Leitsatz (amtlich)
RVO § 1291 Abs 2 schließt das Wiederaufleben einer Witwen- oder Witwerrente nicht deshalb aus, weil der Antrag auf Rente später als 12 Monate nach der Auflösung oder Nichtigkeitserklärung der zweiten Ehe gestellt wird; wird der Anspruch erst nach dem Ablauf der Zwölfmonatsfrist angemeldet, dann beginnt die Rente jedoch erst mit dem Anfang des Antragsmonats und nicht mit dem Ablauf des Monats, in dem die zweite Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt ist.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1290 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. März 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin macht das Wiederaufleben der Witwenrente geltend, die sie nach dem Tode ihres im Jahre 1942 verstorbenen Mannes O D bezogen hatte. Am 14. September 1957 hatte sie zum zweiten Mal geheiratet; aber auch diese mit dem Seemann Heinrich H geschlossene Ehe endete schon bald mit dem Tode des Mannes am 12. November 1957. Zunächst bezog die Klägerin aus der Versicherung des H H die Witwenrente von monatlich 87,90 DM. Diese Rente mußte jedoch auf einen Monatsbetrag von 80 Pfennig herabgesetzt werden, als die frühere, von H geschiedene Frau mit ihrer Forderung auf Rente durchdrang und die Hinterbliebenenrente nahezu ganz für sich beanspruchen konnte, da sie im Vergleich zur Klägerin wesentlich länger mit H verheiratet gewesen war -. Nunmehr richtete die Klägerin am 16. Februar 1959 an die Beklagte das Gesuch, ihr die durch die Wiederheirat weggefallene Rente abermals zu gewähren.
Die Beklagte lehnte diese Leistung ab, weil der Antrag hierauf nur innerhalb von einem Jahr nach dem Ende der zweiten Ehe hätte gestellt werden können und die Klägerin diese Frist versäumt habe.
Die von der Klägerin erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage hatte in den beiden vorausgegangenen Rechtszügen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Oldenburg vom 15. November 1960; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 13. März 1961).
Nach Ansicht des Berufungsgerichts stellt die Zwölfmonatsfrist des § 1291 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht ein formelles Erfordernis für den Anspruch überhaupt, sondern lediglich eine Voraussetzung für den privilegierten Wiederbeginn der Rente dar: Werde der Rentenantrag innerhalb der Frist von 12 Monaten seit Auflösung oder Nichtigkeitserklärung der zweiten Ehe gestellt, dann sei die Leistung ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung und abweichend von § 1290 Abs. 3 RVO rückwirkend vom Ablauf des Monats ab zu erbringen, in dem die zweite Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt worden sei. Dafür, daß an die Fristversäumnis der Ausschluß des Anspruchs geknüpft sein solle, biete der Wortlaut des Gesetzes keinen hinreichenden Anhalt. Die strengere, von der Beklagten vertretene Auffassung stehe im Widerspruch zur sozial-politischen Zielsetzung der Vorschrift über das Wiederaufleben der Witwen- und Witwerrenten und führe in ihrer praktischen Auswirkung zu unbilligen, vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Härten. Man müsse nämlich einmal bedenken, daß auf das wiederaufgelebte Hinterbliebenenrecht neu erworbene Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenansprüche anzurechnen seien, und zum anderen habe man in Rechnung zu stellen, daß sich derartige Ansprüche nach Bestand und Höhe verändern könnten. Habe nun die Witwe die mit Rücksicht auf die anfänglich anrechenbaren Bezüge die rechtzeitige Antragstellung unterlassen oder sei ihr Leistungsbegehren aus diesem Grund zunächst zu Recht abgelehnt worden, dann könnte sie später nach Ablauf der Zwölfmonatsfrist trotz gewandelter Rechts- und Tatsachenlage die Rente nicht mehr erhalten. Aus dieser Perspektive gesehen, bewähre sich nur die nachgiebigere Deutung des § 1291 Abs. 2 RVO. Es gehe nicht an, daß das Gesetz in der maßgeblichen Zeit nicht die Gelegenheit zum Erwerb des Anspruchs biete und diese Möglichkeit nachher für immer verloren sein lasse.
