Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff "Kind" iS sozialrechtlicher Vorschriften. Kindergeldanspruch für behinderte Kinder, deren Behinderung nach Vollendung des 27. Lebensjahres eintritt

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Begriff "Kind" iS sozialrechtlicher Vorschriften trifft - unbeschadet der lebenslangen Eltern-Kind-Beziehungen und der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtungen - nur auf solche Kinder zu, die ihren Lebensmittelpunkt in der Familie ihrer Eltern oder Erziehungsberechtigten haben oder - wenn sie selbst verheiratet sind - deren Ausbildung noch nicht beendet ist, so daß ihre Eltern weiterhin mit Unterhaltsleistungen belastet bleiben.

 

Orientierungssatz

Kein Kindergeldanspruch für behinderte Kinder, wenn die Behinderung nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

 

Normenkette

BKGG § 2 Abs. 4 Fassung: 1970-12-16, Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1975-12-18

 

Verfahrensgang

SG Nürnberg (Entscheidung vom 01.12.1976; Aktenzeichen S 9 Kg 26/76)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 1. Dezember 1976 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beigeladene, M L (L.), ist 1901, ihre Tochter K am 1. Juli 1932 geboren. Diese hat von 1952 bis 1969 - wohl mit Unterbrechungen - als Zimmermädchen gearbeitet. Sie erhält jedoch keine Sozialversicherungs-Rente, da die Wartezeit nicht erfüllt ist. Im Jahre 1966 machte die Tochter erstmals eine Alkoholentziehungskur. 1970 und 1973 wurde sie aus dem gleichen Grunde im Bezirkskrankenhaus E behandelt. Nach einem fachärztlichen Gutachten vom 23. August 1973 bedarf sie ständiger Lenkung und Überwachung in einem Heim mit fachlich geschultem Personal. Die Heimunterbringungskosten werden von dem Kläger überwiegend getragen.

Am 4./5. Februar 1975 beantragte der Kläger, der Beigeladenen Kindergeld für ihre Tochter K zu gewähren und das Kindergeld an ihn - den Kläger - auszuzahlen. Die Beigeladene persönlich stellte einen formularmäßigen Antrag am 20. Februar 1975. Das Arbeitsamt A gab diesen Anträgen mit Bescheid vom 12. August 1975 ab Januar 1975 statt; das Kindergeld wurde in voller Höhe an den Kläger ausgezahlt. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 19. Februar 1976 entzog das Arbeitsamt das Kindergeld ab Monat Januar 1975, da die Behinderung der Tochter K erst nach Vollendung ihres 27. Lebensjahres eingetreten sei. Der bereits gezahlte Betrag von 700,- DM wurde nicht zurückgefordert. Die Widersprüche der Beigeladenen und des Klägers wurden durch Bescheid vom 1. April 1976 zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 23. April, die Mutter M L. am 26. April 1976 Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat die Mutter beigeladen: diese nahm danach ihre Klage zurück. Durch Urteil vom 1. Dezember 1976 hat das SG den Bescheid des Arbeitsamtes A vom 19. Februar 1976 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 1. April 1976 aufgehoben; es hat die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, der Wortlaut des § 2 Abs 4 Satz 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) sei nicht eindeutig. Hätte der Gesetzgeber den Anspruch auf Kindergeld in Fällen der vorliegenden Art davon abhängig machen wollen, ob die Erwerbsunfähigkeit bereits vor der Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei, so hätte er in Beachtung der Gesetzessystematik alle in § 2 Absatz 2 BKGG aufgeführten Fälle in die Grundbestimmung des § 2 Abs 3 Satz 1 BKGG einbeziehen und eine gewollte weitergehende Sonderregelung in einer Ziffer 5 des § 2 Abs 3 BKGG verankern müssen. Diese Auslegung des Gerichts finde eine Stütze durch den Vergleich der Wortfassungen folgender analoger Rechtsnormen: § 45 Abs 3 c BVG, § 1262 Abs 2 Ziff 7 RVO, § 18 Abs 3 des Bayer. Besoldungsgesetzes (Bayer. BesG). Danach müsse die Behinderung spätestens bei Vollendung des 27. Lebensjahres vorgelegen haben bzw vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein. Diesen Normen sei zu entnehmen, daß der Gesetzgeber seinen Willen hinsichtlich der Notwendigkeit des zeitlichen Eintritts einer Anspruchsvoraussetzung immer deutlich zum Ausdruck gebracht habe. Zu dem gleichen Ergebnis sei auch der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in dem Rundschreiben vom 22. Oktober 1974 (GZ: 232 - 28 62.450) gekommen.

