Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Schülern

 

Orientierungssatz

Bei Rauferei zwischen Schülern im Alter von 14 und 15 Jahren während der Schulpause ist ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Schulbesuch und der zum Unfall führenden Auseinandersetzung zu bejahen und dabei mitzuberücksichtigen, daß sich die besondere Schulsituation durch die Anwesenheit einer Schülermenge bei dem Streit steigernd auf das typische Gruppen- und Aggressionsverhalten auswirkt (vgl BGH 1976-10-12 VI ZR 271/75 = BGHZ 67, 279).

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b Fassung: 1971-03-18, § 548 Abs 1 S 1, § 1509a

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 20.11.1980; Aktenzeichen L 3 U 40/80)

SG Braunschweig (Entscheidung vom 26.03.1980; Aktenzeichen S 9 U 134/79)

 

Tatbestand

Der am 23. Dezember 1962 geborene Michael L. und der ein Jahr ältere Roland S., beide Schüler der Hauptschule S., gerieten am 2. November 1976 während der großen Pause in Streit. Aus einem Wortwechsel ergab sich eine Rauferei. Die aufsichtführende Lehrerin kam hinzu, als sich die Schüler im Vorraum der Toiletten in einer Gruppe von Mitschülern beschimpften und anrempelten. Ihrer Aufforderung, aufzuhören und sich auf den Schulhof zu begeben, kam Roland S. nicht nach. Er schlug mehrmals unkontrolliert auf Michael L. ein, der die Schläge abwehrte und beim Zurückweichen gegen den Rahmen einer Tür stürzte. Der Durchgangsarzt nahm eine schwere Gehirnerschütterung an und veranlaßte eine stationäre Behandlung als berufsgenossenschaftliches Heilverfahren. Die Kosten für die stationäre Behandlung vom 2. bis 12. November 1976 (1.909,60 DM), für den Notfalltransport (82,50 DM) und für ärztliche - ambulante - Behandlung trug der Beklagte als Unfallversicherungsträger.

Mit Schreiben vom 31. März 1977 erklärte sich die Klägerin bereit, nachdem der Beklagte nachträglich die Auffassung vertreten hatte, der Unfall des Michael L. sei kein Arbeitsunfall, die Kosten im Rahmen ihrer Leistungspflicht nach § 1509a der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu ersetzen; sie zahlte an den Beklagten insgesamt 2.041,35 DM und verwies in ihrem Schreiben auf die Mitgliedschaft des Vaters des Michael L.

Mit Schreiben vom 14. April 1978 forderte die Klägerin den gezahlten Betrag von dem Beklagten zurück, weil nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) Raufereien von Schülern während der Pause schulbezogen seien und deshalb im vorliegenden Fall der Beklagte Entschädigung zu leisten habe.

Aufgrund der Weigerung des Beklagten hat die Klägerin gegen den Beklagten Klage auf Rückzahlung erhoben. Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. März 1980). Es hat angenommen, die Schlägerei zwischen den Schülern habe nicht mehr in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Schulbetrieb gestanden, nachdem sie nach Aufforderung der Lehrerin nicht beendet worden sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil geändert und den Beklagten verurteilt, an die Klägerin 1.992,10 DM zu zahlen; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20. November 1980). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der Anspruch auf Rückzahlung der Transport- und Krankenhauspflegekosten in Höhe von insgesamt 1.992,10 DM sei begründet, da die Krankheit des Schülers Michael L. Folge eines Arbeitsunfalls sei, den der Beklagte zu entschädigen habe. Zum Schulbesuch (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO) gehörten auch die Pausen (BSG SozR 2200 § 548 Nr 48). Bei Raufereien unter Schülern sei der Versicherungsschutz gegeben, wenn der Streit aus schulischem Anlaß entstehe. Hier sei der Grund für die tätliche Auseinandersetzung zwar nicht mehr festzustellen. Die Streitenden hätten jedoch das typische Gruppenverhalten innerhalb einer Schülermenge gezeigt, wobei sich eine typische Schulsituation ausgewirkt habe. Junge Menschen verhielten sich besonders aggressiv, wenn sie sich - wie hier - von einer Gruppe Gleichaltriger beobachtet fühlten und ihr Ansehen in der Gruppe möglicherweise von ihrer Aktivität während der Auseinandersetzung beeinflußt werde. Die sich daraus ergebenden Gefahren seien zwar auch außerhalb des Schulbetriebes vorhanden, in der Schulsituation jedoch besonders gesteigert, weil der Jugendliche sich dort in eine nicht selbst gewählte Gruppe einzuordnen habe. Dies rechtfertige den Versicherungsschutz im vorliegenden Fall. Der Anspruch der Klägerin sei allerdings insoweit nicht begründet, als es um die - nicht spezifizierten - Kosten ärztlicher Behandlung gehe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend: Der Anspruch sei schon deshalb unbegründet, weil die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls nicht vorlägen. Bei Streitigkeiten unter Schülern bestehe Versicherungsschutz nur, wenn der Streit aus dem Schulbesuch erwachsen sei. Daran fehle es hier. Außerdem könnten Verletzungen infolge Streitigkeiten zwischen Schülern nur dann als Arbeitsunfall angesehen werden, wenn fehlende Aufsicht im Schulbereich eine tätliche Auseinandersetzung ermöglicht habe. Hier habe die Rauferei den Bezug zum Schulbetrieb verloren, da sich die Schüler durch die Fortsetzung der Streitigkeit in Nichtbeachtung der Anordnung der aufsichtführenden Lehrerin einer rein privaten Verrichtung zugewandt hätten.

Der Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 26. März 1980 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, das LSG habe im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Beklagte für den Unfall des Schülers Michael L. Entschädigung zu leisten habe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat den Beklagten zu Recht verurteilt, an die Klägerin 1.992,10 DM zurückzuzahlen; soweit es die weitergehende Berufung der Klägerin zurückgewiesen hat, ist der Streit in der Revisionsinstanz nicht angefallen, da nur der Beklagte Revision eingelegt hat.

Als Schüler einer allgemeinbildenden Schule war Michael L. während des Besuchs dieser Schule gemäß § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO gegen Arbeitsunfall (Schulunfall) versichert. Der Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift erstreckt sich vor allem auf den Besuch des Schulunterrichts einschließlich der Pausen (s amtl Begründung in BT-Drucks VI/1333 zu § 1 Nr 1 Buchst a des Gesetzes vom 18. März 1971; BSG SozR 2200 § 548 Nr 48 mwN). Er ist allerdings nur gegeben, wenn die jeweilige Tätigkeit in einem wesentlichen inneren Zusammenhang mit dem Schulbesuch steht. Einen solchen Zusammenhang zwischen der Rauferei in der Unterrichtspause, bei der Michael L. verletzt worden ist, und dem Schulbesuch hat das LSG zu Recht bejaht.

Bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Beschäftigten (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) desselben Unternehmens auf der Betriebsstätte ist nach der ständigen Rechtsprechung ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der versicherten Tätigkeit nicht schlechthin zu verneinen; er ist vielmehr gegeben, wenn der Streit unmittelbar aus der versicherten Beschäftigung erwachsen ist (s ua Brackmann aaO S 484 v mN). Schon nach diesen auch für die gesetzliche Unfallversicherung von Schülern und Studenten (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b und d) geltenden Grundsätzen hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 30. Oktober 1979 (SozR 2200 § 548 Nr 48) den Versicherungsschutz für eine Rauferei angenommen, die zwischen zwei Schülern (15 und 17 Jahre alt) im Schulgebäude während der Unterrichtspause stattfand. Der Streit war dadurch entstanden, daß der jüngere der beiden dem älteren Mitschüler vorwarf, seine Schultasche durchsucht zu haben; der ältere gehörte zu einer Gruppe von Schülern, die früher schon anderen Schülern die Schultaschen durchsucht und die sich auch am Unfalltag an der Schultasche des jüngeren Schülers zu schaffen gemacht hatten. Der Senat hat in jenem Fall, in dem der Streit und die ihm folgende Schlägerei aus schulischem Anlaß und damit unmittelbar aus dem Schulbesuch entstanden war, nicht darüber zu entscheiden brauchen, unter welchen Voraussetzungen und innerhalb welcher Grenzen für Schüler bei Raufereien während des Schulbesuchs, die aber ihren Anlaß wesentlich im außerschulischen privaten Bereich haben, insbesondere wegen des Alters der Schüler und des Gruppenverhaltens während des Schulbesuchs der Versicherungsschutz nicht verlorengeht (SozR aaO). Im vorliegenden Fall ließ sich nicht ermitteln, aus welchem Grund es zu dem Streit zwischen den beiden Schülern gekommen ist. Nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen im angefochtenen Urteil ist - vermutlich aus einem geringfügigen Anlaß - eine wörtliche Auseinandersetzung, anschließend eine Rempelei und nach der Aufforderung der aufsichtführenden Lehrerin, sich zu trennen und auf den Schulhof zu begeben, eine Schlägerei "in einer Schülermenge" entstanden. Es ist somit zwar nicht davon auszugehen, daß - wie in dem vom Senat (aaO) entschiedenen Fall - ein konkret schulbezogener Grund die tätliche Auseinandersetzung veranlaßt hat. Gleichwohl hat das LSG mit Recht den ursächlichen Zusammenhang des Streits mit dem Schulbesuch bejaht.

Für den Unfallversicherungsschutz von Jugendlichen, die zur Arbeit herangezogen werden, hat die Rechtsprechung - ohne eine schematische Altersbegrenzung - die besondere Situation am Arbeitsplatz berücksichtigt und dabei insbesondere wegen des noch ungebändigten Spieltriebs Jugendlicher nicht ohne weiteres die für erwachsene Beschäftigte geltenden Maßstäbe bei der versicherungsrechtlichen Beurteilung für anwendbar gehalten (s ua Brackmann aaO S 483 o, 484 t ff mwN). Entsprechendes gilt auch für Unfälle der nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO versicherten Schüler (Brackmann aaO S 483 o; BSGE 42 42, 44; 43, 113, 115). Zu den besonderen Verhältnissen, die für Schüler beim Schulbesuch zu Gefährdungen führen können und deshalb bei der versicherungsrechtlichen Beurteilung zu berücksichtigen sind, gehören insbesondere neben den auf natürlichem Spieltrieb auch die auf typischem Gruppenverhalten beruhenden Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen (BSGE 43, 113, 116; BGHZ 67, 279; Brackmann aaO S 483 o und t). Es entspricht dem typischen Gruppenverhalten von Schülern im Alter der hier Beteiligten, daß sie bei Auseinandersetzungen nicht bei einem sachlichen Gespräch bleiben, sondern handgreiflich werden und über eine Rempelei in eine Schlägerei hineingleiten, die dann unmittelbar zu auch vom Schädiger nicht von Anfang an beabsichtigten Handlungen und sich daraus ergebenden Verletzungen führt (BSG SozR aaO). Zutreffend hat das LSG unter diesen Gesichtspunkten im vorliegenden Fall einen rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Schulbesuch und der zum Unfall führenden Auseinandersetzung bejaht und dabei mit Recht mitberücksichtigt, daß sich die besondere Schulsituation durch die Anwesenheit einer Schülermenge bei dem Streit steigernd auf das typische Gruppen- und Aggressionsverhalten ausgewirkt hat (BGH aaO).

Da somit die Verletzungen, die der Schüler L. bei der Rauferei erlitt, die Folge eines Arbeitsunfalls (§ 548 iVm § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO) waren, hat der Beklagte als zuständiger Träger der Unfallversicherung zutreffend die hier im Revisionsverfahren streitigen Kosten für die stationäre Behandlung und den Notfalltransport zunächst selbst übernommen. Die Klägerin kann deshalb den in der irrigen Annahme, die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls lägen nicht vor, an den Beklagten geleisteten Beträge nach den Grundsätzen des öffentlichen Rechts über die Erstattung von Überzahlungen zurückfordern, weil sich ergeben hat, daß die Krankheit, wegen der der Träger der Unfallversicherung Leistungen gewährt und der Träger der Krankenversicherung Ersatz geleistet hat, doch die Folge eines Arbeitsunfalls war (s Brackmann aaO S 966 n; BSGE 33, 69, 72 - jeweils mwN).

Die Revision ist danach zurückzuweisen.

Eine Kostenentscheidung entfällt (§ 193 Abs 4 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661829

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