Leitsatz (redaktionell)
Gibt der zuständige Beamte eines Versicherungsträgers seinen Rechtsmittelschriftsatz 6 Tage vor Ablauf der Frist zur Fertigung der Reinschrift und Absendung in den von nachweisbar entsprechend ausgewählten und überwachten Kräften betreuten Geschäftsgang, so ist, wenn gleichwohl die Rechtsmittelfrist versäumt wird, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Juni 1956 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Das in diesem Rechtsstreit erlassene Urteil des Sozialgerichts (SG.) Nürnberg vom 11. Januar 1955 wurde der Beklagten am 2. Februar 1955 zugestellt. Diese legte dagegen mit ihrem Schriftsatz vom 24. Februar 1955, der an diesem Tage in den Geschäftsgang gegeben wurde, aber erst am 10. März 1955 beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG.) einging, Berufung ein. Auf einen Hinweis des LSG. hin, daß die Berufung verspätet eingelegt sei, beantragte die Beklagte gegen die Versäumnis der Berufungsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das LSG. hielt diesen Antrag für unbegründet und verwarf die Berufung durch Urteil vom 13. Juni 1956 als unzulässig. Es ließ die Revision nicht zu.
Die Beklagte legte gegen das ihr am 27. August 1956 zugestellte Urteil des LSG. am 14. September 1956 Revision ein und begründete sie am 9. Oktober 1956. Sie beantragte, das Urteil des LSG. aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Sie rügte als wesentlichen Mangel des Verfahrens, daß das Berufungsgericht statt eines Sachurteils ein Prozeßurteil erlassen habe. Nach ihrer Ansicht wäre bei richtiger Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) "Nachsicht" zu gewähren und damit der Weg zu einer Entscheidung in der Sache selbst frei gewesen.
Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig. Sie ist statthaft, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt ist und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2; BSGE. 1 S. 150); auch sind die Form- und Fristvorschriften für das Einlegen der Revision gewahrt (§ 164 SGG).
Das LSG. ist zu Recht davon ausgegangen, daß die Rechtsmittelbelehrung, die das SG. der Beklagten erteilt hat, richtig und vollständig ist (§ 66 Abs. 1 SGG). Es schadet nicht, daß die Rechtsmittelbelehrung dem Urteil des SG. nur angeheftet war; es genügt, wenn auf sie - wie es tatsächlich geschehen ist - in den Entscheidungsgründen als Bestandteil des Urteils hingewiesen worden ist (BSG. in Sozialrecht zu § 66 SGG, Da Nr. 16). Der Beklagten stand also nur eine Monatsfrist zum Einlegen der Berufung zur Verfügung (§ 151 SGG). Diese hat sie versäumt.
Gegen die Versäumung der Berufungsfrist kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gehören dem Verfahrensrecht an (BSG., Urteil vom 14. Januar 1958 - 11/8 RV 97/57). Bei einer nicht zugelassenen Revision kann die begründete Rüge, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei zu Unrecht versagt worden, die Revision statthaft werden lassen (BSGE. 1 S. 227; Beschluß vom 15. Januar 1958 - 2 RU 283/56).
Die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind - entgegen der Ansicht der Vorinstanz - gegeben. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag zu gewähren, wenn ein Beteiligter ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten und er die versäumte Rechtshandlung rechtzeitig nachholt (§ 67 SGG). Ein Verschulden liegt nicht vor, wenn der Beteiligte die Sorgfalt beachtet hat, die einem gewissenhaften Prozeßführenden nach den gesamten Umständen zuzumuten ist. Dabei sind die Maßnahmen, die er zu treffen hat, um den rechtzeitigen Eingang einer Rechtsmittelschrift bei dem zuständigen Gericht zu erreichen, nach vernünftigen Überlegungen und angemessenen Zeitberechnungen zu bestimmen. Er braucht nicht mit ungewöhnlichen Verzögerungen zu rechnen (BSGE. 1 S. 227). Nach den vom LSG. getroffenen Feststellungen ist die Reinschrift der Berufungsschrift am 24. Februar 1955, also sechs Tage vor dem Ablauf der Berufungsfrist am 2. März 1955, angefertigt und in den Geschäftsgang zur Versendung an das LSG gegeben worden. Die Beklagte ist eine große Verwaltung mit einem geordneten Geschäftsbetrieb. Das Personal wird nach den Richtlinien, die für den öffentlichen Dienst gelten, ausgewählt und entsprechend eingesetzt, der Verwaltungsgang von geschulten Beamten laufend überwacht. Der Abteilungsleiter, der für das Einlegen der Berufung verantwortlich war, durfte sich darauf verlassen, daß die Berufungsschrift, die er sechs Tage vor dem Ablauf der Rechtsmittelfrist unterzeichnete und weitergab, innerhalb der noch verbliebenen Zeitspanne postfertig gemacht, zur Post gegeben und durch diese zum LSG. befördert wurde. Die noch zur Verfügung stehende Zeit war so bemessen, daß sie sogar Sicherheitsspannen sowohl für die Poststelle innerhalb der eigenen Verwaltung als auch für die Beförderung durch die Post enthielt. Es war deshalb nicht notwendig, zusätzliche Anweisungen für das Versenden dieses Briefes zu geben, etwa durch persönliche Aufträge an bestimmte Bedienstete oder durch besondere Eilvermerke. Eine solche erhöhte Sorgfaltspflicht wäre notwendig gewesen, wenn die Beklagte die Rechtsmittelschrift kurz vor dem Ablauf der Berufungsfrist angefertigt hätte. Das hat sie aber nicht getan. Unter diesen Umständen ist selbst ein säumiges Verhalten des Personals, sei es das der Beklagten oder das der Postverwaltung, der Beklagten nicht anzurechnen (BSG. in Sozialrecht zu § 67 SGG, Da Nr. 12; was in dieser Entscheidung zum Verschulden des Büropersonals von Rechtsanwälten und Verbandsvertretern gesagt worden ist, muß sinngemäß auch für das Personal von Versicherungsträgern und Behörden gelten). Die Beklagte hat deshalb ohne Verschulden die Verfahrensfrist nicht eingehalten; sie hat die versäumte Rechtshandlung auch rechtzeitig nachgeholt, so daß ihr Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründet ist. Es kommt in diesem Zusammenhang weder auf die Bedeutung des Absendevermerks auf der Durchschrift der Berufungsschrift noch auf den Auslieferungstermin an die Post an.
Das LSG. hätte also der Beklagten "Nachsicht" gewähren und sodann den Rechtsstreit in der Sache selbst entscheiden müssen.
Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf den genannten Fehlern. Das Bundessozialgericht vermag jedoch den Rechtsstreit nicht abschließend zu beurteilen, weil das LSG. noch keine tatsächlichen Feststellungen zur Sache selbst getroffen hat (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt ebenfalls dem LSG. vorbehalten.
Fundstellen