Die Beklagte hat mit Zustimmung des Klägers Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 2 Abs 4 iVm mit Abs 2 Nr 3 BKGG und trägt dazu vor, eine Berücksichtigung von Kindern, deren Behinderung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei, scheitere schon an dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs 4 Satz 1 BKGG (über... hinaus). Diesem eindeutigen Wortlaut ständen die gesetzessystematischen Überlegungen des erstinstanzlichen Urteils nicht entgegen. Das SG übersehe dabei, daß die in Abs 3 geregelten Fälle die Überschreitung des grundsätzlich als Grenze anzusehenden 27. Lebensjahres für einen genau abgegrenzten Zeitraum ausnahmsweise zuließen, während Abs 4 unter den gegebenen Voraussetzungen zu einer lebenslangen Gewährung von Kindergeld-Leistungen führen könne. Die in dem angefochtenen Urteil zur Begründung herangezogenen ausdrücklichen Regelungen der hier strittigen Frage bei anderen kindbezogenen Leistungen könnten die hier vertretene Auffassung nicht widerlegen, daß die aus dem Wortlaut des § 2 Abs 4 Satz 1 BKGG gewonnene Ansicht auch dem Willen des Gesetzgebers entspreche. Diese Auffassung entspreche auch dem Sinn und Zweck des Kindergeldes als einer Leistung, die speziell darauf abziele, die durch das Aufziehen von Kindern den Eltern typischerweise entstehenden wirtschaftlichen Belastungen zu mildern. Würde man der Auffassung des SG folgen, dann würde das Kindergeld zu einer allgemeinen Sozialleistung, die bei einer durch Unfall, Krankheit oder eine beliebige sonstige Ursache bedingten Behinderung mit gleichzeitiger Erwerbsunfähigkeit für Personen jeder Altersstufe während des ganzen Lebens beansprucht werden könnte. Für solche Notlagen sehe das Sozialsystem aber andere Sicherungen vor (zB gesetzliche Renten- und Unfallversicherung, Leistungen zur Rehabilitation; subsidiär die Sozialhilfe). Die in dem erwähnten Rundschreiben des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit geäußerte Ansicht sei inzwischen überholt.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt:

1.

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 1. Dezember 1976 wird zurückgewiesen.

2.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Er bezieht sich auf das nach seiner Ansicht zutreffende Urteil des SG und trägt weiter vor, § 2 Abs 3 BKGG regele abschließend die Fälle, in denen Kindergeld nur gewährt werde, wenn die Kinder das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Da die behinderten Kinder (i.S. des § 2 Nr 3 BKGG) in § 2 Abs 3 BKGG nicht erwähnt seien, könne § 2 Abs 4 BKGG nur dahingehend ausgelegt werden, daß gebrechliche Kinder, die das 27. Lebensjahr vollendet haben, zunächst auf Unterhaltsansprüche gegen den Ehegatten oder früheren Ehegatten zu verweisen seien und eine Kindergeldzahlung nur dann in Betracht komme, wenn kein Unterhaltsanspruch bestehe bzw der Unterhaltspflichtige außerstande sei, Unterhalt zu gewähren. Diese Auffassung werde auch durch die Bekanntmachung des Bayer. Staatsministeriums der Finanzen vom 11. Oktober 1974 (Az.: 23 - P 1500-47/62800, StAnz Nr 42/1974) bestätigt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die (Sprung-)Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 161, 164, 166 SGG); sie ist auch begründet. Der erkennende Senat hat bereits in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 23. Juni 1977 (8/12 RKg 7/77) mit ausführlicher Begründung entschieden, daß eine (zeitlich unbegrenzte) Gewährung von Kindergeld an behinderte Kinder grundsätzlich nur dann in Betracht kommt, wenn die Behinderung in ihren objektiven Voraussetzungen vor Vollendung des 27. Lebensjahres des Kindes eingetreten ist. Der vorliegende Fall gibt keine Veranlassung, von dieser Auffassung abzuweichen. Der Senat beschränkt sich darauf, die tragenden Grundsätze der Entscheidung vom 23. Juni 1977 wiederzugeben, zumal in der weiteren heute entschiedenen gleichgelagerten Sprungrevision, an der auch der Kläger - in 1. Instanz - beteiligt war, eine eingehende Begründung gegeben worden ist.

Nach § 2 Abs 4 BKGG wird ein Kind, das wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 2 Abs 2 Nr 3 BKGG), "über das 27. Lebensjahr hinaus" berücksichtigt, wenn es ledig oder verwitwet ist oder sein Ehegatte außerstande ist, es zu unterhalten. Schon der Wortlaut dieser Vorschrift deutet darauf hin, daß die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein muß (vgl auch § 33 b Abs 4 Satz 2 Buchst c BVG, § 18 Abs 3 BBesG aF), denn wenn ein Kind über ein bestimmtes Lebensalter "hinaus" berücksichtigt wird, so setzt das nach allgemeinem Sprachgebrauch voraus, daß ein Anspruch auf Kindergeld bereits vor diesem Zeitpunkt bestanden haben muß.

Der Hinweis des Klägers, wenn der Gesetzgeber eine derartige Regelung beabsichtigt hätte, dann hätte es nahegelegen, auch die in Abs 4 genannten Fälle in Abs 3 aufzunehmen, trifft nicht zu und trägt zur Lösung des hier vorliegenden Problems nichts bei. Die in Abs 3 genannten Fälle (Nrn 1, 2, 4 und 5 aus Abs 2) sind dadurch gekennzeichnet, daß der Anspruch auf Kindergeld grundsätzlich mit der Vollendung des 27. Lebensjahres endet, sofern nicht besondere Sachverhalte im Rahmen der Nr 1 vorliegen, die eine begrenzte und im Gesetz genau vorgeschriebene Überschreitung dieses Höchstalters in Fällen der Schul- oder Berufsausbildung zulassen. Dagegen ist bei den hier interessierenden Fällen der Behinderung unbestritten, daß das Kindergeld - abweichend von den sonstigen Fällen des Absatzes 3 - zeitlich unbegrenzt gewährt wird. Allein aus diesem Grunde mußte in Absatz 4 eine besondere gesetzliche Regelung erfolgen. Damit wird aber nicht die Ansicht des Klägers bestätigt, daß die zeitlich unbegrenzte Gewährung von Kindergeld auch dann Platz greift, wenn die Behinderung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

Die historische Entwicklung und der Ablauf der gesetzlichen Änderungen sprechen gleichfalls gegen die vom Kläger vertretene Auffassung. Nach § 2 Abs 2 Nr. 2 BKGG in der ursprünglichen Fassung vom 14. April 1964 (BGBl I, S. 265) waren Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, nur zu berücksichtigen, wenn sie wegen körperlicher oder geistiger Mängel außerstande waren, sich selbst zu unterhalten und unverheiratet waren. - Diese sogenannte Heiratsklausel ist später durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 27. Mai 1970 (vgl BVerfGE 28, 324) für verfassungswidrig erklärt worden. - In der Amtlichen Begründung (vgl BT-Drucks IV/818 vom 7. Dezember 1962) heißt es dazu, für gebrechliche Kinder solle - ebenso wie nach § 33 b Abs 3 Satz 2 Buchst b BVG, § 18 Abs 3 BBesG und § 265 Abs 2 LAG - in Zukunft keine Altersgrenze mehr gelten. Werden die genannten Vorschriften einer genauen Betrachtung unterzogen, dann zeigt sich, daß sowohl in § 33 b Abs 3 Satz 2 Buchst b BVG (in der damals geltenden Fassung des 1. NOG vom 27. Juni 1960, BGBl I S. 453) als auch in § 18 Abs 3 BBesG (in der Fassung vom 27. Juli 1957, BGBl I S. 993) ausdrücklich vorgeschrieben war, daß die Behinderung "bei" Vollendung des 18. Lebensjahres bestehen bzw "vor" Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sein mußte. Die anderslautende Regelung in § 265 Abs 2 LAG ist an so spezielle, einschränkende und in den meisten Fällen durch bloßen Zeitablauf sich erledigende Voraussetzungen geknüpft, daß sie nicht auf die vorliegende Regelung des BKGG übertragen werden kann.

Allenfalls könnte das Einkommensteuerreformgesetz (EstRG) vom 5. August 1974 (BGBl I S. 1769) einen Hinweis darauf geben, daß der (erstmalige) Eintritt der Behinderung nicht an die Höchstaltersgrenze des 27. Lebensjahres gebunden ist. Abgesehen davon aber, daß die Regelung in § 32 Abs 7 EStG nF nicht eindeutig erkennen läßt, ob ein "Wiederaufleben" der Berücksichtigungsfähigkeit gemeint ist, sofern bei Kindern eine dauernde Behinderung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eintritt, oder ob Abs 7 Nr 2 nur eine "Fortsetzung" der in Abs 6 Nr 6 getroffenen Regelung für behinderte Kinder darstellt, ist zu beachten, daß die zivil- und steuergesetzliche Regelung nicht unbedingt mit der sozialrechtlichen Regelung übereinstimmen muß und daß eine zeitliche Begrenzung im Sozialrecht gerade in den hier einschlägigen Fällen durchaus üblich ist (vgl § 33 b Abs 4 Satz 2 Buchst c BVG und insbesondere §§ 1262 Abs 3, 1267 Satz 2, 583 Abs 3, 595 Abs 2 RVO; § 44 Satz 2 AVG). Zu der letztgenannten Vorschrift hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 18. Juni 1975 (BVerfGE 40, 121 = NJW 1975, 1691) ausgesprochen, daß es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, daß Waisen, die sich infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen nicht selbst unterhalten können, Waisenrente aus der Angestelltenversicherung nur bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres erhalten. Ist aber eine (absolute) Höchstaltersgrenze mit den sozialen Grundnormen durchaus vereinbar, dann kann aus einer steuerrechtlichen Regelung ein zwingender Rückschluß auf die Auslegung und Anwendung von sozialrechtlichen Normen jedenfalls dann nicht gezogen werden, wenn andere Sozialrechtsnormen für vergleichbare Fälle (Behinderte) eine eindeutige und einschränkende Regelung enthalten. Durch das mehrfach erwähnte Gemeinsame Rundschreiben des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit und des Bundesministers des Innern vom 22. Oktober 1974 (GZ: 232-2862.450 bzw D II 4-221 972/1 - Rdnr 7.4.2.) konnte die Rechtslage, die sich bei richtiger Gesetzesanwendung ergibt, nicht in dem vom Kläger erstrebten Sinne geändert werden, ganz abgesehen davon, daß dieses Rundschreiben inzwischen offenbar überholt ist. Das gleiche gilt für die vom Kläger genannte Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen.

Der Sinn und der Zweck der gesamten Kindergeldregelung sprechen gleichfalls gegen die vom Kläger vertretene Auffassung. Das Kindergeld als staatliche Leistung soll es (vorzugsweise) den Eltern bzw. den sonst nach §§ 1 und 2 BKGG Anspruchsberechtigten erleichtern, ihre Kinder zu erziehen und ihnen eine angemessene und abgeschlossene Berufsausbildung zukommen zu lassen. Diese Aufgabe wird nicht mehr allein als private (familienrechtliche) Angelegenheit, sondern als wichtige gesellschaftliche (staatliche) Verpflichtung eines sozialen Rechtsstaates angesehen. Der Staat ist jedoch nicht gehalten, jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen oder jeden Unterhaltsleistenden finanziell zu entlasten (vgl BVerfGE 23, 258, 264; 28, 104, 113, 114). Daß alleiniger Bezugspunkt die familiären Belastungen durch die Erziehung und Berufsausbildung der Kinder sind, wird durch die wechselvolle Entwicklung der maßgebenden Vorschriften und die in verschiedener Weise erfolgte Anhebung der Höchstaltersgrenzen bestätigt. Zugleich wird damit ein weiteres impliziert: Der Begriff "Kind" trifft - unbeschadet der lebenslangen Eltern-Kind-Beziehungen und der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtungen - nur auf solche Kinder zu, die ihren Lebensmittelpunkt (in Bezug auf Erziehung und Ausbildung) in der Familie ihrer Eltern oder Erziehungsberechtigten haben, oder die, wenn sie selbst verheiratet sind, ihre Ausbildung noch nicht beendet haben, so daß ihre Eltern weiterhin mit Unterhaltszahlungen belastet bleiben.

Von diesem Ausgangspunkt her ist es durchaus sachgerecht und entspricht dem Schutzgedanken des Art 6 Abs 1 GG, wenn die vermehrten wirtschaftlichen Belastungen nur bei Familien mit solchen behinderten Kindern ausgeglichen werden, die entweder von vornherein schwerbehindert waren oder die innerhalb oder unmittelbar nach Beendigung ihrer Ausbildung, jedoch noch innerhalb der vom Gesetzgeber vorgesehenen Ausbildungs-Höchstgrenze schwerbehindert geworden sind. Auch bei diesen Kindern kann der Gesetzgeber bei der gebotenen typisierenden Betrachtungsweise (vgl BVerfGE 40, 121, 135) davon ausgehen, daß die Kinder entweder in die Familie zurückkehren oder daß das Familiengefühl die weitere Betreuung, auch unter finanziellen Opfern, zu einer zwingenden Notwendigkeit oder gar Selbstverständlichkeit macht. Wesentlich anders ist jedoch die Sachlage, wenn das Kind ins Leben getreten ist, eine Erwerbstätigkeit ausgeübt oder gar eine eigene Familie gegründet hat. Hier ist nicht nur der Bezugspunkt der früheren Familie weitgehend in den Hintergrund getreten, sondern der Gesetzgeber kann auch davon ausgehen, daß das "Kind" im Regelfall durch eigene Arbeitsleistung eine eigenständige soziale Sicherung (zb Krankenversicherung, Rentenversicherung) erworben hat. Wenn das bei der Tochter der Beigeladenen, die nach dem Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten, auf die sich das SG bezogen hat (Urt. S. 1), von 1952 bis 1969 - wohl mit Unterbrechungen als Zimmermädchen gearbeitet hat, wegen Nichterfüllung der Wartezeit nicht der Fall ist, so kann dieser Umstand - wiederum bei der gebotenen typisierenden Betrachtungsweise - an der grundsätzlichen Beschränkung der Anspruchsberechtigung nichts ändern. Ob das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I S. 1061) der Tochter evtl. einen Sozialversicherungsanspruch gibt, war hier nicht zu erörtern.

Gewiß gehört die Fürsorge für Hilfsbedürftige und Behinderte zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates (vgl. BVerfGE 40, 121, 133). Diese Pflicht gebietet es jedoch nicht, neben der zeitlich unbegrenzten Leistung für Kinder, deren Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist, auch auf jede zeitliche Begrenzung hinsichtlich des Eintritts der Behinderung zu verzichten. Eine derartige Pflicht besteht um so weniger, da der Staat in diesem Falle und in vergleichbaren Fällen - die nicht typischerweise das Eltern-Kind-Verhältnis betreffen - andere staatliche Hilfen in ausreichendem Maße zur Verfügung stellt. Speziell für Behinderte sind die Eingliederungshilfe (§§ 39 ff Bundessozialhilfegesetz - BSHG -) und die Hilfe zur Pflege (§§ 68 ff BSHG) vorgesehen (vgl BVerfGE aaO). Diese Hilfen sind schon von der gesetzlichen Aufgabenstellung her so umfassend und kostenaufwendig, daß daneben das Kindergeld kaum ins Gewicht fällt. In vielen Fällen dieser Art tritt überdies keine Entlastung der Eltern ein, sondern es ergibt sich lediglich ein Ausgleichseffekt zwischen zwei öffentlichen Leistungsträgern bzw öffentlichen Kassen.

Nach den Feststellungen des SG, die von der Revision nicht angegriffen und somit gemäß § 163 SGG für den Senat bindend sind, ist die ständige Behinderung der Tochter der Beigeladenen mit der Folge, daß die Tochter ständig in einem Heim betreut werden muß, erst nach Vollendung ihres 27. Lebensjahres eingetreten. Da die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld an die Beigeladene für ihr Tochter K somit nicht vorliegen, war die Beklagte gemäß § 22 BKGG berechtigt, das Kindergeld von Amts wegen zu entziehen. Auf ihre Revision war das anderslautende Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653278

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge