Leitsatz (amtlich)

Fachschulen iS des § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b AVG (= § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b RVO) waren, solange das vom Bundesarbeitsministerium herausgegebene "Fachschulverzeichnis für berufsbildende Schulen" galt, nicht nur die dort aufgeführten Fachschulen im engeren Sinn, die eine praktische Berufsvorbildung oder berufspraktische Tätigkeit voraussetzten, sondern auch die dort aufgeführten Berufsfachschulen, für deren Besuch keine Berufsvorbereitung gefordert wurde.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.04.1986; Aktenzeichen L 13 An 115/85)

SG Bayreuth (Entscheidung vom 20.05.1985; Aktenzeichen S 10 An 35/85)

 

Tatbestand

Im Prozeß geht es um die Frage, ob der Besuch einer bestimmten Schule als "weitere Schulausbildung" oder als "Fachschulausbildung" iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) zu bewerten ist.

Die im Jahr 1937 geborene Klägerin besuchte von September 1952 an die Städtische Höhere Handelsschule in B; sie schied im November 1954 ohne Abschluß aus der Klasse 2a aus, um in das Berufsleben überzutreten. Mit einem im September 1984 gestellten Antrag auf Kontenklärung machte sie den Schulbesuch für die Zeit von Dezember 1953 (Vollendung des 16. Lebensjahres) an als Ausfallzeit geltend. Mit Bescheid vom 22. Oktober 1984 teilte die Beklagte der Klägerin mit, die Zeit vom 13. Dezember 1953 bis zum 19. November 1954 sei als anschlußwahrende Zeit der Fachschulausbildung vorgemerkt, sei jedoch keine Ausfallzeit, weil die Ausbildung nicht abgeschlossen worden sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.

Das Sozialgericht Bayreuth (SG) hat mit Urteil vom 20. Mai 1985 die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hin hat das Landessozialgericht (LSG) Urteil und Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die genannte Zeit als Ausfallzeit der Schulausbildung vorzumerken. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Daß die Rechtsprechung die Ausbildungen im wesentlichen nach der Art der Bildungsstätte unterscheide, schließe es nicht aus, daß auch eine Ausbildung außerhalb der weiterführenden Schulen eine Schulausbildung sein könne, wenn sie zumindest annähernd der auf den weiterführenden Schulen entspreche. Die streitige Ausbildung habe den Charakter einer solchen Ausbildung gehabt. Die Klägerin sei auch in Fächern unterrichtet worden, die üblicherweise an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet würden; Ausbildungsziel sei die mittlere Reife gewesen. Die weitere Unterrichtung in anderen Fächern stehe nicht entgegen. Demgegenüber sei nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Begriff der Fachschulausbildung im wesentlichen so auszulegen, wie er in dem Fachschulverzeichnis des Bundesministeriums für Arbeit verstanden werde; nach diesem Verzeichnis seien Fachschulen berufsbildende Schulen, deren Besuch eine ausreichende praktische Berufsvorbildung oder mindestens berufspraktische Tätigkeit voraussetze; für die hier besuchte Höhere Handelsschule sei das nicht gefordert worden.

Mit der zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor: Nach dem Fachschulverzeichnis bauten die Fachschulen zwar in der Regel auf einer solchen Berufsvorbereitung auf; in manchen Fällen genüge aber auch eine schulische Vorbildung mit Volks- oder Mittelschulabschluß oder Obersekundareife. Die von der Klägerin besuchte Schule sei im Fachschulverzeichnis als Fachschule namentlich aufgeführt; ihre vorrangige Aufgabe sei nicht die Vermittlung von Allgemeinbildung, sondern die Vorbereitung auf einen Beruf gewesen; der Schulabschluß habe lediglich die mittlere Reife eingeschlossen.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Entgegen der Auffassung des LSG kann die streitige Ausbildung nicht als Ausfallzeit iS des § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG vorgemerkt werden, weil sie keine "weitere Schulausbildung", sondern eine "Fachschulausbildung" gewesen ist, bei der zur Anerkennung als Ausfallzeit ein Abschluß erforderlich ist, der hier fehlt.

Die in § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG genannten Schul-, Fachschul- und Hochschulausbildungen hat die Rechtsprechung im wesentlichen und jedenfalls bei Inlandsausbildungen in erster Linie nach dem Status der Bildungsstätte und daneben nach der Art und dem Inhalt der Ausbildung abgegrenzt (SozR 2200 § 1259 Nrn 52, 62, 80, 86). Dabei wurde hervorgehoben, daß für die Schulausbildung die Vermittlung von Allgemeinbildung und für die Fachschulausbildung die von Berufsbildung kennzeichnend ist (SozR aaO Nr 75, 80, 86). Dementsprechend wurde Schulausbildung beim Besuch allgemeinbildender einschließlich weiterführender Schulen wie Real-, Mittel- und Oberschulen (SozR Nr 23 zu § 1259 RVO) bzw Volks- und Sonderschulen, Mittel- und Höheren Schulen (SozR 2200 Nr 75) angenommen; im einzelnen wurde eine Schulausbildung beim Besuch einer Wirtschaftsoberschule bejaht (aaO Nr 86), bei Abendschulen für möglich erklärt (aaO Nr 25) und für einen Lehrgang einer Heimvolkshochschule verneint (SozR Nr 23 zu § 1259 RVO). Der Begriff der Fachschulausbildung wurde im wesentlichen so ausgelegt, wie er in dem früheren "Fachschulverzeichnis für berufsbildende Schulen in der Bundesrepublik Deutschland", im Jahre 1956 herausgegeben vom Bundesarbeitsministerium (Hanow/Lehmann, Kommentar zur RVO, Rz 58 zu § 1259 RVO) und auch in Beschlüssen der Kultusministerkonferenz verstanden worden ist (SozR Nr 49 zu § 1259 RVO; SozR 2200 § 1259 Nr 62, 75, 76), wobei neue Definitionen der Kultusministerkonferenz von 1975 nicht rückbezogen wurden (aaO Nr 76). Dementsprechend wurde Fachschulausbildung bei berufsbildenden Schulen wie insbesondere Berufsschulen, Berufsfachschulen und Fachschulen (SozR 2200 § 1259 Nr 75) angenommen; im einzelnen wurde eine Fachschulausbildung beim Besuch einer Höheren Wirtschaftsfachschule (SozR aaO Nr 75) und einer Städtischen Höheren Handelsschule (SozR aaO Nr 86 S 230 f) bejaht. Im ersteren Falle wurde es für unerheblich erklärt, daß mit der Vorprüfung zugleich die fachgebundene Hochschulreife zuerkannt wurde. Wiederholt war von der Rechtsprechung der Umstand zu würdigen, daß an der Schule nicht nur jeweils allgemeinbildende oder berufsbezogene Fächer, sondern beide nebeneinander gelehrt wurden (SozR aaO Nrn 75, 80, 86); in solchen Fällen wurde der Charakter der Ausbildung danach bestimmt, ob die vorrangige Aufgabe der Schule die Förderung der Allgemeinbildung oder die der Berufsbildung war.

Geht man von diesen in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen aus, so ergibt sich, daß die von der Klägerin besuchte Schule ihrem Status nach eine Fachschule iS des § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG gewesen ist. Die Städtische Höhere Handelsschule in B ist in dem Fachschulverzeichnis als Berufsfachschule, 3-klassige Höhere Handelsschule aufgeführt, die der grundlegenden Vorbereitung für kaufmännische oder Verwaltungsberufe dient und mit einer der früheren mittleren Reife entsprechenden Abschlußprüfung endet. Hierzu ist festzustellen, daß das Fachschulverzeichnis den Begriff der Fachschule in einem weiteren und in einem engeren Sinne (als eine von mehreren Fachschulformen) verwendet, wobei im letzteren Falle eine ausreichende praktische Berufsvorbildung oder berufspraktische Tätigkeit in der Regel Voraussetzung des Fachschulbesuchs ist. Der Senat hat jedoch schon früher deutlich gemacht (SozR 2200 § 1259 Nr 75), daß der Fachschulbegriff des § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG nicht auf solche Fachschulen im engeren Sinne zu begrenzen ist, vielmehr auch andere berufsbildende Schulen wie die Berufsfachschulen einschließt. Hierbei kommt es nicht auf die für den Besuch jeweils geforderte Voraussetzung an, so daß auch ein Volksschulbesuch ohne weitere Berufsvorbereitung genügen kann. Außer nach dem Fachschulverzeichnis hatte die Schule der Klägerin auch nach dem Schreiben der Schule vom 26. April 1985 und der Auskunft des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus vom 10. Dezember 1985 eindeutig den Charakter einer Berufsfachschule. Wenn das Ministerium aus diesem Umstand schließt, die Schule sei keine Fachschule iS des § 36 AVG, dann stellt das eine über die Statusfeststellung hinausgehende Rechtsmeinung dar, die den Unterschied zwischen der Fachschule im weiteren und im Sinne des § 36 AVG einerseits und der Fachschule im engeren, schultechnischen Sinne andererseits außer Acht läßt.

Im weiteren war aber auch die vorrangige Aufgabe der Schule die Förderung von Berufsbildung und nicht die der Allgemeinbildung. Dies kommt schon in der Beschreibung im Fachschulverzeichnis zum Ausdruck. Aber auch nach dem Schreiben der Schule vom 26. April 1983 sollte der Besuch der Schule eine besondere Qualifikation für das Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung vermitteln und auf eine entsprechende berufliche Tätigkeit vorbereiten. Die Schule sollte zwar nach der Auswahl der Unterrichtsfächer ebenfalls die Allgemeinbildung fördern, was ua auch darin zum Ausdruck kommt, daß ihr Abschlußzeugnis der früheren mittleren Reife (einem Schulabschluß der allgemeinbildenden Schule) entsprach. Nach den "einheitlichen Begriffsbestimmungen im deutschen Schulwesen" (im Einführungsteil des Fachschulverzeichnisses) "beschränken" sich aber allgemeinbildende Schulen auf denjenigen Teil der Bildung, die für jeden Menschen gefordert wird, während berufsbildende Schulen sich "in erster Linie" mit der beruflichen Ausbildung und Fortbildung ihrer Schüler befassen, also offenbar auch Raum für einen allgemeinbildenden Teil lassen. Die Mitunterrichtung in allgemeinbildenden Fächern steht daher der Wertung als Fachschule nicht entgegen, wenn die vorrangige Aufgabe der Schule - wie im vorliegenden Falle - die Vermittlung von Berufsbildung gewesen ist.

Dem Ergebnis stehen frühere, im Rechtsstreit näher erörterte Entscheidungen des BSG nicht entgegen. Das LSG hat seine Entscheidung auf das Urteil in SozR Nr 23 zu § 1259 RVO gestützt, wo es ua heißt, daß auch die Zeit einer Ausbildung in einer anderen Bildungsstätte als den weiterführenden Schulen dann Ausfallzeit sein könne, wenn eine derartige Ausbildung zumindest annähernd derjenigen auf weiterführenden Schulen entspricht. Diese sehr allgemein gehaltenen Ausführungen bezogen sich auf einen Lehrgang an einer Volkshochschule, bei dem eine Wertung als Fachschulausbildung von vornherein nicht in Betracht kam und nur die Einordnung als Schulausbildung zu erörtern war. Für die hier vorzunehmende Abgrenzung zwischen einer Schulausbildung und einer Fachschulausbildung ist es auch nicht von wesentlicher Bedeutung, daß in der Entscheidung SozR 2200 § 1259 Nr 86 eine Wirtschaftsoberschule in den Jahren 1950 bis 1953 nicht als Fachschule iS des § 36 AVG angesehen wurde, obwohl das Fachschulverzeichnis die Wirtschaftsoberschulen als berufsbildende Schulen bezeichnet. Denn einmal beruht dieses Urteil auf einer Einordnung der Schule durch nichtrevisibles Landesrecht, zum anderen äußert das Fachschulverzeichnis selbst Zweifel an dem Charakter der Wirtschaftsoberschulen, die "eine Zwischenstellung zwischen Berufsfachschulen und Höheren Schulen ein(nehmen)".

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665193

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge