Leitsatz (amtlich)
Die Versicherung gegen Arbeitsunfall eines "kleinen Landwirts" in Polen bei der Staatlichen Versicherungsanstalt ist eine "gesetzliche Unfallversicherung" iS des FRG § 5 Abs 1 Nr 2 Buchst a, § 6 (Fortführung von BSG 1976-04-30 8 RU 74/75 = SozR 5050 § 5 Nr 3).
Normenkette
RVO § 545 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; FRG § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a Fassung: 1960-02-25, § 6 Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 17.11.1977; Aktenzeichen L 7 U 1111/76) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 08.01.1975; Aktenzeichen S 4 U 3066/71) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. November 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem Fremdrentenrecht der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der am 1. Januar 1973 verstorbene Ehemann der Klägerin J (K.) lebte bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland im Juli 1971 mit seiner Familie in B/Oberschlesien. Er hatte dort als selbständiger Unternehmer eine Landwirtschaft mit einer Betriebsfläche von 8,25 ha betrieben. Anfang Mai 1968 zog er sich beim Walzen eines Ackers eine schwere Quetschung des linken Fußes zu, weswegen im April 1971 das Bein in der Mitte des Oberschenkels amputiert werden mußte.
K. hatte 1968 bei der Staatlichen Versicherungsanstalt in P freiwillig eine Privatversicherung gegen Arbeitsunfall abgeschlossen. Nach Angaben der Klägerin erhielt er jedoch 1968 keine Leistungen von dieser Versicherungsanstalt, weil er die Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland beantragt hatte.
Die Beklagte lehnte eine Entschädigung aus Anlaß des genannten Unfalles ab, weil für K. zur Zeit des Unfalles kein gesetzlicher Versicherungsschutz bestanden habe (Bescheid vom 30. November 1971).
Das Klageverfahren hat die Klägerin nach dem Tode ihres Ehemannes aufgenommen.
Das Sozialgericht (SG) Stuttgart hat die Beklagte verurteilt, die gesetzliche Entschädigung für die Folgen des Ereignisses vom Mai 1968 bis zum Tode des K. zu gewähren (Urteil vom 8. Januar 1975). Nachdem der erkennende Senat dieses Urteil auf die Sprungrevision der Beklagten aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg zurückverwiesen hatte (Urteil vom 30. April 1976), hat das LSG die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 17. November 1977).
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung der §§ 5 und 6 des Fremdrentengesetzes (FRG).
Sie beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. November 1977 sowie das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 8. Januar 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das SG und das LSG haben im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Klägerin als Witwe des K. Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat (§ 630 der Reichsversicherungsordnung - RVO - in der bis zum 31. Dezember 1975 geltenden Fassung - Art II § 4 Nr 1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - SGB 1 - vom 11. Dezember 1975 - BGBl I 3015; jetzt § 56 SGB 1). Allerdings sind diese Leistungen nur bis zum Ablauf des Monats Januar 1973 zu gewähren, in dem K. gestorben ist (§ 631 RVO). Die Berufung betrifft damit zwar nur Rente für einen abgelaufenen Zeitraum iS von § 145 Nr 2 SGG und ggf auch einmalige Leistungen (§ 144 Abs 1 Nr 1 SGG). Der Rechtsstreit war aber auf die statthafte Sprungrevision an das LSG zurückverwiesen worden (Urteil des erkennenden Senats vom 30. April 1976 - 8 RU 74/75). so daß für das Verfahren vor dem LSG die gleichen Grundsätze gelten, wie wenn der Rechtsstreit auf eine ordnungsgemäß eingelegte Berufung beim LSG anhängig geworden wäre (§ 170 Abs 4 Satz 2 SGG). Die Zulässigkeit der Berufung ist deshalb nicht zu prüfen (Meyer/Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 1977, § 170 SGG Anm 9 aE).
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hat K. Anfang Mai 1968 beim Walzen des Ackers seines landwirtschaftlichen Unternehmens (Betriebsfläche: 8,25 ha) einen Unfall erlitten, der im April 1971 zur Amputation des linken Beines in der Mitte des Oberschenkels führte. Der Betrieb lag im jetzt polnisch verwalteten, früher deutschen Oberschlesien. Aufgrund des Dekrets vom 2. April 1951 war K. im Zeitpunkt des Unfalles als landwirtschaftlicher Unternehmer mit einer Betriebsfläche von unter 30 ha von der polnischen gesetzlichen Unfallversicherung ausgeschlossen. Diese Feststellung des LSG betrifft ausländisches und deshalb nicht revisibles Recht (§ 162 SGG). Sie wird auch von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen.
Der Entschädigungsanspruch des K. und der Klägerin als seiner Rechtsnachfolgerin iS von § 630 RVO aF bestimmt sich allein nach dem FRG idF des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes - FANG - vom 25. Februar 1960 (BGBl I 93) und, weil es sich um Ansprüche Heimatvertriebener (§ 1 FRG) aus der Unfallversicherung handelt, nach den §§ 5 - 13 FRG. Fremdrentenansprüche sind originäre Ansprüche (BSGE 9, 273, 275; Hoernigk/Jahn/Wickenhagen, Fremdrentengesetz, § 5 Abs 1 FRG Anm 2 e, S. 91; § 9 Abs 1 FRG Anm 3, S. 120).
§ 5 Abs 1 FRG setzt voraus, daß der Verletzte im Zeitpunkt des Unfalles bei einem deutschen (Nr 1) oder nicht-deutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (Nr 2a) versichert war. Als gesetzliche Unfallversicherung gelten nach § 6 FRG auf Gesetz beruhende Versicherungen gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten oder eines dieser Wagnisse.
Zutreffend hat das LSG entschieden, daß die Voraussetzungen des § 5 Abs 1 Nr 2a FRG erfüllt sind. K. hat im Unfallzeitpunkt einem der gesetzlichen Unfallversicherung der RVO vergleichbaren Sicherungssystem angehört (Urteile des erkennenden Senats in SozR 5050 § 5 Nrn 1 und 3). Die von dem erkennenden Senat in dem in dieser Sache ergangenen Urteil (SozR 5050 § 5 Nr 3) für notwendig gehaltenen weiteren Ermittlungen des LSG haben ergeben, daß die Versicherung, die K. bei der staatlichen Versicherungsanstalt 1968 abgeschlossen hatte, entgegen der Auffassung der Beklagten einer Unfallversicherung nach der RVO, nämlich einer freiwilligen Unternehmerversicherung (§ 545 RVO), vergleichbar war.
Wie der erkennende Senat bereits klargestellt hat (SozR aaO Nr 3 S 9), kann auch eine, von einem Unternehmer abgeschlossene Unfallversicherung die Merkmale des § 6 FRG erfüllen, wenn sie einer freiwilligen Unternehmerversicherung nach § 545 RVO ausreichend ähnlich ist. Das kann unter anderem der Fall sein, wenn ein Staat - wie die Volksrepublik Polen - bestimmte Bevölkerungsgruppen von der gesetzlichen Unfallversicherung ausschließt (hier Landwirte mit einer Betriebsfläche von unter 30 ha), ihnen aber trotzdem einen Versicherungsschutz auf der Grundlage zugemuteter Selbstvorsorge beläßt und durch Errichtung dafür zuständiger staatlicher Versicherungsanstalten garantiert. Das ist nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hier der Fall.
Die staatliche Versicherungsanstalt in Polen ist eine Monopolanstalt, die für alle inländischen Sach- und Personenversicherungen zuständig ist. Nach den "allgemeinen Versicherungsbedingungen für die in der Landwirtschaft beschäftigten Personen bezüglich der Folgen von Unfällen", die vom Finanzminister am 26. März 1958 bestätigt wurden, erfaßte sie alle Unfälle, die der Versicherte im Zeitraum der Versicherung erlitt, auch solche im Privatleben, ausgenommen jedoch bestimmte, im einzelnen beschriebene Risiken. In der sogenannten Bauernunfallversicherung konnten die Besitzer einer individuellen Wirtschaft, die Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft und die in der Wirtschaft beschäftigten Arbeiter sowie unter gewissen Voraussetzungen deren Familienangehörige versichert werden. Nach Eintritt des Versicherungsfalles hatte die staatliche Versicherungsanstalt die Behandlungskosten, soweit sie nicht aus der Sozialversicherung oder dem Staatshaushalt gedeckt waren, bis zur vereinbarten Summe zu erstatten. Bei Dauerinvalidität infolge Unfalles, war die vorgesehene Summe voll oder entsprechend dem Prozentsatz der unfallbedingten Invalidität zu zahlen. Bei Versicherten im Alter von 55 Jahren an konnte bei einer Invalidität von 40 vH und mehr auf Antrag eine Rente auf Lebenszeit in Quartalsraten von einem vierzigstel der einmaligen Abfindungssumme gewährt werden. Die staatliche Versicherungsanstalt hatte auch die Kosten für die Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit, insbesondere für prothetische Versorgung und für Umschulung, zu tragen. Der Versicherungsvertrag wurde auf Antrag des Versicherungsnehmers und nach Zahlung des sich aus dem Beitragstarif ergebenden Betrages jeweils für die Dauer eines Jahres abgeschlossen.
Landwirte wie K. hatten also keine andere Möglichkeit, als sich bei der staatlichen Versicherungsanstalt zu deren Bedingungen gegen Arbeitsunfälle zu versichern. Sie hatten zwar die Wahl, eine solche Versicherung abzuschließen oder nicht; sie konnten ferner die zeitliche Dauer der Versicherung bestimmen, weil die Versicherungsverträge auf die Dauer von jeweils einem Jahr abgeschlossen wurden. Sie hatten aber nicht die Möglichkeit, zwischen einzelnen privaten Versicherungsunternehmen und -tarifen zu wählen. Der Staat stellte ihnen vielmehr nur eine einzige Versicherungsmöglichkeit zur Verfügung, wie das bei der freiwilligen Unternehmerversicherung (§ 545 RVO) ebenfalls zutrifft. Daß der Umfang und die Art des Versicherungsschutzes und die Beitragszahlungen anders als in der gesetzlichen Unfallversicherung nach der RVO ausgestaltet sind, ist nicht entscheidend (SozR aaO S 9). Auch die landwirtschaftliche Unfallversicherung der RVO enthält auf die besonderen Gegebenheiten der Landwirtschaft zugeschnittene, von den Grundsätzen der allgemeinen Unfallversicherung abweichende Regelungen, wie etwa über die Bemessung der Beiträge und die Berechnung der Rente nach dem Jahresarbeitsverdienst (§§ 780 ff; 803 ff RVO). Daß in der Bundesrepublik Deutschland praktisch alle landwirtschaftlichen Unternehmer kraft Satzung (§ 543 RVO) in die landwirtschaftliche Unfallversicherung einbezogen sind, während in Polen die "kleinen Landwirte" sich nur freiwillig versichern konnten, ergibt keinen entscheidenden Unterschied. Wesentlich fällt dagegen ins Gewicht, daß eine enge Verknüpfung mit der gesetzlichen Sozialversicherung besteht. Es sind nämlich Leistungen aus der Sozialversicherung oder aus der Staatskasse auf die Leistungen der Unfallversicherung unmittelbar anzurechnen. Auch setzt die staatliche Versicherungsanstalt ihre Leistungen durch förmliche, mit einer Rechtsmittelbelehrung versehene Bescheide fest. Dies entspricht nach deutschen Rechtsbegriffen einem hoheitlichen Verwaltungshandeln, nicht aber einem privaten Rechtsgeschäft. Für die Vergleichbarkeit mit der freiwilligen Unternehmerunfallversicherung deutschen Rechts ist es deshalb nicht ausschlaggebend, daß das Versicherungsverhältnis mit der staatlichen Versicherungsanstalt sich formell nach den Bestimmungen des polnischen Zivilgesetzbuches richtet.
In Übereinstimmung mit dem LSG kommt daher auch der erkennende Senat zu dem Ergebnis, daß die von der staatlichen Versicherungsanstalt den kleinen Landwirten angebotene Versicherungsmöglichkeit gegen Arbeitsunfälle, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, in das System der sozialen Sicherheit in Polen einbezogen war. Sie war zwar nicht an die Stelle der früher in Oberschlesien bestehenden gesetzlichen Unfallversicherung für Kleinlandwirte getreten. Dieser Personenkreis blieb jedoch insoweit nicht völlig ungeschützt. Die staatlich geschaffene Versicherung sollte letztlich dem möglichst umfassenden Schutz auch dieses Personenkreises dienen, wenn hierfür auch freiwillig eigene Mittel aufzubringen waren. Wenn schließlich alle Landwirte ab 1. Januar 1976 in die Pflichtversicherung auch gegen Arbeitsunfälle einbezogen wurden (Verordnung des polnischen Ministerrates vom 25. Juli 1975) und die staatliche Versicherungsanstalt zuständiger Versicherungsträger blieb, spricht das zwar dafür, daß sich die Auffassung über den Kreis derjenigen gewandelt hat, denen die Vorsorge für bestimmte Risiken weitgehend selbst überlassen bleiben sollte. Daraus folgt aber nur, daß in der voraufgegangenen Zeit keine Versicherungspflicht für kleine Landwirte bestand, nicht aber, daß ihnen keine der freiwilligen Unternehmerunfallversicherung der RVO ähnliche Versicherungsmöglichkeit zur Verfügung stand. Es entspricht deshalb dem Sinn und Zweck des FRG, Heimatvertriebenen, die im Zeitpunkt eines Arbeitsunfalles bei der staatlichen polnischen Versicherungsanstalt eine Versicherung gegen Arbeitsunfälle abgeschlossen hatten, Entschädigung nach den Vorschriften der RVO zu gewähren (§ 5 Abs 1 Nr 2a FRG). Wer im Herkunftsland von einer weitgehend staatlich geregelten Versicherungsmöglichkeit gegen Arbeitsunfälle Gebrauch gemacht hat, soll ebenso wie ein bei einem deutschen Unfallversicherungsträger freiwillig versicherter Unternehmer entschädigt werden. Der Entschädigungsanspruch nach § 5 Abs 1 Nr 2a FRG ist nur ausgeschlossen, wenn der Verletzte eine vorwiegend privatrechtliche Unfallversicherung bei einem privaten Versicherungsunternehmen abgeschlossen oder sich überhaupt nicht versichert hatte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen