Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärungspflicht
Orientierungssatz
Bleibt ein Bäckermeister nach einer Zusammenkunft der Bäckerei-Einkaufsgenossenschaft in einer Gaststätte auch nach dem Ende der Veranstaltung noch zweieinhalb Stunden in der Gastwirtschaft, um mit Berufskollegen über betriebliche Fragen zu sprechen und mit dem Gastwirt über Brotlieferungen zu verhandeln, so ist eine wesentliche betriebliche Verbundenheit für den Gaststättenaufenthalt gegeben. Eventuellen auftauchenden Zweifelsfragen hat das Gericht zur Aufklärung des Sachverhalts nachzugehen.
Normenkette
SGG § 103; RVO § 542
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.05.1955) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Mai 1955 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Bäckereinkaufs-Genossenschaft in Hof veranstaltete regelmäßig Mitgliederzusammenkünfte, die jeweils - mit Rücksicht auf Kundenbeziehungen - turnusgemäß in anderen Lokalen stattfanden. Zu einer solchen Zusammenkunft am 17. September 1951 in der außerhalb der Stadt gelegenen Gaststätte Jägersruh erschien auch der Bäckermeister B... mit dem die Klägerin damals verheiratet war. In der Einladung war er benachrichtigt worden, daß ihm auf dieser Zusammenkunft der Subventionsbetrag für Konsumbrot ausgezahlt werden sollte; außerdem wurden während des offiziellen Teils (17.00 bis 19.15 Uhr) Preisbestimmungen u.ä. bekanntgegeben. Während der Obermeister um 20.00 Uhr den Gasthof, in welchem Kirchweih gefeiert wurde, verließ, blieb P... mit anderen Bäckern noch dort. Gegen 22.00 Uhr fuhr er auf seinem Motorrad mit dem Bäckermeister H... als Sozius nach Hause. Auf der Straße befand sich in seiner Fahrtrichtung rechts eine beschrankte, mit drei roten Laternen gekennzeichnete Baustelle. Nach Zeugenaussagen fuhr P... mit hoher Geschwindigkeit ohne Bremsversuch oder Richtungsänderung "stur" gegen das Hindernis. Dabei wurde der Absperrbalken durchbrochen, das Motorrad und die beiden Fahrer flogen im Bogen durch die Luft und blieben über 30 m hinter der Stelle des Aufpralls liegen. B... starb noch in derselben Nacht. Dem schwerverletzten H... wurde später die Unfallentschädigung zuerkannt. Im Falle B... zog die Beklagte die Staatsanwaltsakten bei; darin befand sich folgende Bescheinigung des Erlanger Universitätsinstituts für Gerichtsmedizin vom 20. September 1951:
"Die Untersuchung der am 17. September 1951 entnommenen Blutprobe des Rudolf B... hat einen Alkoholgehalt von 1,52 ‰ ergeben. Hieraus ergibt sich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, daß P... z. Zt. des Unfalles um 22.10 Uhr nicht mehr in der Lage war, sein Motorrad mit der notwendigen Aufmerksamkeit und Sicherheit im Verkehr zu bewegen.
I.V. Dr. med. Sch...".
Durch Bescheid vom 10. Juni 1952 lehnte die Beklagte die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab: B... habe durch den privaten Gasthausaufenthalt von 19.15 bis 21.45 Uhr den Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit gelöst, außerdem sei er infolge Trunkenheit fahruntüchtig gewesen.
Das Oberversicherungsamt (OVA.) hat die Berufung der seit dem 15. Januar 1953 wieder verheirateten Klägerin durch Urteil vom 25. November 1953 zurückgewiesen.
Mit ihrem fristgerechten Rekurs, der nach § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Landessozialgericht (LSG.) übergegangen ist, hat die Klägerin geltend gemacht, das OVA. habe zu Unrecht angenommen, daß der Aufenthalt des P... in der J. von etwa 19.15 bis 22.00 Uhr privater Natur gewesen sei. Er habe vielmehr mit den dort noch anwesenden Kollegen betriebliche Fragen besprochen, ferner habe er noch versucht, mit dem Gastwirt H... (Inhaber der J.) über Lieferung von Backwaren zu verhandeln. Ferner hat die Klägerin gerügt, daß das OVA. allein aus der kurzen Bescheinigung des Gerichtsmedizinischen Instituts geschlossen habe, B... sei durch Alkoholgenuß fahruntüchtig gewesen. Dieses Beweismittel habe nicht ausgereicht, da aus den Verwaltungsakten hervorgehe, daß P... in der Jägersruh nur zwei Glas Bier getrunken habe; in der vorhergehenden Zeit habe er aber nichts Alkoholisches zu sich genommen. Das Ergebnis der Blutalkoholbestimmung müsse also auf einer Verwechslung oder auf einem technischen Fehler bei der Blutentnahme beruhen. Zum Nachweis über die von B... bei der Zusammenkunft genossene Alkoholmenge und über den Gegenstand der ab 19.15 Uhr geführten Gespräche hat die Klägerin dem LSG. drei schriftliche Zeugenerklärungen vorgelegt. Zusammenfassend wirft die Klägerin der Beklagten und dem OVA. vor, sie hätten bei der Beweiswürdigung den Grundsatz der Wahrscheinlichkeit nicht berücksichtigt.
Das LSG. hat mit Urteil vom 25. Mai 1955 die Berufung zurückgewiesen. Es sieht das an sich durch § 145 Nr. 2 SGG ausgeschlossene Rechtsmittel als zulässig nach § 150 Nr. 3 SGG an. Das LSG. bejaht den Versicherungsschutz für den offiziellen Teil der Bäckerversammlung, meint dagegen, das anschließende zweieinhalbstündige Zusammensein der Bäckermeister sei nicht betriebsbedingt gewesen; denn in dem Lokal sei Kirchweih gefeiert worden, die Pflege der allgemeinen Kundenbeziehungen zu Gastwirten unterliege nicht dem Versicherungsschutz. Der Gastwirt H... habe wegen der weiten Entfernung nicht Kunde des B... sein können. Ferner meint das LSG., der Betriebszusammenhang sei durch alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit gelöst. An der Objektivität des E. Gutachtens sei nicht zu zweifeln. Selbst bei fehlerhafter Alkoholbestimmung erlaube die Art des Unfalls sowie der Umstand, daß er sich zur Nachtzeit ereignete, keinen Zweifel an B... Fahruntüchtigkeit. B... Fahrweise lasse nur den einen Schluß zu, daß er seiner Sinne nicht mehr mächtig gewesen sei. Die Revision ist nicht zugelassen.
Gegen das am 15. Juni 1955 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 11. Juli 1955 Revision eingelegt und diese nach Fristverlängerung am 30. August 1955 begründet. Sie rügt Verfahrensfehler bei Sachaufklärung und Beweiswürdigung. Das LSG. habe die eingehende Sachdarstellung der Klägerin in der Berufungsinstanz überhaupt nicht berücksichtigt. Insoweit wiederholt sie ihr früheres Vorbringen zur Betätigung des B. in der Zeit von 19.15 bis 22.00 Uhr und über die Fragwürdigkeit der Blutalkoholbestimmung. Speziell zum zweiten Punkt bemängelt sie, daß der Bluttest nur nach Widmark und nicht auch nach dem ADH-Verfahren durchgeführt worden sei. Zur Fahrweise des B... verweist sie auf die in den Verwaltungsakten angedeutete Möglichkeit der Blendung durch eine an der Unfallstelle befindliche Straßenlaterne,. Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen und den angefochtenen Bescheid aufzuheben, den Unfall des P... als Arbeitsunfall anzuerkennen und der Klägerin die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen mit der Maßgabe, daß unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des OVA. als unzulässig verworfen wird.
Sie ist der Auffassung, die Berufung der Klägerin sei nach § 145 Nr. 2 SGG ausgeschlossen und auch nicht nach § 150 SGG zulässig gewesen. Den sachlichen Gründen der vorinstanzlichen Urteile tritt die Beklagte bei.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, weil die Klägerin wesentliche Mängel des Verfahrens zutreffend gerügt hat.
Das LSG. ist von einem Sachverhalt ausgegangen, dessen Richtigkeit in wesentlichen Punkten durch das Berufungsvorbringen der Klägerin in Frage gestellt war. Da das LSG. über dieses umfangreiche substantiierte Vorbringen ohne Erhebung der erforderlichen Beweise hinweggegangen ist, hat es - wie in der Revisionsbegründung mit Recht geltend gemacht wird - seiner Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG) nicht genügt.
Dies gilt zunächst für die Frage, ob der Aufenthalt des B... in Jägersruh nach Schluß der offiziellen Veranstaltung bis zum Antritt der Heimfahrt betrieblichen oder persönlichen Zwecken gegolten hat. Insoweit hat die Klägerin in der Berufung vorgetragen, B... habe nach dem Weggang des Innungsobermeisters gegen 20.00 Uhr mit Kollegen über Fragen seines Betriebes gesprochen, insbesondere über den neuangeschafften Elektrobackofen; sie hat hierfür die Zeugen W... und P... benannt und deren kurze schriftliche Erklärungen überreicht. Ferner hat die Klägerin behauptet, B... habe an diesem Abend versucht, mit dem Gastwirt H... über Brotlieferungen zu verhandeln. - Dieses ganze Vorbringen war schlüssig; denn bei Unterstellung seiner Richtigkeit erscheint es gerechtfertigt, eine wesentliche betriebliche Verbundenheit für den Gasthausaufenthalt des B... während der fraglichen zweieinhalb Stunden anzunehmen und demzufolge den Versicherungsschutz zu bejahen. Das LSG. hätte also durch Vernehmung der Zeugen den Sachverhalt aufklären müssen. Die Unterlassung dieser Sachaufklärung - verbunden mit der Unterstellung, wegen der weiten Entfernung wäre H... als Kunde des B... nicht in Betracht gekommen - bedeutet einen wesentlichen Mangel des Verfahrens.
Das LSG. hat ferner zu Unrecht ohne Beweiserhebung angenommen, alle Bäckermeister hätten nach Schluß des offiziellen Programms die Kirchweih in der Gaststätte Jägersruh mitgefeiert. Auch diese Unterstellung war unzulässig, weil die Klägerin - ebenfalls unter Vorlage einer kurzen Zeugenbescheinigung - vorgetragen hatte, die Bäckermeister seien während ihrer Zusammenkunft in einem besonderen Raum untergebracht gewesen.
Als unzulänglich erweist sich sodann auch die Erforschung des Sachverhalts bezüglich der Frage, ob P... durch alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit den Zusammenhang mit seiner betrieblichen Tätigkeit gelöst hatte. Das LSG., das sich insoweit lediglich auf die kurze Bescheinigung des Universitätsinstituts für Gerichtsmedizin in Erlangen gestützt hat, durfte die mit der Berufung erhobenen Einwände der Klägerin gegen die Zuverlässigkeit dieser Blutalkoholbestimmung nicht einfach übergehen. Nach dem vom erkennenden Senat vertretenen Standpunkt genügen allerdings zur Widerlegung der Fahruntüchtigkeit bei Feststellung einer Blutalkoholkonzentration von mehr als 1,5 ‰ nicht bloß allgemeine Zeugenbekundungen über die angebliche Fahrtüchtigkeit des Verunglückten (BSG. 3 S. 116 [120]). Auf solche ungenügende Beweismittel bezogen sich jedoch die Berufungseinwände der Klägerin nicht. Vielmehr hatte sie Umstände geltend gemacht, aus denen sich begründete Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Blutalkoholbestimmung ergeben konnten; B... habe an dem fraglichen Abend nur zwei Glas Bier getrunken (was auch durch mehrere Zeugenerklärungen bescheinigt wurde). Im Krankenhaus, in das zur Nachtzeit die beiden Schwerverletzten eingeliefert wurden, könnte bei dieser Situation die ärztliche Hilfe vorrangig gewesen und deshalb die Blutentnahme in der Eile nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit vorgenommen worden sein. Schließlich sei die Blutalkoholbestimmung nur nach dem Widmark-Verfahren und nicht auch noch zusätzlich nach dem ADH-Verfahren durchgeführt worden. - Durch diese Angaben hätte sich nach der Auffassung des Senats der Vorderrichter gedrängt fühlen müssen, eingehende Nachforschungen darüber anzustellen, ob das Ergebnis der Blutalkoholbestimmung von 1,52 ‰ im vorliegenden Fall eine tragfähige Grundlage für die Annahme einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit des B... bildete. Einwandfrei gesicherte, von technischen Fehlern unbeeinflußte Feststellungen sind unerläßlich, wenn das Ergebnis der Blutalkoholbestimmung mit seinen weitreichenden Folgen für die Entscheidung über die Frage des Versicherungsschutzes herangezogen werden soll (vgl. auch Hess. LSG. Breithaupt 1956 S. 129). Deshalb hatte das Berufungsvorbringen Rückfragen bei dem Stadtkrankenhaus in Hof und dem Gerichtsmedizinischen Institut in Erlangen erforderlich gemacht; auch hätte das LSG. Anlaß gehabt, sich über den Beweiswert des im Erlanger Institut angewandten Widmark-Verfahrens zu vergewissern (vgl. auch LSG. Schleswig, Breithaupt 1958 S. 415 [419]).
Auch die Fahrweise des Verunglückten, auf die in den Gründen des angefochtenen Urteils besonders nachdrücklich hingewiesen wird, erlaubte dem LSG. nicht die zwingende Schlußfolgerung, B... müsse seiner Sinne nicht mehr mächtig gewesen sein. Der Unfallhergang ist allerdings, wie das LSG. mit Recht festgestellt hat, in der Tat sehr auffällig. Er könnte sich indessen auch dadurch erklären, daß - wie der Augenzeuge V... in der Vernehmung vor dem Versicherungsamt am 23. Oktober 1951 bekundet hat - der Fahrer durch eine Straßenlaterne geblendet wurde. Mit dieser Bekundung hätte sich das LSG. auseinandersetzen, ggf. auch den Zeugen gerichtlich vernehmen lassen müssen.
Auf Grund der hiernach statthaften Revision ist der Senat gehalten, von Amts wegen die Zulässigkeit des von der Klägerin gegen die Entscheidung des OVA. eingelegten Rechtsmittels zu prüfen. Die Zulässigkeit ist sowohl nach dem früheren als auch nach dem jetzt geltenden Verfahrensrecht zu bejahen. Dem früheren Rekurs stand keiner der in § 1700 der Reichsversicherungsordnung aufgeführten Ausschlußgründe entgegen. Für die Berufung neuen Rechts könnte, da bereits das Urteil des OVA. nur noch Rente für einen abgelaufenen Zeitraum betraf, der Ausschluß des Rechtsmittels nach § 145 Nr. 2 SGG in Erwägung gezogen werden. Der Senat konnte dies jedoch unentschieden lassen, desgleichen die Frage, ob das LSG. die an sich ausgeschlossene Berufung mit Recht für zulässig gemäß § 150 Nr. 3 SGG gehalten hat. Denn auf jeden Fall war die Berufung nach § 150 Nr. 2 SGG zulässig, weil die Klägerin schon im Verfahren vor dem LSG. zutreffende Verfahrensrügen erhoben hatte, die sich sowohl auf die Frage der Fahruntüchtigkeit als auch darauf bezogen, daß die erstinstanzlichen Ermittlungen über die Betätigung des B... in den zweieinhalb Stunden vor der Heimfahrt nicht ausreichten. Das LSG. hat hiernach im Ergebnis zutreffend die Berufung der Klägerin als zulässig angesehen; der Revisionsantrag der Beklagten ist deshalb nicht gerechtfertigt.
Die Revision ist auch begründet; denn das angefochtene Urteil hätte anders ausfallen können, wenn das LSG. seiner Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts in dem erforderlichen Umfange nachgekommen wäre.
Da die Entscheidung von den noch zu treffenden tatsächlichen Feststellungen abhängt, ist der Senat nicht in der Lage, in der Sache selbst zu entscheiden. Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils mußte daher die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG. vorbehalten.
Fundstellen