Leitsatz (redaktionell)
Ist in der an sich geordneten Verwaltung eines Versicherungsträgers der Rechtsmittelschriftsatz zeitgerecht gezeichnet worden, aber verspätet beim LSG eingegangen, so darf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur versagt werden, wenn dem Versicherungsträger ein Verschulden etwa dadurch nachgewiesen wird, daß Berufungsschriftsätze in Sammelsendungen, dh mit anderem aufgelaufenen Schriftgut, an das LSG abgesandt zu werden pflegen.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 1959 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Das in diesem Rechtsstreit ergangene Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24. Februar 1959, das mit einer richtigen und vollständigen Rechtsmittelbelehrung versehen war, wurde der Beklagten am 23. März 1959 zugestellt. Sie legte dagegen mit Schriftsatz vom 17. April 1959, der erst am 24. April 1959 beim Landessozialgericht einging, Berufung ein. Auf einen Hinweis des Landessozialgerichts hin, daß die Berufung verspätet eingelegt sei, beantragte die Beklagte gegen die Versäumnis der Berufungsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das Landessozialgericht hielt diesen Antrag für unbegründet und verwarf die Berufung durch Urteil vom 22. Juli 1959 als unzulässig. Es ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte gegen das ihr am 24. August 1959 zugestellte Urteil des Landessozialgerichts am 12. September 1959 Revision ein und begründete sie - nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 24. November 1959 verlängert worden war - am 12. November 1959. Sie beantragte, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise, die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügte die Verletzung des § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Mangels Verschuldens bei der Versäumnis der Berufungsfrist habe das Landessozialgericht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht versagt. Das Verfahren leide an einem wesentlichen Mangel, weil das Landessozialgericht die im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Beweisgrundsätze nicht beachtet (§ 118 SGG) und seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt habe (§§ 103, 128 SGG).
Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das Landessozialgericht geht mit Recht davon aus, daß die Berufung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat nach Zustellung des Urteils des Sozialgerichts eingelegt (§ 151 SGG), jedoch der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fristgerecht gestellt worden ist (§ 67 Abs. 2 SGG).
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag zu gewähren, wenn ein Beteiligter ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, und er die versäumte Rechtshandlung rechtzeitig nachholt (§ 67 SGG). Ein Verschulden liegt nicht vor, wenn der Beteiligte die Sorgfalt beachtet hat, die einem gewissenhaften Prozeßführenden nach den gesamten Umständen zuzumuten ist. Hierzu hat der erkennende Senat in dem Urteil vom 26. Februar 1958 - Az.: 1 RA 174/58 - ausgeführt, daß, falls der für das Einlegen der Berufung verantwortliche Abteilungsleiter der Beklagten die Berufungsschrift sechs Tage vor Ablauf der Rechtsmittelfrist unterzeichne und weiterleite, die dann zur Verfügung stehende Zeit noch Sicherheitsspannen sowohl für die Poststelle innerhalb der eigenen Verwaltung als auch für die Beförderung durch die Post enthalte. In Anbetracht des Umstandes, daß es sich bei der Beklagten um eine große Verwaltung mit einem geordneten Geschäftsbetrieb und ausgewähltem Personal handele, könne in einem solchen Falle nicht von einem Verschulden der Beklagten gesprochen werden. Bei dem Begriff "geordneter Geschäftsbetrieb" ist der Senat davon ausgegangen, daß bei der Beklagten - jedenfalls im damaligen Zeitpunkt - die angefertigten Schriftstücke auch unverzüglich postfertig gemacht und laufend - einer Fließbandarbeit vergleichbar - ohne Verzögerungen als Einzelsendungen zum Versand gebracht werden. Der Senat hält an dieser Rechtsprechung grundsätzlich fest, weil bei einer großen Verwaltung mit einem geordneten Geschäftsbetrieb im vorstehenden Sinne die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht nicht überspannt werden dürfen. Von einem so verstandenen geordneten Geschäftsbetrieb könnte allerdings dann nicht mehr die Rede sein, wenn bei der Beklagten von verantwortlicher Stelle ausgegebene Anweisungen bestehen sollten, wonach die abgehende Post nicht jeweils als Einzelsendung, sondern grundsätzlich als Sammelsendung versandt wird. Bei solcher Sachlage wäre der normale Geschäftsablauf nicht unerheblich beeinträchtigt, insbesondere dann, wenn für die rechtzeitige Versendung von Schreiben, die der Fristwahrung dienen, keine besonderen Anweisungen getroffen sein sollten.
Falls das Landessozialgericht an einem geordneten Geschäftsbetrieb der Beklagten Zweifel hegte - und solche erscheinen auf Grund der vom Gericht gemachten Beobachtungen nicht unbegründet -, dann hätte es sich aber nicht mit der allgemeinen Vermutung begnügen dürfen, die Verzögerungen im Schriftverkehr mit der Beklagten beruhten "vielleicht" darauf, daß die Versendung der Post üblicherweise in Sammelsendungen erfolge. Vielmehr hatte dann das Landessozialgericht auf Grund der ihm obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen aufzuklären, ob der normale Geschäftsgang bei der Beklagten tatsächlich in der vermuteten oder in anderer Weise gehemmt war und die Versendung von Post in Sammelsendungen auch im vorliegenden Falle für die Verzögerung ursächlich war. Gegebenenfalls hätte die Beklagte zur Ergänzung ihrer Angaben veranlaßt werden müssen (BSG. Bd. 6 S. 1). Diese Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts bezieht sich nicht nur auf den Sachverhalt der für den erhobenen Anspruch sachlich-rechtlich von Bedeutung ist, sondern auch auf denjenigen, der verfahrensrechtlich für die Entscheidung erheblich ist (BSG. Sozialrecht § 67 SGG Da 9 Nr. 13). Solche weiteren Ermittlungen, zu denen sich das Landessozialgericht gerade auf Grund seiner Vermutungen und um so mehr deshalb hätte veranlaßt sehen müssen, weil es von der erwähnten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 26. Februar 1958 abweichen wollte, hat es aber unterlassen (§ 103 SGG).
Diese Sachaufklärung erübrigte sich auch nicht deshalb - wie das Landessozialgericht zu Unrecht annimmt -, weil die Beklagte sich für außerstande erklärt habe, die Gründe der Verzögerung darzulegen. Die Beklagte brauchte die Wiedereinsetzungsgründe mit Rücksicht auf die erwähnte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 26. Februar 1958 nicht näher darzulegen.
Ein Gesamtergebnis des Verfahrens, wie es § 128 SGG für die Entscheidung voraussetzt, hat dem Landessozialgericht demnach nicht vorgelegen. Die Beklagte hat diese Verfahrensmängel vorschriftsmäßig gerügt (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Ihre Revision ist begründet; denn das angefochtene Urteil beruht auf den genannten Fehlern. Die weitere Aufklärung kann einen Sachverhalt ergeben, der ein Verschulden der Beklagten ausschließt und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründet mit der Folge, daß über die Berufung sachlich zu entscheiden ist. Das Urteil des Landessozialgerichts muß daher aufgehoben werden. Weil der Senat in der Streitsache nicht selbst entscheiden kann, ist sie zur erneuten Entscheidung und Verhandlung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des Landessozialgerichts vorbehalten.
Fundstellen