Das am 6. April 1961 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit der von dem Berufungsgericht zugelassenen Revision am 22. April 1961 angefochten. Begründet hat sie das Rechtsmittel am 26. Mai 1961. Die Revision glaubt der Textfassung des Gesetzes entnehmen zu müssen, daß § 1291 Abs. 2 RVO eine strikte Ausschlußfrist setze. Das Gesetz binde das Wiederaufleben des Anspruchs auf Witwen- oder Witwerrente schlechthin an den Vorbehalt, daß "der Antrag spätestens 12 Monate nach der Auflösung ... der Ehe gestellt ist". Demgegenüber hätte, so meint die Beklagte, die Formulierung des Gesetzes anders lauten müssen, sofern bloß eine Vorkehrung für einen begünstigenden Leistungsanfang getroffen werden sollte. Dann hätte es zB genügt, den ersten Halbsatz des § 1291 Abs. 1 RVO in zwei Sätze etwa folgenden Inhalts aufzuspalten: a) "Hat eine Witwe oder ein Witwer sich wiederverheiratet und wird diese Ehe ... aufgelöst oder für nichtig erklärt, so lebt der Anspruch auf Witwen- oder Witwerrente wieder auf". b) "Wird der Antrag auf Wiedergewährung der Witwen- oder Witwerrente spätestens 12 Monate nach der Auflösung ... der Ehe gestellt, so beginnt die wiederaufgelebte ... Rente abweichend von § 1290 Abs. 3 RVO mit dem Ablauf des Monats, in welchem die zweite Ehe aufgelöst ... wurde". - Ohne eine klare Scheidung in zwei getrennte Bestimmungen habe man es für die Rechtsanwendung hinzunehmen, daß der Anspruch und seine Merkmale nicht losgelöst von der Vorschrift über den Rentenbeginn normiert sei. Vielmehr sei die Leistungsgewährung in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Fristbestimmung gebracht. Daran müsse man sich halten.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des Sozialgerichts Oldenburg vom 15. November 1960 die Klage abzuweisen.
Die zugelassene und deshalb statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie hat keinen Erfolg.
Dem LSG ist darin beizupflichten, daß die Klägerin die Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes vom Beginn des Monats Februar 1959 an verlangen kann (§§ 1291 Abs. 2, 1290 Abs. 3 RVO). Die Rente läuft von dem ersten Tage des Monats wieder an, in dem die Klägerin die Wiedergewährung der schon einmal weggefallenen Rente beantragt hat. Dem Wiederaufleben der Hinterbliebenenrente steht nicht entgegen, daß die Klägerin die Leistung erst 15 Monate nach der Auflösung der zweiten Ehe beantragt hat.
Dieses Ergebnis scheint auf den ersten Blick der Vorschrift des § 1291 Abs. 2, 1. Halbsatz RVO zu widerstreiten. Der Beklagten ist zuzugeben, daß die hier vorgesehene Frist nach dem ersten Eindruck als eine Grundvoraussetzung für die Geltendmachung des wiederaufgelebten Anspruchs aufgefaßt werden kann. Dahin weist der letzte Satzteil des ersten Halbsatzes in § 1291 Abs. 2 RVO, der mit einem "wenn" eingeleitet wird: "... so lebt der Anspruch ... vom Ablauf des Monats, in dem die Ehe aufgelöst ... ist, wieder auf, wenn der Antrag spätestens 12 Monate nach Auflösung ... der Ehe gestellt ist". Man ist versucht, aus diesem Konditionalsatz abzulesen, unter welcher Bedingung allein das Recht auf Hinterbliebenenrente aufs neue entsteht. Die Wirkung der Zwölfmonatsfrist wäre dann, daß nach ihrem Ablauf die Leistung schlechterdings nicht mehr begehrt werden könnte, gleichviel aus welchem Grunde der Forderungsberechtigte an der Wahrung der Frist verhindert war. Sollte diese Folge nach der Absicht des Gesetzgebers vermieden werden, dann wäre eine Erklärung über den Rentenbeginn bei späterer Antragstellung angebracht gewesen - so wie sie zB in Art. 2 §§ 35, 40, 41 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zu finden ist.
Auf der anderen Seite paßt eine so einengende, die Rechtsstellung der Witwen und Witwer einschränkende Auslegung nicht zu dem rechts- und sozialpolitischen Ziel, welches der Gesetzgeber mit dem Institut des Wiederauflebens der Witwen- und Waisenrente verfolgte. Beweggrund für diese Rechtseinrichtung war, den "unerwünschten Rentenkonkubinaten (Onkelehen) entgegenzuwirken" (Begründung zum Regierungsentwurf BT-Drucks. 2437 (1953) Seite 79). Den Berechtigten einer Witwen- oder Witwerrente sollte die "Scheu vor der Wiederheirat genommen" werden; es sollte der Sorge der Betreffenden vorgebeugt werden, sie könnten mit Eingehen einer neuen Ehe die gesicherte Versorgung unwiederbringlich verlieren. In diesem Rahmen würde aber die gleichzeitige Androhung eines völligen, an eine Zeitbedingung geknüpften Rechtsverlusts wenig zweckmäßig anmuten. Dies war auch nicht der Wille des Gesetzgebers.
Die Entstehungsgeschichte des § 1291 Abs. 2 RVO liefert dafür einen klaren und sicheren Anhalt. Nach dem Vorschlag des Regierungsentwurfs (BT-Drucks. 2437 zu § 1295) sollte die Vorschrift zunächst heißen: "Hat eine Witwe oder ein Witwer sich wiederverheiratet und wird diese Ehe ... aufgelöst oder für nichtig erklärt, so lebt der Anspruch auf Witwen- oder Witwerrente wieder auf". Erst auf Beschluß des Bundestags in der zweiten Beratung des ArVNG wurde in den angeführten Satz die hier erörterte Klausel der Zwölfmonatsfrist eingefügt. Diese Ergänzung wurde damit begründet, daß bei dem ursprünglich vorgesehenen Text Zweifel über den Beginn der Leistung aufkommen könnten, ob nämlich beim Wiederaufleben des Anspruchs die Rente vom Ablauf des Monats, in dem die Ehe aufgelöst wird, zu zahlen ist, oder ob sich das Wiederaufleben nach der Vorschrift des heutigen § 1290 Abs. 3 RVO richtet - Beginn der Rente mit dem Antragsmonat - (Sitzungsbericht des 2. Deutschen Bundestags vom 18. Januar 1957 S. 10407 C, D). Während der Gesetzesberatungen erhob sich, soweit ersichtlich ist, kein Widerspruch dagegen, daß mit diesem Zusatz zum Regierungsentwurf lediglich eine den Beginn der Rente regelnde Zeitbestimmung getroffen werden sollte. Von einem festen, die Leistungsbefugnis abschließenden Endtermin war nicht die Rede. Es kann deshalb unbedenklich davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber die Rechtsgewährung des § 1291 Abs. 2 RVO nicht weiter hat einschränken wollen, als es nach dem Regierungsentwurf vorgesehen war, sondern daß er lediglich - um größere Klarheit der Rechtsgestaltung bemüht - den einmal beschrittenen Weg fortsetzte.
Die Materialien des Gesetzes geben mithin über den gemeinten und gewollten Sinn des § 1291 Abs. 2 RVO eine zuverlässige Aufklärung; darin rechtfertigt nichts den Schluß auf eine Ausschlußfrist des Inhalts, wie ihn die Beklagte aus der genannten Vorschrift herleitet. Für die Einführung einer solchen definitiven Antragssperre sind darüber hinaus auch sonst keine maßgebenden Gesichtspunkte und Interessen hervorgetreten. Auf eine vergleichbare absolute Anspruchsbeschränkung trifft man weder im Bundesversorgungsrecht (vgl. § 44 Abs. 2 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) noch im Beamtenrecht (vgl. § 164 Abs. 3 des Bundesbeamtengesetzes - BBG -).
Diese Erwägungen zeigen, daß sich die vorstehend dargelegte Meinung des Gesetzgebers im Gesetz selbst hinreichend niedergeschlagen hat. Nur darf man sich durch die gewählte ungeschickte Fassung nicht beirren lassen. Zwei Dinge werden miteinander vermengt: der Teil des Rechtssatzes, der die Anspruchsberechtigung als solche enthält, und derjenige Teil der Bestimmung, der sich mit einer Frage des Leistungsanfangs befaßt. Beides ist gedanklich voneinander zu scheiden.
In dieser Hinsicht ist es bedeutsam, das Augenmerk auf den Zusammenhang des § 1291 Abs. 2 RVO mit § 1290 RVO, der über den Beginn der Rente handelt, hinzulenken. Im § 1290 Abs. 3 RVO ist allgemein bestimmt, daß eine Erhöhung oder Wiedergewährung der Rente nur vom Beginn des Antragsmonats an verlangt werden kann. Dem steht als Ausnahme der Sondertatbestand gegenüber, daß der Antrag innerhalb der Zwölfmonatsfrist nach Auflösung der zweiten Ehe angebracht wird; die Vorschrift über den fristgebundenen Antrag, also § 1291 Abs. 2 RVO, setzt mithin logisch den generellen Tatbestand des § 1290 Abs. 3 Satz 1 RVO über den Leistungsbeginn im allgemeinen voraus.
Man hat nun geglaubt, eine derartige Beziehung, durch welche § 1291 Abs. 2 als die Abweichung vom Prinzip des § 1290 Abs. 3 RVO charakterisiert wird, leugnen zu müssen. Hierzu hat man darauf hingewiesen, daß § 1290 Abs. 3 RVO in seinem Satz 1 nicht nur den Grundsatz aufstelle, sondern zugleich in Satz 2 die Einzelfälle aufführe, in denen ausnahmsweise etwas anderes gelte. Man geht also davon aus, daß § 1290 Abs. 3 RVO eine in sich vollständige Ordnung des Beginns wiederzugewährender Renten treffe. Diese These ist indessen eine nicht bewiesene Behauptung. Es mag wohl ursprünglich nach dem Vorschlag des Regierungsentwurfs beabsichtigt gewesen sein, die Richtlinien über den Anfangstermin der wiederaufgelebten Renten und ihre Abwandlungen möglichst erschöpfend in einem Paragraphen zusammen zu bringen. Mit der Textänderung während der zweiten Lesung im Bundestag wurde hiervon aber abgegangen. Wie man sich zur Tragweite der Zwölfmonatsfrist auch immer stellen mag, es ist nicht daran vorbeizukommen, daß § 1291 Abs. 2 RVO auf jeden Fall eine Bestimmung über den Beginn der Leistung enthält. Wird der Anspruch innerhalb der Zwölfmonatsfrist geltend gemacht, so wird die Rente stets zu einem Termin in Lauf gesetzt, der von dem in § 1290 Abs. 3 RVO genannten Zeitpunkt verschieden ist. Die Regel des § 1290 Abs. 3 RVO wird also unter allen Umständen von der Vorschrift des § 1291 Abs. 2 RVO durchbrochen. Es kann daher nur noch fraglich sein, ob im Zusammenhang mit dem Wiederaufleben von Witwen- und Witwerrenten für § 1290 Abs. 3 RVO überhaupt ein Anwendungsfeld besteht. Wäre nun § 1291 Abs. 2 RVO nicht ein Spezialgesetz über den Wiederbeginn der Renten, dann hätte man eine unmißverständlichere Kennzeichnung der Zwölfmonatsfrist in der Richtung erwarten dürfen, daß der Anspruch "nur" innerhalb dieser begrenzten Zeitspanne erhoben, oder daß nach ihrem Ablauf der Antrag ausgeschlossen sein solle. Ohne eine derartige ausdrückliche Zeitschranke verdient diejenige Deutung den Vorzug, die dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers entspricht und die dahingeht, daß die wiederaufgelebte Rente anders als sonst, nicht erst mit dem Antragsmonat, sondern schon mit Ablauf des Monats beginnen soll, in dem die zweite Ehe ihr Ende fand oder für nichtig erklärt wurde, sofern nur der Anspruch fristgerecht geltend gemacht ist.
Die hier gefundene Gesetzesinterpretation hat vor allem die inneren Gründe für sich. Das hat das LSG richtig erkannt. Die Revision konnte infolgedessen nicht durchdringen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen