Orientierungssatz
Wer aufgrund eines vor dem 1970-09-01 eingetretenen Versicherungsfalles Rente bezieht, hat für ein Pflegekind, zu dessen Unterhalt er vor Eintritt des Versicherungsfalles nicht oder nicht erheblich beigetragen hat, auch für die Zeit nach dem 1970-08-31 keinen Anspruch auf Kinderzuschuß. Das gilt auch dann, wenn er vor dem 1970-09-01 mit dem Pflegekind durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden war und es in seinen Haushalt aufgenommen hatte.
Normenkette
RVO § 1262 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Nr. 7 Fassung: 1964-04-14; BKGG § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Fassung: 1964-04-14, Nr. 6 Fassung: 1970-12-16
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 8. Juli 1975 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht Hamburg zurückverwiesen.
Tatbestand
Die im Jahr 1926 geborene Klägerin, die verheiratet ist und drei eheliche Kinder hat, nahm im März 1967 die am 21. August 1963 geborene Katja M, nicht eheliches Kind der Beigeladenen Eva M, in ihren Haushalt auf.
Die beigeladene Stadt zahlte an die Klägerin für Katja ein Pflegegeld von zunächst 100,- DM, später 150,- DM und weiter steigend bis 382,- DM im Jahr 1975, jeweils monatlich.
Vom 30. Oktober 1969 bis zum 7. Januar 1970 wurde die Klägerin wegen chronischer Hepatitis stationär behandelt. Im Januar 1972 beantragte sie bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 7. August 1972 bewilligte ihr die Beklagte für die Zeit vom 1. Januar 1972 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit; sie nahm den Eintritt des Versicherungsfalles mit dem 30. Oktober 1969 an und lehnte einen Kinderzuschuß für K ab, weil die Klägerin nicht den überwiegenden Unterhalt für das Kind bestritten habe.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Hamburg mit Urteil vom 31. Januar 1974 den Bescheid teilweise aufgehoben und die Beklagte zur Zahlung des Kinderzuschusses für Katja verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 8. Juli 1975 die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Die am 1. September 1970 in Kraft getretene Neufassung des Kindergeldrechts beziehe sich auf Versicherungsfälle, die vorher eingetreten seien, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen des Pflegekindschaftsverhältnisses schon früher bestanden hätten.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Auslegung und Anwendung des § 1262 Abs. 2 Nr. 7 Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die beigeladene Stadt H hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die übrigen Beteiligten haben sich nicht zur Sache erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß.
Nach § 1262 Abs. 1 Satz 1 RVO i. d. F. des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) erhöht sich die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für jedes Kind um den Kinderzuschuß. Nach § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO i. d. F. des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) vom 14. April 1964 (BGBl I 265) gelten als Kinder (im Sinn dieser Bestimmung) auch "die Pflegekinder im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BKGG, wenn das Pflegekindschaftsverhältnis vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet worden ist".
§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BKGG vom 14. April 1964 lautete:
"(Als Kinder im Sinne dieses Gesetzes werden berücksichtigt: ...)
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6. |
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Pflegekinder (Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat und zu den Kosten ihres Unterhalts nicht unerheblich beiträgt), ...." |
Das Zweite Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BKGG vom 16. Dezember 1970 (BGBl I 1725), das am 1. September 1970 in Kraft getreten ist, hat die Worte:" und zu den Kosten ihres Unterhalts nicht unerheblich beiträgt" gestrichen. Es enthält keine Bestimmung über eine Rückwirkung.
Der Ansicht der Beklagten, für den Anspruch der Klägerin sei nur die alte Fassung des BKGG maßgebend, weil der Versicherungsfall im Jahr 1969, also vor dem Inkrafttreten der Änderung, eingetreten sei, ist zuzustimmen.
Die Klägerin war am 30. Oktober 1969 in ihrer Leistungsfähigkeit so weit eingeschränkt, daß sie endgültig nicht mehr in der Lage war, einer lohnbringenden Arbeit regelmäßig nachzugehen. Das hat das Berufungsgericht festgestellt. Die Beteiligten haben die Feststellung nicht angegriffen, so daß der Senat an sie gebunden ist (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Es ist also davon auszugehen, daß der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit an diesem Tag eingetreten ist, so daß die alte Fassung des Gesetzes anzuwenden ist.
Das Berufungsgericht meint jedoch, daß die zum 1. September 1970 wirksam gewordene Änderung des Gesetzes sich auch auf vorher eingetretene Versicherungsfälle beziehe, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen des Pflegekindschaftsverhältnisses - ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band und Aufnahme in den Haushalt - vor dem 1. September 1970 gegeben gewesen seien, daß also hier der Anspruch der Klägerin nach der neuen Fassung des BKGG geprüft werden und dann als begründet festgestellt werden müsse.
Der Senat vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen. Wenn § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO die Gewährung des Kinderzuschusses davon abhängig macht, daß das Pflegekindschaftsverhältnis vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet worden ist, so soll damit - in Übereinstimmung mit vielen anderen Vorschriften des Sozialrechts, siehe Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, S. 666 s IV - der alte und seit jeher anerkannte Grundsatz des Leistungsrechts verwirklicht werden, daß Versicherungsansprüche nach dem Recht zur Zeit ihrer Entstehung zu beurteilen sind. Durch spätere Gesetzesänderungen kann der Anspruch eines Berechtigten im allgemeinen weder zu seinem Vorteil noch zu seinem Nachteil geändert werden, sofern das spätere Gesetz sich nicht rückwirkende Kraft beilegt (Brackmann, aaO). Das Gesetz will verhüten, daß ein Rentner allein dadurch, daß er ein Pflegekind annimmt, auf die Höhe der ihm bereits gewährten - laufenden - Rente Einfluß nehmen kann (BSG 22, 133, 134). Veränderungen in den Lebensverhältnissen, wie die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses, sollen, wenn der durch das versicherte Wagnis gekennzeichnete Versicherungsfall erst einmal eingetreten ist, keinen Einfluß mehr auf die Leistungspflicht des Versicherungsträgers haben (BSG 12, 288, 290, SozR Nr. 4 zu § 1271 RVO a. F., vgl. auch das Urteil des Senats in BSG 12, 35, 37).
Für den rechtsähnlichen Fall der Waisenrente hat der Senat entschieden (SozR Nr. 46 zu § 1267 RVO), daß das 2. Änderungsgesetz (ÄndG) zum BKGG in den Fällen, in denen der Versicherungsfall vor seinem Inkrafttreten eingetreten ist, keinen Anspruch begründet. Daran ist auch für den Fall des Kinderzuschusses festzuhalten.
Der vom Berufungsgericht betonte Unterschied, daß auf Waisenrente ein selbständiger Anspruch bestehe, der Kinderzuschuß aber Bestandteil der Rente sei, ist für die hier zu entscheidende Frage ohne wesentliche Bedeutung.
Da sonach für den Anspruch der Klägerin die alte Fassung des BKGG gilt, kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.
Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden. Denn es muß noch geprüft werden, ob die Klägerin zusätzlich zu dem von der beigeladenen Stadt gezahlten Pflegegeld zu den Kosten des Unterhalts, z. B. durch die Betreuung des Kindes, durch die Haushaltsführung, aber auch mit Geldleistungen, nicht unerheblich beigetragen hat (vgl. dazu BSG 32, 141).
Die Sache war zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen