwischen Stiefkind und Stiefelternteil, die in der Aufgabe einer gemeinschaftlichen Familienwohnung liegt, den Anspruch auf Kinderzuschuß entfallen (vgl dazu die oben bereits zitierten Entscheidungen des BSG in BSGE 20, 91, 94 und 29, 294, 295).

In gleicher Weise wie die Aufnahme in den Haushalt nicht mit einer bloßen Wohngemeinschaft gleichzusetzen ist, kann es andererseits auch nicht genügen, daß der Versicherte dem Stiefkind materielle Zuwendungen macht und mit ihnen briefliche Kontakte pflegt. Solche Zuwendungen und Kontakte charakterisieren noch kein Eltern-Kind-Verhältnis, so daß unerheblich ist, daß das LSG Unterhaltsleistungen des Klägers an die Stiefkinder nicht festgestellt hat. Zu dem materiellen Zuwendungen und zu brieflichen Kontakten muß hinzutreten, daß Stiefelternteil und Stiefkind einer Familiengemeinschaft angehören, also einen ortsbezogenen Mittelpunkt gemeinschaftlicher Lebensinteressen, dh eine Familienwohnung haben müssen; ein ständiger gleichzeitiger Aufenthalt darin ist freilich nicht zu fordern.

Das Erfordernis der Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft ist im Rahmen des § 39 Abs 2 Nr 2 AVG entgegen der Auffassung des Klägers unverzichtbar. Bei dem Kinderzuschuß zur Rente handelt es sich nicht allein und nicht vorrangig um eine Versicherungsleistung; der Kinderzuschuß wird vielmehr von den "versicherungsfremden" Prinzipien der Fürsorge und des Familienlastenausgleichs geprägt, die in gleicher Weise der Gewährung auch von Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz zugrunde liegen, welches mit dem Kinderzuschuß aus der gesetzlichen Rentenversicherung in Wechselwirkung steht (BVerfGE 17, 1, 9 und 39, 316 = SozR 2600 § 60 Nr 1; vgl ferner § 8 Abs 1 Nr 1 BKGG). Die rechtliche Notwendigkeit, aber auch die rechtliche Möglichkeit, in Form des Kinderzuschusses zur Erwerbsunfähigkeitsrente eine Leistung des Familienlastenausgleichs zu bewirken, muß dort entfallen, wo den Versicherten mit dem Kind, für das er Kinderzuschuß begehrt, nicht nur kein Band der Verwandtschaft, sondern auch kein Band der Familiengemeinschaft verknüpft, die, wie ausgeführt, ua den örtlichen Bezugspunkt einer Familienwohnung voraussetzt.

Der Kläger meint zwar, diese Folgerung durch Verweis auf die besonderen Verhältnisse zwischen DDR und Bundesrepublik abwenden zu können. Darin kann ihm aber nicht gefolgt werden. Der Kläger hat dadurch, daß er die DDR verlassen hat und in die Bundesrepublik umgezogen ist, die Familiengemeinschaft mit den Kindern seiner Frau aufgehoben. Darin vermag auch sein Wunsch, wie er behauptet, die Stiefkinder nachkommen zu lassen, nichts zu ändern. Selbst wenn diese hierzu bereit sein sollten - wofür Anhaltspunkte fehlen -, ist es eine allgemein bekannte Tatsache, daß junge Menschen nur in seltenen Ausnahmefällen aus der DDR in die Bundesrepublik ausreisen dürfen. Bei diesem Sachverhalt fehlt jede gesicherte Grundlage für die Annahme, die Trennung des Klägers von seinen Stiefkindern sei nur vorübergehender Natur; es handelt sich vielmehr aller Voraussicht nach um eine dauernde Aufhebung der Familiengemeinschaft. Hierüber wird sich der Kläger, der sich schon von 1957 bis 1960 in der Bundesrepublik aufgehalten hat und nach Rückkehr in die DDR bis 1962 in Haft gewesen ist, bei seiner Ausreise klar gewesen sein. Fehl geht auch der Einwand, die DDR werde von der Beklagten rechtswidrig wie Ausland behandelt. Dies trifft nicht zu; die Beklagte hat allein dem Umstand Rechnung getragen, daß der Kläger durch seine Übersiedlung in die Bundesrepublik objektiv die Familiengemeinschaft mit seinen Stiefkindern aufgehoben hat. Auch eine im "Inland" vergleichbar vollzogene Aufhebung dieser Gemeinschaft hätte, wie nicht zweifelhaft sein kann, zu gleichen rechtlichen Folgerungen geführt. Schließlich ist die Solidargemeinschaft der Rentenversicherten in der Bundesrepublik nicht verpflichtet, ein Verhalten der Behörden der DDR auszugleichen (vgl BVerfGE 28, 104, 118).

Im übrigen ist der Kläger durch die Versagung der Kinderzuschüsse wirtschaftlich weniger betroffen als seine in der DDR lebenden Stiefkinder selbst. Mit den Kinderzuschüssen - Leistungen des Familienlastenausgleichs - "tritt (die Sozialversicherung) ersatzweise für die familiäre Unterhaltspflicht ein" (BVerfGE 39, 316 = SozR 2600 § 60 Nr 1); denn der "Kinderzuschuß ist seinem Wesen nach dazu bestimmt, den Unterhalt des Kindes sicherzustellen", so daß der Anspruch des Versicherten auf ihn sogar nur als "formelle Rechtsposition" angesprochen werden kann, die ihn nicht vor einer Auszahlung des Zuschusses an das Kind selbst oder einen Unterhalt gewährenden Dritten schützt (BSG in SozR 2200 § 1262 Nr 2; § 39 Abs 8 AVG in der bis zum 31. Dezember 1975 geltenden Fassung und § 48 Abs 1 und 2 des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches - SGB 1). Für die wirtschaftlich eigentlich betroffenen Stiefkinder - der Gesetzgeber erwartet, daß der Versicherte den Stiefkindern die Kinderzuschüsse im wirtschaftlichen Ergebnis voll zugute kommen läßt - wird allerdings an ihrem Wohnort in der DDR staatliches Kindergeld gewährt (Verordnung vom 4. Dezember 1975 über die Gewährung staatlichen Kindergeldes sowie die besondere Unterstützung kinderreicher Familien und alleinstehender Bürger mit drei Kindern und die hierzu erlassene Erste Durchführungsbestimmung vom 14. Januar 1976; vgl auch den Runderlaß der Bundesanstalt für Arbeit Nr 375/74, Loseblattausgabe, § 8 BKGG, Rd Nr 8.123).

Nach allem trifft das angefochtene Urteil zu. Die Revision des Klägers hiergegen war mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657068

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