Leitsatz (amtlich)
Hat ein Stiefvater das Stiefkind in den gemeinsamen Haushalt aufgenommen und ihm während der Jahre des Heranwachsens dort Unterhalt gewährt, so ist daraus allein noch nicht zu schließen, daß der Stiefvater ihm auch die Mittel für die spätere Berufsausbildung freiwillig als "dritter" zur Verfügung stellt (AVAVG § 137 Abs 1).
Normenkette
AVAVG § 137 Abs. 1 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Mai 1960 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger, 1943 außerehelich geboren, lebt mit seiner Mutter und zwei jüngeren Halbbrüdern im Haushalt seines Stiefvaters. Dieser ist Dachdecker mit einem Monatsverdienst von unter 400,- DM netto; Steuermäßigung wurde ihm vom Finanzamt auch für den Kläger gewährt. Dessen leiblicher Vater ist am 30. März 1957 verstorben. Vom 1. April 1957 bis zum 31. März 1960 durchlief der Kläger die Lehre als Bauschlosser. Das Kreisjugendamt beantragte als Amtsvormund für ihn eine Ausbildungsbeihilfe aus Mitteln der Arbeitsverwaltung; sie wurde abgelehnt (Bescheid vom 5. Juli 1957), weil der Kläger wegen des Einkommens seines Stiefvaters nicht bedürftig sei. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 2. September 1957).
Auf Klage hin hob das Sozialgericht (SG) die angefochtenen Bescheide auf (Urteil vom 4. März 1958). Die Beklagte habe bei ihrer Entscheidung über Gewährung einer Ausbildungsbeihilfe gegen die Grundsätze des freien Ermessens verstoßen. Sie sei deshalb gehalten, den Antrag des Klägers noch einmal zu überprüfen und einen neuen Bescheid zu erteilen. Die Berufung der Beklagten hiergegen wurde vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 27. Mai 1960). Über den Antrag des Klägers sei nach den Richtlinien des Verwaltungsrates der Beklagten in der Fassung vom 9. März 1956 zu entscheiden gewesen. Danach könne nur das Einkommen von Verwandten in gerader Linie als nach dem bürgerlichen Recht "zum Unterhalt Verpflichteten" bei der Bedürftigkeitsprüfung angerechnet werden. Soweit der Präsident der Beklagten zur Durchführung der Richtlinien in seinem Erlaß vom 14. Juni 1957 bestimmt habe, daß auch das Einkommen des Stiefvaters heranzuziehen sei, überschreite er die ihm durch § 28 der Richtlinien gegebenen Befugnisse, da ihm nicht das Recht zustehe, den Kreis der Personen zu erweitern, deren Einkommen bei der Gewährung einer Beihilfe zu berücksichtigen sei. Die Verwaltungsakte der Beklagten sei deshalb rechtswidrig. Sie könne sich auch nicht darauf berufen, daß dem Kläger die für seine Berufsausbildung erforderlichen Mittel von Dritten, nämlich von seinem Stiefvater, zur Verfügung gestellt worden seien. Dieser habe den Kläger nur unterhalten, weil er sich in einer Zwangslage befand und dessen vorgesehene Berufsausbildung nicht gefährden wollte. Die Hergabe der Geldmittel durch ihn habe mithin nicht auf seiner freien Willensentschließung beruht.
Revision wurde zugelassen.
II.
Gegen das am 27. Juni 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22. Juli Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist (§ 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) am 22. September 1960 begründet. Sie rügt Verstöße gegen die §§ 103, 128 SGG sowie gegen die §§ 131, 137, 138 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in der vom 1. April 1957 an geltenden Fassung. Unter Wiederholung ihres Vorbringens aus der Berufungsinstanz über die Anrechenbarkeit stiefväterlichen Einkommens bezieht sich die Beklagte auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 10. Februar 1960 - BVerwG V C 262.57), der zufolge in der Regel eine Vermutung dafür spreche, daß der Stiefvater dem Stiefkind Unterhalt gewähren wolle, wenn ein voreheliches Kind bei der Verheiratung der Mutter in den gemeinsamen Haushalt aufgenommen werde. Dies sei beim Kläger der Fall gewesen. Es sei nicht bekannt geworden, daß für ihn während der Kinderzeit jemals öffentliche Mittel beansprucht worden seien. Für ihn habe also der Stiefvater durch konkludente Handlung seinerzeit die Unterhaltspflicht übernommen, und nur aus triftigen Gründen könne er sich aus dieser einmal übernommenen Verpflichtung wieder lösen. Solche seien indessen nicht vorhanden, auch nicht für die Zeit vom Beginn der Berufsausbildung an. Für seine andere, den allgemeinen Erfahrungen des täglichen Lebens entgegenstehende Auffassung hätte das LSG tatsächliche Feststellungen treffen, insbesondere den Stiefvater zum Sachverhalt vernehmen müssen. Daran fehle es jedoch.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG vom 4. März 1958 die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Begriff der "zum Unterhalt Verpflichteten" in Nr. 12 der Richtlinien des Verwaltungsrats der Beklagten sei vom Berufungsgericht richtig ausgelegt worden. Darunter fielen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zufolge nur die nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts hierzu Verpflichteten, nicht also der Stiefvater. Die Feststellung des LSG, dieser habe dem Kläger nicht freiwillig die Mittel für dessen Berufsausbildung zur Verfügung gestellt, gründe sich auf die zutreffende Würdigung der Familien- und Einkommensverhältnisse, beruhe auf eigener Sachkunde des Gerichts und entspreche der Lebenserfahrung. Selbst wenn der Stiefvater vielleicht für die Zeit der Kindheit dem Kläger zunächst Unterhalt freiwillig gewährt haben sollte, könne dies nicht auch für die Jahre der Berufsausbildung mit ihrem erhöhten Aufwand und Bedarf gelten. Zwischen beiden Lebensabschnitten bestehe eine zu beachtende Zäsur.
III.
Die Revision ist statthaft, zulässig und begründet.
Gesetzliche Grundlage für die Gewährung von Ausbildungsbeihilfen aus Mitteln der Beklagten bilden die §§ 131, 137 und 138 AVAVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1957 (BGBl I 321). Nach § 137 AVAVG, der auch für die Förderungsmaßnahmen bei Schulabgängern gilt, darf die Förderung nur gewährt werden, wenn die erforderlichen Mittel dem Antragsteller nicht oder nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen und auch nicht von Dritten zur Verfügung gestellt werden. Maßgebend sind dabei im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung des § 138 Abs. 1 AVAVG für den vorliegenden Fall die "Richtlinien des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung für die Gewährung von Ausbildungsbeihilfen" vom 11. November 1953 i. d. F. vom 9. März 1956 (ANBA 1957, 95 ff). Nach diesen Richtlinien sind individuelle Beihilfen zur Durchführung einer geregelten Berufsausbildung zulässig, falls - neben anderen hier nicht fraglichen Voraussetzungen - die Bedürftigkeit zu bejahen ist. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger kein Vermögen besitzt, nicht über die für eine Berufsausbildung erforderlichen Mittel verfügt und diese auch nicht von seinen Verwandten erhalten kann. Es ist in diesem Zusammenhang zutreffend davon ausgegangen, daß der Stiefvater des Klägers diesem nicht unterhaltsverpflichtet ist, weil er mit ihm nicht in gerader Linie verwandt ist, wie § 1601 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) für die Unterhaltspflicht voraussetzt. Nr. 12 der Richtlinien des Verwaltungsrats der Beklagten eröffnet deshalb nicht die rechtliche Möglichkeit, das Einkommen des Stiefvaters bei der Bedürftigkeitsprüfung anzurechnen, weil sie allein auf Einkünfte "des zum Unterhalt Verpflichteten" abstellt. Der Präsident der Beklagten aber war nicht ermächtigt, in seinem Erlaß vom 25. Juli 1957 im Einzelfall ein Kindschaftsverhältnis wie bei leiblichen Eltern zu unterstellen und anzuordnen, daß das Einkommen des Stiefvaters zu berücksichtigen sei, da eine solche Weisung nicht die Durchführung inhaltlich festliegender Richtlinien betraf, sondern ihre Erweiterung durch Einbeziehung eines Personenkreises bewirkte, dessen Einkommen dort freigelassen war. Eine derartige Befugnis aber ist in Nr. 28 der Richtlinien nicht enthalten.
IV.
Vorliegend ist deshalb allein entscheidend, ob dem Kläger die für die Berufsausbildung erforderlichen Mittel vom Stiefvater als Drittem, nicht von Gesetzes wegen Unterhaltspflichtigem, zur Verfügung gestellt worden sind (§ 137 Abs. 1 AVAVG). Dies kann nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. SozR § 137 AVAVG Blatt Ba 1 Nr. 1) einmal dadurch erfolgt sein, daß der Stiefvater ausdrücklich - etwa auch ohne die für ein förmliches Schenkungsversprechen sonst vorgeschriebene Beurkundung (§ 518 BGB) - oder stillschweigend eine Unterhaltsverpflichtung übernommen hat, zum anderen dadurch, daß er die Mittel aus freien Stücken tatsächlich gewährt, ohne irgendwie dazu verpflichtet zu sein. Alle diese Merkmale müssen indessen jeweils unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles des näheren geprüft werden. Deshalb ist allerdings ein Mangel in der Sachaufklärung darin zu erblicken, daß das LSG allein im Hinblick auf die Familien- und Einkommensverhältnisse die freiwillige Hergabe der Geldmittel durch den Stiefvater verneint hat, ohne ihn darüber zu hören. Das LSG durfte insoweit nicht von einer bloßen Vermutung oder Unterstellung ausgehen, sondern mußte hierzu tatsächliche Feststellungen treffen. Auch beengte wirtschaftliche Verhältnisse schließen nämlich nach den Erfahrungen des Lebens nicht schlechthin aus, daß Mitglieder einer Familie - im weiteren Sinne - außergewöhnliche Einschränkungen auf sich nehmen, um einen Angehörigen besonders zu fördern, zumal wenn diesem damit eine Berufsgrundlage geschaffen wird. Eine solche Möglichkeit wäre zu erörtern gewesen.
Andererseits ist aus dem Umstand, daß ein Stiefvater das Stiefkind in den gemeinsamen Haushalt aufgenommen und ihm während der Jahre des Heranwachsens dort Unterhalt gewährt allein noch nicht zu schließen, daß der Stiefvater ihm auch die Mittel für die spätere Berufsausbildung als "Dritter" freiwillig zur Verfügung stellt. Im vorliegenden Fall spricht gegen die abweichende, von der Beklagten unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG E 10, 143 ff) vertretene Auffassung vor allem, daß der leibliche Vater des Klägers noch bis zum 30. März 1957 am Leben und seinerseits nach §§ 1708 ff BGB unterhaltspflichtig war. Außerdem bezog sich die im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellte Vermutung lediglich auf den Unterhalt eines noch schulpflichtigen (10 jährigen) Kindes. Ferner war dort eine zeitliche oder sachliche Begrenzung jener freiwilligen Unterhaltspflicht aus triftigen Gründen, die schon in einer Vermehrung der Ausgaben des Familienvaters liegen können, ausdrücklich anerkannt worden. Nun bestehen aber in den verschiedenen Lebensabschnitten für die Unterhaltsgewährung nach Art und Ausmaß wesentliche Unterschiede. Ein Schulkind ist in der Regel in einem Haushalt billiger mitzuunterhalten als ein Berufsanfänger, für den von Beginn der Lehrzeit an üblicherweise ein höherer Bedarf an Nahrung und Kleidung sowie darüber hinaus laufend zusätzliche Aufwendungen für Lehrmittel u. dgl. erforderlich sind. Mithin können gerade zu diesem Zeitpunkt beachtliche Rücktrittsgründe wirksam werden.
V.
Nach alledem ist letztlich bislang weder geklärt, ob im Zeitpunkt des Antrags auf Ausbildungsbeihilfe eine Unterhaltsverpflichtung des Stiefvaters gegeben war, noch, ob dieser die Kosten für die Berufsausbildung des Klägers freiwillig oder nur "notgedrungen" bestritten hat, weil von keiner anderen Seite hierfür Leistungen erbracht wurden.
Da diesbezügliche Tatsachenfeststellungen des LSG fehlen, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglichen, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt diesem ebenfalls überlassen.
Fundstellen