Leitsatz (redaktionell)

1. Der Versicherungsschutz für einen Kraftfahrzeugunfall bleibt bestehen, wenn die durch Alkoholgenuß verursachte Beeinträchtigung der Fahrfähigkeit des Versicherten nicht die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls war.

2. Die Grundsätze vom Beweis des ersten Anscheins führen wie im Zivilprozeß auch im sozialgerichtlichen Verfahren nicht zu einer Änderung der objektiven Beweislast .

Man kann nicht als von einem Ergebnis der Lebenserfahrung davon ausgehen, daß ein "nüchterner" Fahrer selbst bei einem unvorhergesehenen Ruck nicht aus dem geöffneten Führerhaus eines Lastwagens fallen würde .

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09, § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Februar 1957 wird aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Januar 1956 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Unfalls vom 26. August 1954.

Hierzu hat das Landessozialgericht (LSG) folgendes festgestellt:

"Der am 2.10.1907 geborene Kläger, Kraftfahrer in einem Speditionsunternehmen, fuhr am 26.8.1954 mit einer schweren Zugmaschine nebst beladenem Anhänger von S... nach L.... Auf der abschüssigen Straße vor L... geriet er mit seinem Lastzug über den regendurchweichten Grasstreifen in den rechten Straßengraben. Nachdem die Zugmaschine durch ein anderes Fahrzeug aus dem Graben gezogen war, versuchte er mittels dieser auch den Anhänger wieder auf die Fahrbahn zu bringen. Als er den Anhänger mit einem Abschleppseil, links seitlich bei geöffneter Tür aus dem Führerhaus zurückblickend, aus dem Graben zog, stürzte er auf die Straße und kam so unglücklich zu liegen, daß das linke Hinterrad der 6700 kg schweren Zugmaschine über seinen rechten Arm rollte; er zog sich eine breite Ablederung des rechten Armes mit ausgedehnter Weichteilquetschung und Hämatombildung zu.

Vom Amtsgericht Lörrach wurde der Kläger durch Strafbefehl am 9.11.1954 nach den §§ 315 a Abs. 1 Ziff. 2, 315 Abs. 3, 316 Abs. 2, 29 StGB zu einer Geldstrafe von 200,-- DM verurteilt. Diese Verurteilung stützte sich auf eine Blutalkoholuntersuchung durch das Institut für gerichtliche Medizin der Universität F..., die einen Blutalkoholgehalt von 2,17 pro Mille ergeben hatte, und u.a. auf die Zeugenaussagen des Beifahrers H... B... und des Polizeimeisters A... S...."

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 30. März 1955 die Entschädigungsansprüche mit der Begründung ab, der Verletzte sei zwar geschäftlich mit dem Fahrzeug seines Arbeitgebers unterwegs gewesen, habe jedoch den inneren Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit durch den Alkoholgenuß gelöst, durch dessen Einwirkung er nicht mehr fähig gewesen sei, das ihm anvertraute Transportmittel ohne Gefahr für sich und andere verkehrsgerecht zu bedienen.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Freiburg erhoben. Das SG hat den Beifahrer B... und den Polizeimeister S... als Zeugen vernommen. Durch Urteil vom 10. Januar 1956 hat es die Beklagte verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Arbeitsunfalls die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen zu gewähren.

Zur Begründung hat das SG ausgeführt, es komme darauf an, ob die Trunkenheit den Unfall tatsächlich verursacht habe. Die Tätigkeit des Klägers im Zeitpunkt des Unfalls müsse als außergewöhnlich bezeichnet werden und sei mit außergewöhnlichen Gefahren verbunden gewesen. Es habe sich nicht lediglich um die Führung einer Zugmaschine, sondern um schwierige Bergungsarbeiten zur Nachtzeit gehandelt. Hieraus könne ohne weiteres der Schluß gezogen werden, daß auch ein nüchterner Fahrer den Gefahren, die als Betriebsgefahren zu bezeichnen seien, erlegen wäre.

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG durch Urteil vom 14. Februar 1957 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 30. März 1955 abgewiesen.

Die Revision ist vom LSG zugelassen worden.

Das LSG steht gleichfalls auf dem Rechtsstandpunkt, der Versicherungsschutz könne nur versagt werden, wenn der Kläger einer durch den Alkoholgenuß geschaffenen Gefahr, die in die eigenwirtschaftliche Sphäre gehöre, erlegen sei. Es ist zu dem Ergebnis gelangt, daß es mit aller Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Unfall gekommen wäre, wenn der Kläger nüchtern gewesen wäre. Seiner Auffassung nach beruht der Unfall auf der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit des Klägers, ohne daß betrieblichen Gefahren eine wesentliche Ursache oder Mitursache beizumessen wäre.

Die für den Kläger bestimmte Urteilsausfertigung ist am 8. Juni 1957 als eingeschriebene Sendung zur Post gegeben worden. Der Kläger hat gegen das Urteil vom 6. Juli 1957 Revision eingelegt und sie, nachdem die Frist zur Begründung der Revision bis zum 11. September 1957 verlängert worden war (vgl. § 164 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG- ), am 15. August 1957 begründet.

Er beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger aus Anlaß seines Arbeitsunfalls vom 26. August 1954 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden und somit zulässig.

Sie hatte auch Erfolg.

Das LSG hat zutreffend ausgeführt, daß die Fahrt des Klägers von S... nach L... auch dann als versicherte Tätigkeit im Speditionsunternehmen seines Arbeitgebers unter Versicherungsschutz stand, wenn der längere Aufenthalt in der Weinstube in S... nicht durch unternehmensbedingte Umstände veranlaßt, sondern dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnen gewesen sein sollte. Das LSG hat auch ohne Rechtsirrtum die Anwendbarkeit des § 557 Reichsversicherungsordnung (RVO) verneint, da der Strafbefehl des Amtsgerichts Lörrach nur eine Strafe wegen eines fahrlässigen Vergehens ausgesprochen hat.

Die Auffassung, daß ein Kraftfahrer den Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung verliere, wenn er ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er sich aus unternehmensfremden Gründen durch Alkoholgenuß in einen Zustand versetzt hatte, in dem er nicht mehr verkehrssicher fahren kann (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 30.5.1956 - BSG 3, 116 -), ist vom erkennenden Senat inzwischen als zu weitgehend aufgegeben worden (vgl. das Urteil vom 30.6.1960 - BSG 12, 242 -). Der Senat stimmt mit dem LSG darin überein, daß es darauf ankommt, welche Bedeutung die auf der Beeinträchtigung der Fahrfähigkeit durch Alkoholwirkungen beruhende Gefahr für das Zustandekommen des Unfalls hatte. Nur wenn diese Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Kraftfahrzeugführers für das Zustandekommen des Unfalls so ausschlaggebend ist, daß sie als rechtlich allein wesentliche Ursache die sonst mitwirkenden Umstände rechtlich unwesentlich erscheinen läßt, liegt kein mit der versicherten Tätigkeit in ursächlichem Zusammenhang stehender Arbeitsunfall vor.

Bei der Wertung der für den Eintritt des Unfalls vom 26. August 1954 ursächlichen Umstände ist der Senat jedoch zu einem vom Standpunkt des LSG abweichenden Ergebnis gelangt.

Das LSG hat zutreffend festgestellt, daß der Kläger infolge der Alkoholbeeinflussung die zum verkehrssicheren Führen der Zugmaschine erforderlichen Fähigkeiten nicht mehr in ausreichendem Maße besaß. Diesen Schluß konnte das LSG aus der - von der Revision nicht angegriffenen - Feststellung ziehen, daß die Blutalkoholkonzentration (BAK) 2,17 ‰ betrug. Es war bei einer so hohen BAK - entgegen der Auffassung der Revision - nicht erforderlich, Feststellungen über die Höchstgeschwindigkeit des schweren, in den Polizeiakten als "Schnelltransportzugmaschine" bezeichneten Fahrzeugs zu treffen.

Dagegen rügt die Revision mit Recht, daß das LSG die Angaben des Zeugen B... über das "Zurückrollen" des Lastzuges vor einem geschlossenen Bahnübergang ergänzend für seine Schlußfolgerung herangezogen und andererseits die Angaben dieses Zeugen nicht für glaubhaft gehalten hat, die darauf schließen lassen, daß der Kläger deshalb auf den weichen Randstreifen geraten ist, weil er vermeiden wollte, einen in schneller Fahrt entgegenkommenden, die Straßenmitte einhaltenden Personenkraftwagen durch zu geringen Abstand zu gefährden. Wenn das LSG aus dem "Zurückrollen" Schlüsse hinsichtlich des Grades der Fahrunfähigkeit des Klägers ziehen wollte, hätte es die näheren Umstände dieses Vorgangs aufklären und insbesondere auch dem Kläger Gelegenheit zu einer Stellungnahme geben müssen. Auch hätte das LSG, wenn es entgegen der Auffassung des SG, das den Zeugen B... selbst vernommen hat, diesen Zeugen nicht für glaubwürdig halten wollte, sich selbst einen Eindruck von dessen Persönlichkeit verschaffen müssen.

Vor allem aber hat das LSG die Grundsätze des sog. "Beweises des ersten Anscheins" auf den vorliegenden Fall unzutreffend angewendet. Sie haben im Zivilprozeß keine Umkehrung der Beweisführungslast zur Folge (vgl. Baumbach/Lauterbach, ZPO, 26. Aufl., Anh. zu § 282 Anm. 3) und führen auch im sozialgerichtlichen Verfahren nicht zu einer Änderung der objektiven Beweislast (vgl. zu diesem Begriff BSG 6, 70, 72). Der Beweis des ersten Anscheins ermöglicht es lediglich dem Richter, aus einem festgestellten typischen Geschehensablauf Schlüsse darauf zu ziehen, welche Folgen dieser festgestellte Tatbestand gehabt hat oder auf welchen Ursachen er beruhte, wobei der Richter im sozialgerichtlichen Verfahren ohne Bindung an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten von sich aus prüfen muß, ob Umstände ermittelt werden können, die solchen Schlußfolgerungen entgegenstehen.

Für Schlußfolgerungen nach dem "ersten Anschein" wäre im vorliegenden Fall nur dann Raum, wenn es sich um einen Unfallhergang handelte, dessen nähere Umstände nicht aufzuklären sind oder der für Unfälle typisch ist, die durch unter Alkoholeinfluß stehende Kraftfahrer verursacht werden, und andere Umstände, die als mitwirkende Ursachen in Frage kommen, nicht ersichtlich wären. Das ist jedoch nach den - insoweit von der Revision nicht angegriffenen - Feststellungen des LSG nicht der Fall. Der Unfall hat sich, wie das SG zutreffend ausgeführt hat, bei einer fahrtechnisch verhältnismäßig schwierigen Tätigkeit ereignet. Der Kläger zog, während die Beleuchtungsverhältnisse bereits ungünstig waren, mit der Zugmaschine den abgerutschten Anhänger aus dem Straßengraben wieder auf die feste Fahrbahn, und der Anhänger war hierbei mit der Zugmaschine nicht fest verbunden, sondern wurde mit Hilfe eines Abschleppseils gezogen, so daß seine Führung loser war als bei einer festen Verbindung und er auch von der Zugmaschine aus nicht abgebremst werden konnte. Um die Vorgänge hinter der Zugmaschine besser beobachten zu können, lehnte sich der Kläger linksseitig nach hinten gewendet bei geöffneter Tür aus dem Führerhaus hinaus. Es handelte sich also um einen Vorgang, der schon seiner Art nach die Möglichkeit zu unerwarteten Zwischenfällen bietet, ohne daß es hierzu der Annahme bedarf, der Fahrer der Zugmaschine sei fahrunfähig gewesen. Eine solche unerwartete Entwicklung ist auch nach den Feststellungen des LSG eingetreten. Der Anhänger geriet, als er die feste Fahrbahn erreicht hatte, ins Rollen, und dadurch oder durch ein Auffahren des rollenden Anhängers erhielt die Zugmaschine einen "Ruck", der zur Folge hatte, daß der aus der geöffneten Tür der Führerkabine hinausgelehnte Kläger den Halt verlor und auf die Fahrbahn stürzte.

Das LSG hat auch offenbar nicht verkannt, daß der mit der versicherten Abschlepptätigkeit in unmittelbarem Zusammenhang stehende "Ruck" eine der Ursachen für den Sturz des Klägers und damit für das Zustandekommen des Unfalls war. Es hat jedoch bei der Bewertung dieser Mitursache unrichtigerweise als Ergebnis der "Lebenserfahrung" zugrunde gelegt, daß ein nüchterner Fahrer selbst bei einem unvorhergesehenen Stoß nicht aus dem Wagen falle. Einen solchen allgemeinen Erfahrungssatz gibt es jedoch in Wirklichkeit nicht. Insbesondere hat das LSG nicht ausreichend berücksichtigt, daß die Tür offen stand und der Kläger sich nach hinten gewendet in einer nach außen gebeugten Haltung befand.

Nach der Auffassung des erkennenden Senats ist es nicht auszuschließen, daß unter derartigen Umständen auch ein nicht unter Alkoholeinwirkung stehender Fahrer den Halt verloren hätte und aus dem Fahrzeug gestürzt wäre. Der Senat teilt deshalb die Auffassung des LSG nicht, daß der "Ruck" rechtlich als Mitursache unwesentlich ist.

Da hiernach die Beeinträchtigung der Fahrfähigkeit des Klägers durch die Alkoholeinwirkung rechtlich jedenfalls nicht die allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen ist, der Unfall vielmehr rechtlich wesentlich auch durch einen mit der versicherten Tätigkeit in Zusammenhang stehenden Umstand mitverursacht ist, hat das LSG das Vorliegen eines Arbeitsunfalls zu Unrecht verneint.

Das Urteil des LSG mußte deshalb aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des SG als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2336745

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge