Leitsatz (redaktionell)

Nach ZPO § 164, der im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit entsprechend anzuwenden ist (SGG § 122 Abs 3), ist für die Beobachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten allein das Protokoll beweiskräftig.

Zu diesen Förmlichkeiten gehört auch die Verkündung einer Entscheidung mit einem bestimmten Inhalt. Gegen den die Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Behauptet ein Beteiligter nicht, daß das Protokoll gefälscht sei, hat er vielmehr lediglich Beweis dafür angetreten, daß eine dem Inhalt des Protokolls nicht entsprechende Entscheidung verkündet worden sei, so läßt das Gesetz einen solchen Antrag nicht zu.

 

Normenkette

SGG § 122 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 164

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin war als Mineralogin in den Farbenfabriken ... beschäftigt. Dort verlor sie im Jahre 1922 durch einen Arbeitsunfall das linke Auge. Sie bezieht deswegen eine Dauerrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 25 v. H. Im Jahre 1927 gab sie ihre Erwerbstätigkeit auf; im Jahre 1933 heiratete sie. Im September 1952 beantragte die Klägerin, ihr die Zulage zur Verletztenrente nach § 2 des Gesetzes über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung und zur Überleitung des Unfallversicherungsrechts im Lande Berlin vom 29. April 1952 (UZG - BGBl. I S. 253) zu gewähren. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 10. Februar 1954 mit folgender Begründung ab: Die Zulage nach § 2 UZG sei nur denjenigen Rentenempfängern zu gewähren, die ihre nach dem Unfall verbliebene Arbeitskraft im allgemeinen Erwerbsleben tatsächlich ausnutzten und trotzdem ein gewisses Mindestmaß an Erwerbseinkommen nicht erreichten. An diesen Voraussetzungen fehle es bei der Klägerin; denn sie nehme seit ihrer Verehelichung am Erwerbsleben nicht mehr teil.

Auf die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG.) Köln die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 1. Juni 1951 an die nachgesuchte Zulage zu gewähren. Hiergegen hat die Beklagte Berufung zum Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen eingelegt. Sie hat die Auffassung vertreten, das Rechtsmittel sei kraft ausdrücklicher Zulassung statthaft. Den Ausspruch der Zulassung erblickt die Beklagte in dem letzten Absatz der Urteilsgründe, in dem es im Anschluß an die Kostenentscheidung heißt: "Gegen dieses Urteil ist gemäß § 143 SGG die Berufung an das Landessozialgericht Essen, Rüttenscheiderstraße 2, zulässig. Sie ist ..." usw. (Es folgen Belehrungen über Form und Frist des Rechtsmittels).

Das LSG. hat die Berufung als unzulässig verworfen und die Revision zugelassen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt: Nach § 145 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sei die Berufung ausgeschlossen; denn der Rechtsstreit betreffe die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse. Die Änderung der Verhältnisse liege in der Änderung der gesetzlichen Vorschriften. Es sei auch keiner der drei Ausnahmefälle des § 145 Nr. 4 SGG gegeben. Entgegen der Auffassung der Beklagten habe das SG. die Berufung nicht zugelassen. Dem letzten Absatz der Entscheidungsgründe komme nur die Bedeutung einer Rechtsmittelbelehrung zu.

Das Urteil des LSG. ist der Beklagten am 19. August 1955 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 8. September 1955 Revision eingelegt und diese am 28. September 1955 begründet. Sie vertritt die Auffassung, in dem angeführten Satz aus dem letzten Absatz der erstinstanzlichen Entscheidungsgründe sei eine Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG zu erblicken. Weiter bringt die Beklagte vor, das SG. habe bei der Verkündung seines Urteils vom 8. Juli 1954, obwohl dies aus der Niederschrift über das Verlesen der Urteilsformel nicht hervorgehe, die Berufung ausdrücklich zugelassen. Zum Nachweis hierfür regt die Beklagte an, eine amtliche Auskunft des Vorsitzenden des SG. einzuholen. Ferner beruft sie sich auf eine Notiz ihres Sitzungsvertreters vom 8. Juli 1954, die angeblich lautet: "Berufung am LSG. Essen zulässig." In materiell-rechtlicher Hinsicht tritt die Revision der Auffassung des SG. entgegen, daß auch weibliche Versicherte, die nur im Haushalt tätig seien, einen Anspruch auf die Zulage nach § 2 UZG hätten.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der beiden Vorinstanzen die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich im wesentlichen auf die Urteilsbegründungen der beiden Vorinstanzen. Daß das SG. eine weitergehende Entscheidung verkündet habe, als die Sitzungsniederschrift ausweist, bestreitet sie.

II.

Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.

Das LSG. ist mit Recht davon ausgegangen, daß die Berufung nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen ist, weil das Urteil des SG. die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse betrifft. Eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 145 Nr. 4 SGG ist, wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 8. November 1956 - 2 RU 236/55 - (SozR. SGG § 145 Bl. Da 1 Nr. 1) ausgeführt hat, auch die Änderung der gesetzlichen Vorschriften über die Berechnung der Rente, insbesondere die Einführung von gesetzlichen Zulagen zur Rente. Die Revision greift auch weder diese noch die weitere, vom LSG. vertretene Auffassung an, daß keiner der drei Ausnahmefälle des § 145 Nr. 4 SGG vorliege.

Die Berufung gegen die Entscheidung des SG. wäre daher nur statthaft, wenn das SG. sie im Urteil zugelassen hätte (§ 150 Nr. 1 SGG); die Berufungsmöglichkeiten nach § 150 Nr. 2 und 3 SGG kommen nach Lage der Streitsache nicht in Betracht. Eine Zulassung der Revision hat der Vorderrichter mit Recht nicht in dem in seiner Bedeutung umstrittenen letzten Absatz der Entscheidungsgründe gesehen, der sich an die Kostenentscheidung anschließt. Das Bundessozialgericht (BSG.) hat wiederholt entschieden, daß die Zulassung einer an sich nach §§ 144 bis 149 SGG ausgeschlossenen Berufung einen ausdrücklichen und eindeutigen Ausspruch durch das Gericht - sei es in der Urteilsformel oder in den Entscheidungsgründen - erfordert (vgl. BSG. 2 S. 121 (125) und S. 245 (246)). Hieran fehlt es im vorliegenden Falle. Mit der Anführung des § 143 SGG wird nur auf die allgemeine Berufungsmöglichkeit hingewiesen. Diese besteht aber gerade nicht, wenn - wie hier - ein Ausschließungsgrund nach §§ 144 bis 149 SGG vorliegt. Auch die Stellung des von der Revision für ihre Auffassung angeführten Satzes hinter der Kostenentscheidung und im Zusammenhang mit Angaben über die Rechtsmittelfrist und die Förmlichkeiten der Rechtsmitteleinlegung deutet darauf hin, daß das SG. lediglich die im Gesetz vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung erteilen, aber nicht eine Entscheidung nach § 150 Nr. 1 SGG treffen wollte. Zu einer anderen Auffassung vermag auch nicht die Erwägung zu führen, daß die Beteiligten - wie die Revision vorbringt - übereinstimmend der Meinung gewesen sein mögen, die Berufung sei nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen. Eine solche Meinung der Beteiligten hindert weder, daß das LSG. anderer Auffassung war, noch vermag sie den erforderlichen eindeutigen Ausspruch über die Zulassung der Berufung zu ersetzen.

Endlich kann auch die Rüge der Beklagten, die Formel des angefochtenen Urteils entspreche nicht der verkündeten Entscheidung, der Revision nicht zum Erfolg verhelfen. Nach § 164 der Zivilprozeßordnung, der im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit entsprechend anzuwenden ist (§ 122 Abs. 3 SGG), ist für die Beobachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten allein das Protokoll beweiskräftig. Zu diesen Förmlichkeiten gehört auch die Verkündung einer Entscheidung mit einem bestimmten Inhalt (vgl. RGZ. 107 S. 142; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., S. 298). Gegen den die Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig. Die Revision behauptet jedoch nicht, daß das Protokoll gefälscht sei, vielmehr hat sie lediglich Beweis dafür angetreten, daß eine dem Inhalt des Protokolls nicht entsprechende Entscheidung verkündet worden sei. Einen solchen Antrag läßt das Gesetz nicht zu.

Die Revision war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324465

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge