Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei Streitigkeiten zwischen Schülern
Leitsatz (amtlich)
Bei tätlichen Streitigkeiten zwischen Schülern allgemeinbildender Schulen während der Pause besteht jedenfalls dann grundsätzlich Versicherungsschutz, wenn der Streit unmittelbar aus dem Schulbesuch erwachsen ist.
Orientierungssatz
1. Das Durchsuchen und auch nur das Hineinschauen in eine Schultasche eines anderen Schülers und die den Schülern während des Schulbesuchs typische Art, unmittelbar hierauf zu reagieren, begründen den ursächlichen inneren Zusammenhang zwischen einem daraus entstehenden Streit und dem Schulbesuch.
2. Der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung bei Verletzungen eines Betriebsangehörigen durch einen Streit am Arbeitsplatz hängt davon ab, ob ein innerer Zusammenhang zwischen dem Streit und der versicherten Tätigkeit besteht; dies ist dann der Fall, wenn betriebliche Angelegenheiten die wesentliche Ursache für den Streit und das Handeln des Schädigers gewesen sind.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Mai 1979 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger und dem Beigeladenen zu 1) die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der ... 1957 geborene Kläger und der ... 1959 geborene Beigeladene zu 1) besuchten dieselbe Klasse des Städtischen Gymnasiums W. Ihr Verhältnis zueinander war nicht besonders eng, aber auch nicht besonders gespannt. Außer der Zugehörigkeit zu derselben Schulklasse hatten sie weder besondere Anknüpfungs- noch Reibungspunkte. Der Kläger gehörte zu einer Gruppe von Repetenten, die den Besuch dieser Klasse wiederholten und deshalb einen etwas engeren Zusammenhalt hatten. Einzelne Schüler aus dieser Gruppe - gelegentlich auch der Kläger - durchsuchten häufiger die Schultaschen ihrer Mitschüler in deren Abwesenheit oder ohne deren Zustimmung. Am 19. Dezember 1974 stand die Schultasche des Beigeladenen zu 1) nach der Sportstunde im Umkleideraum der Turnhalle, und einige Schüler machten sich daran zu schaffen. Auch der Kläger schaute in die offene Tasche, ohne sie jedoch zu berühren. In der nächsten Pause stellte der Beigeladene zu 1) den Kläger auf dem Flur des Schulgebäudes zur Rede, weil er seine - des Beigeladenen zu 1) - Schultasche durchsucht habe. Es kam zu einer tätlichen Auseinandersetzung, die damit endete, daß der Beigeladene zu 1) den Kläger mit dem Fuß in den Bauch trat, als dieser am Boden lag. Der Kläger erlitt eine Bauchspeicheldrüsenverletzung. Im Laufe der stationären Behandlung wurden ihm die Milz und ein Teil des Magens entfernt.
Der Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche ab, da der Streit nicht im ursächlichen Zusammenhang mit dem Schulunterricht gestanden habe.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 6. April 1978 der Klage stattgegeben und den Beklagten zur Entschädigungsleistung verurteilt. Es hat ua ausgeführt: Die Schulbezogenheit ergebe sich aus der durch die Schulsituation bedingten und begünstigten Verhaltensweisen des Klägers und des Beigeladenen zu 1), deren verhängnisvolle Entwicklung von der - fehlenden - Pausenaufsicht nicht unterbunden worden sei. Letztlich stehe auch das Alter des Klägers und des Beigeladenen zu 1) im Zeitpunkt der tätlichen Auseinandersetzung der Bejahung eines Arbeitsunfalles nicht entgegen.
Die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 29. Mai 1979 zurückgewiesen. Es hat zur Begründung ua ausgeführt: Die zu dem Körperschaden führende tätliche Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen zu 1) habe während der Schulzeit und im Schulbereich stattgefunden. Schuleigentümliche Umstände hätten im wesentlichen Umfange zu dieser Auseinandersetzung beigetragen. Zu dem Konflikt sei es gekommen, weil die Schultasche des Beigeladenen zu 1) nach dem Ende der Sportstunde in dem Vorraum der Turnhalle gestanden habe. Sie sei nicht ständig beaufsichtigt und auch nicht in einem verschlossenen Schrank untergebracht gewesen. Während der Arbeitnehmer im Betrieb regelmäßig die Möglichkeit habe, die von ihm mitgebrachten Sachen während der Arbeit in einem verschließbaren Schrankfach aufzubewahren, gelte dies für Schultaschen während der Schulzeit im allgemeinen nicht. Persönliche und außerschulische Gründe seien demgegenüber in den Hintergrund getreten. Das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme lasse erkennen, daß der Beigeladenen zu 1) die schwere Körperverletzung des Klägers nicht absichtlich herbeigeführt habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Er trägt vor: Die Erwägungen des Bundesgerichtshofs in seinem Schüler im Alter von 7 Jahren betreffenden Urteil vom 12. Oktober 1976 könnten hier keine Anwendung finden, da der Kläger 17 Jahre, der Beigeladene zu 1) 15 Jahre alt gewesen sei. Den Versicherungsschutz bei Streitigkeiten zwischen Lehrlingen habe das Bundessozialgericht (BSG) nur bejaht, wenn es an der nötigen Aufsicht gefehlt habe. Die Vorinstanzen hätten zu Unrecht die schulischen Gegebenheiten in den Vordergrund geschoben. Der Schulbesuch sei vielmehr nur die Gelegenheitsursache für die Austragung privater Streitigkeiten gewesen. Der Kläger habe außerdem die Schlägerei veranlaßt. Das LSG hätte bei ausreichender Ausfüllung seiner Amtsermittlungspflicht gemäß § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das Verhalten des Klägers bei der Auseinandersetzung noch näher klären müssen. Es habe sich um Rowdytum gehandelt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG und das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger und der Beigeladene zu 1) beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene zu 2) hat sich zur Sache nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Einverständnis aller Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Als Schüler einer allgemeinbildenden Schule war der Kläger während des Besuchs dieser Schule nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegen Arbeitsunfall (Schulunfall) versichert.
Unter Schulbesuch fallen vor allem der Besuch des Schulunterrichts einschließlich der Pausen (s. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S. 483 1; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 539 Anm 85 Buchst b; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 300, S. 27; Vollmar, Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten, 2. Aufl 1975, S. 31; Wendland, BABl 1970, 749, 750; Boller, Sozialversicherung 1971, 97, 103; Hufer, Betriebskrankenkasse 1971, 70, 71; Kotz, Sicherheit im öffentlichen Dienst 1977, Heft 3, S. 13; Händel, Recht der Jugend und des Bildungswesens 1978, 137, 143; BT-Drucks VI/1333). Bei einer Tätigkeit während des Schulbesuchs ist jedoch gemäß § 548 Abs 1 Satz 1 RVO und dem Sinn des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO entsprechend Versicherungsschutz ebenfalls nur gegeben, wenn die Tätigkeit in einem wesentlichen inneren Zusammenhang mit dem Schulbesuch steht (s. ua Brackmann aaO S. 483 n; BSGE 43, 113, 114 - zum Wegeunfall). Bei tätlichen Streitigkeiten auf der Betriebsstätte oder auf einem Betriebsweg wird der innere Zusammenhang in dem angeführten Sinne nach ständiger Rechtsprechung nicht schlechthin verneint, er wird vielmehr bejaht, wenn der Streit unmittelbar aus der versicherten Beschäftigung erwachsen ist, so zB, wenn zwei Beschäftigte über die Benutzung eines ihnen gemeinsam zur Verfügung stehenden Werkzeugs in Streit geraten sind (s. ua BSGE 18, 106, 108; BSG SozR Nr 44 zu § 542 RVO aF und Nr 11 zu § 548 RVO; Brackmann aaO S. 484 v; Lauterbach aaO § 548 Anm 60; Podzun aaO Kennzahl 114 S. 1; Miesbach/Baumer, Die gesetzliche Unfallversicherung, § 548 Anm 52). Bereits nach diesen Grundsätzen, die auch für die gesetzliche Unfallversicherung der Schüler und Studenten gelten, ist der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Schulbesuch des Klägers und dem Streit mit der sich daraus ergebenden tätlichen Auseinandersetzung des Klägers mit dem Beigeladenen zu 1) gegeben. Nach den von der Revision insoweit nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG entstand der Streit dadurch, daß der Kläger, der zu einer Gruppe von Schülern gehörte, die früher schon anderen Schülern die Schultaschen durchsucht und die sich auch an der Schultasche des Beigeladenen zu 1) am Unfalltage zu schaffen gemacht hatten, von dem Beigeladenen zu 1) deswegen zur Rede gestellt wurde. Der Streit und die ihm folgende Schlägerei entstanden demnach unmittelbar aus dem Schulbesuch des Klägers und des Beigeladenen zu 1). Sowohl der Umstand, daß der Beigeladene zu 1) seine Schultasche unbeaufsichtigt in anderen Schülern zugänglichen Räumen liegenlassen mußte, als auch das Untersuchen der Schultasche durch andere Schüler ist dem Schulbesuch des Klägers und des Beigeladenen zu 1) zuzurechnen. Die besonderen Verhältnisse, die in einer Schule durch das Zusammensein vieler Kinder und jugendlicher Schüler geprägt sind, lassen auch den von der Revision angeführten Vergleich mit dem Durchsuchen des Gepäcks während einer Bahnfahrt oder der Garderobe während eines Theaterbesuchs nicht zu. Hinzu kommt, daß die Haftungsbereiche der Bundesbahn und des Theaters für die abgegebene Garderobe einen Vergleich mit dem Schutzbereich der gesetzlichen Schülerunfallversicherung nicht erlauben. Der Schulbesuch bildete demnach entgegen der Auffassung der Revision eine wesentliche Ursache für die in der Pause erlittenen Verletzungen des Klägers. Dies gilt unabhängig davon, ob es damals allgemein in den Schulen oder insbesondere an der vom Kläger besuchten Schule zu Diebstählen gekommen war; denn bereits das Durchsuchen und auch nur das Hineinschauen in eine Schultasche und die den Schülern während des Schulbesuchs typische Art, unmittelbar hierauf zu reagieren, begründen den ursächlichen inneren Zusammenhang zwischen einem daraus entstehenden Streit und dem Schulbesuch. Das Untersuchen von Schultaschen anderer Schüler ist somit nicht, wie die Revision meint, ein zwischen Schülern untypisches und wesentlich allein dem Charakter des Klägers zuzurechnendes Verhalten. Auch die Darstellung des der Prügelei vorausgegangenen Verhaltens des Klägers und des Beigeladenen zu 1) in den Strafakten, auf die der Beklagte verweist und auf die auch das LSG in seinem Urteil Bezug genommen hat, rechtfertigen keine andere versicherungsrechtliche Beurteilung. Es gehört zu dem typischen Gruppenverhalten von Schülern im Alter des Klägers und des Beigeladenen zu 1), daß sie bei Auseinandersetzungen der vorliegenden Art das Schubsen des Mitschülers dem sachlichen Gespräch vorziehen und ihr Verhalten hierbei in eine Schlägerei hineingleitet, die dann unmittelbar zu auch vom Schädiger nicht von Anfang an beabsichtigten Handlungen und sich daraus ergebenden schweren Verletzungen führt. Der Senat braucht wegen des ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Schulbesuch und dem Streit mit der daraus folgenden Schlägerei nicht zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen und innerhalb welcher Grenzen für Schüler bei Raufereien während des Schulbesuchs, die aber ihren Anlaß wesentlich im außerschulischen privaten Bereich haben, insbesondere wegen des Alters der Schüler und des Gruppenverhaltens während des Schulbesuchs der Versicherungsschutz nicht verlorengeht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen