Entscheidungsstichwort (Thema)
Formerfordernisse an Berufungsschrift. Berufungseinlegung durch Telegramm
Leitsatz (amtlich)
Es entspricht nicht den an eine Berufungsschrift zu stellenden Mindestanforderungen, wenn sich weder aus dem beim Gericht eingehenden Schreiben noch aus innerhalb der Berufungsfrist eingehenden weiteren Unterlagen ergibt, wer Berufung eingelegt hat.
Orientierungssatz
Klarheit und Bestimmtheit der Rechtsmittelschrift (hier: Telegramm) müssen sich aus ihr selbst - gegebenenfalls zusammen mit rechtzeitig innerhalb der Berufungsfrist eingehenden Akten und Urkunden - ergeben. Es reicht nicht aus, wenn das Gericht sie durch eigene Ermittlungen zur Kenntnis bekommt. Die Klarheit der Rechtsmittelschrift dient auch den Interessen des Rechtsmittelgerichts, so daß der Rechtsmittelkläger sich nicht darauf verlassen darf, daß die Mängel des Rechtsmittels erst durch ein Tätigwerden des Gerichts ausgeräumt werden.
Normenkette
SGG § 151 Abs 3
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.09.1985; Aktenzeichen L 2 U 952/85) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 15.02.1985; Aktenzeichen S 14 U 2344/84) |
Tatbestand
Die Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche aus Anlaß des Unfalles der Klägerin am 6. Juli 1982 ab (Schreiben vom 24. November 1982 und Widerspruchsbescheid vom 11. April 1984).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Entschädigungsleistungen für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 6. Juli 1982 zu gewähren (Urteil vom 15. Februar 1985).
Das Urteil ist der Beklagten am 5. März 1985 zugestellt worden. Am 9. April 1985 (Osterdienstag) ist beim Landessozialgericht (LSG) ein Telegramm mit folgendem Wortlaut eingegangen: "hiermit legen wir gegen das Urteil des sozialgerichts karlsruhe (aktenzeichen S 14 U 2344/84) vom 15.2.85 zugestellt am 6.3.85 berufung ein geschaeftsfuehrer im auftrage koch 9,xxxxx 9.4.85". Auf das Telegramm hat der Senatsvorsitzende an demselben Tag folgenden dienstlichen Vermerk geschrieben: "Ich habe am 9.4.1985 durch Anruf bei der Geschäftsstelle des SG Karlsruhe -G.Ass.Steiger App.0721/135/4189- festgestellt, wer die Parteien des Verfahrens sind. Die Akte wurde sodann mit richtiger und vollständiger Angabe beider Parteien durch die Hauptregierung angelegt. Eine entsprechende Notiz befindet sich in meinen Aufzeichnungen über die geführten Ferngespräche". Mit einem am 10. April 1985 beim LSG eingegangenen Schriftsatz vom 2. April 1985 hat die Beklagte Berufung eingelegt und handschriftlich als "PS" vermerkt: "Wir haben bereits vorsorglich telegrafisch (unter dem 9.4.85) Berufung eingelegt".
Das LSG hat durch Urteil vom 18. September 1985 der Berufung stattgegeben und die Klage abgewiesen. Es hat ua ausgeführt: Die Einlegung der Berufung durch Telegramm sei zulässig. Es müsse aber feststehen, daß es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handele, sondern daß es mit Wissen und Willen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden sei. Das Berufungstelegramm enthalte nicht ausdrücklich die Bezeichnung der Beklagten und Berufungsklägerin als Berufsgenossenschaft (BG). Allerdings deute schon das U-Aktenzeichen iVm dem Hinweis auf den "Geschäftsführer" auf eine BG hin. Aber auch der Name "Koch" individualisiere die Beklagte nicht. Dabei werde angenommen, daß das Telegramm, wie jede andere Berufungsschrift, dann nicht formgerecht sei, wenn der Berufungskläger nicht oder nicht mit hinreichender Deutlichkeit genannt werde. Es sei jedoch noch innerhalb der Berufungsfrist zweifelsfrei festgestellt worden, wer Berufungskläger sei.
Der Senat hat auf die Beschwerde der Klägerin durch Beschluß vom 26. Mai 1987 (2 BU 161/85) die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und zur Begründung ua ausgeführt: Die Berufung sei durch das Telegramm nicht formgerecht eingelegt worden. Zudem habe das LSG seine Pflicht zur Sachermittlung verletzt und den Begriff der gemischten Tätigkeiten verkannt.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden- Württemberg vom 18. September 1985 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15. Februar 1985 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält ihre Berufung weiterhin für form- und fristgerecht eingelegt. Ihr Vertreter sei zur Berufungseinlegung berechtigt gewesen. Man pflege auch die Verfahrensvorschriften der ersten und zweiten Instanz im Interesse der Versicherten und ihrer Hinterbliebenen im allgemeinen großzügig auszulegen. Sie könne sich ua denken, wenn zB ein ungewandter Bauer aus dem hintersten Schwarzwald gegen die Abweisung seiner Klage auf Rente voller Empörung an das SG rekurriere, in seiner Aufregung aber vergesse, seine Berufungseingabe zu unterschreiben, so würde man in einem solchen Falle wohl trotzdem eine formgerechte Berufung annehmen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet.
Das LSG hat zu Unrecht in der Sache entschieden; die Berufung der Beklagten war vielmehr als unzulässig zu verwerfen.
Der Senat hat in seinem nach Erlaß der angefochtenen Entscheidung des LSG ergangenen Urteil vom 14. August 1986 (SozR 1500 § 164 Nr 29) für die Revisionsschrift entschieden, daß diese den gesetzlichen Anforderungen nur dann genügt, wenn bei der Einlegung des Rechtsmittels aus der Rechtsmittelschrift und sonstigen beigefügten oder während der Rechtsmittelfrist eingereichten Unterlagen ua sowohl der Rechtsmittelkläger als auch der Rechtsmittelbeklagte erkennbar sei. Er ist von § 164 Abs 1 Satz 2 SGG ausgegangen, wonach die Revision das angefochtene Urteil angeben "muß" (s § 164 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 SGG). Demgegenüber "soll" die Berufungsschrift das angefochtene Urteil bezeichnen (s § 151 Abs 3 SGG). Verstöße gegen diese Soll-Vorschrift haben grundsätzlich keine Folgen (s BSG SozR Nr 2 zu § 151 SGG). Dies gilt zB dann, wenn das angefochtene Urteil selbst nicht oder nur unvollständig bezeichnet ist. Der Senat ist jedoch bereits in seinem Urteil vom 14. August 1986 (aaO) davon ausgegangen, daß die Angabe des Rechtsmittelklägers nicht nur für die Revisionsschrift erforderlich ist, weil dort das angefochtene Urteil bezeichnet werden muß, sondern daß die Einhaltung dieser an den Inhalt "von Rechtsmittelschriften" - nicht nur Revisionsschriften - zu stellenden Anforderungen sowohl den Interessen des Rechtsmittelgerichts als auch denen des Rechtsmittelgegners an einem geregelten und damit der Rechtssicherheit dienenden Verfahren entspricht. Diese Grundsätze gelten - auch nach der Auffassung des LSG - für jede Rechtsmittelschrift und damit auch für die Berufungsschrift im sozialgerichtlichen Verfahren (ebenso Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, § 151 RdNr 11). Die Pflicht, in einer Rechtsmittelschrift jedenfalls eindeutig festzulegen, wer der Rechtsmittelkläger ist, ergibt sich aus der Natur einer fristgebundenen Rechtsmitteleinlegung. Innerhalb der gesetzlichen Frist zur Einlegung des Rechtsmittels muß feststehen, ob sich die Beteiligten des Rechtsstreites mit der vorliegenden und anfechtbaren Entscheidung zufrieden geben oder sie anfechten wollen. Das Erfordernis der Bezeichnung jedenfalls des Rechtsmittelklägers ist deshalb unabhängig davon, ob das angefochtene Urteil näher zu bezeichnen ist oder nicht.
Die vorstehend angeführten Voraussetzungen an eine Rechtsmittelschrift erfüllt das vor Ablauf der Berufungsfrist beim LSG eingegangene Telegramm nicht. Es enthält nicht einmal eine Andeutung über den Rechtsmittelkläger. Ein im sozialgerichtlichen Verfahren erfahrener Beteiligter könnte zwar in Verbindung mit dem angegebenen Aktenzeichen für den Regelfall vermuten, daß eine BG Berufung eingelegt hat. Aber abgesehen davon, daß auch der Geschäftsführer zB einer GmbH den Auftrag zur Berufungseinlegung erteilt haben könnte, ist dem Telegramm jedenfalls nicht zu entnehmen, welche BG Berufung einlegen will. Dieser Mangel allein bedingt, wie oben dargelegt, bereits die Fehlerhaftigkeit der Berufungsschrift. Dieser Auffassung ist auch das LSG. Entgegen der Ansicht des LSG reicht es aber, wie der Senat in seinem nach der Entscheidung des LSG ergangenen Urteil näher ausgeführt hat, nicht aus, daß das Vordergericht samt Entscheidungsdatum und Aktenzeichen bei Ablauf der Rechtsmittelfrist bekannt und daher die Verfahrensbeteiligten - wie geschehen - durch Ermittlungen des LSG festzustellen waren. Klarheit und Bestimmtheit der Rechtsmittelschrift müssen sich aus ihr selbst - gegebenenfalls zusammen mit rechtzeitig innerhalb der Berufungsfrist eingehenden Akten und Urkunden - ergeben; und es reicht folglich nicht aus, wenn das Gericht sie durch eigene Ermittlungen zur Kenntnis bekommt. Die Klarheit der Rechtsmittelschrift dient auch den Interessen des Rechtsmittelgerichts, so daß der Rechtsmittelkläger sich nicht darauf verlassen darf, daß die Mängel des Rechtsmittels erst durch ein Tätigwerden des Gerichts ausgeräumt werden. Vielmehr gehört die Bezeichnung des Rechtsmittelklägers zu den wesentlichen Erfordernissen einer wirksamen Rechtsmitteleinlegung, welche der Schriftform bedürfen und folglich durch gerichtsseitig durchgeführte Ermittlungen und Vermerke nicht ersetzt werden können (BSG SozR aaO). Aus diesem Grund ist das Ergebnis der Bemühungen des LSG, die Mängel der Berufungsschrift durch eigenes Tun auszugleichen, ohne rechtliche Bedeutung für die Ordnungsmäßigkeit der Berufung. Zudem soll nicht unerwähnt bleiben, daß es auch nicht auf etwa vorhandenes Wissen des zuständigen einzelnen Spruchkörpers oder seiner Mitglieder ankommen kann; denn das Gebot der Klarheit von Rechtsmittelschriften dient dem Gericht als Institution, also auch der ordnungsgemäßen Erledigung der notwendig zu erledigenden Verwaltungstätigkeit im Zusammenhang mit der Rechtsmitteleinlegung. Eben diese gerichtlichen Aufgaben konnten hier nicht in der gesetzlich vorgesehenen Weise erledigt werden, ohne daß vom LSG eigene Nachforschungen angestellt wurden. Ob in dem von der Revision gebildeten Beispiel eines unverschuldet ungewandten und des Prozeßrechts trotz einer ausreichenden Rechtsmittelbelehrung doch noch rechtsunkundigen Klägers, der zudem nach dem Beispiel der Revision gegebenenfalls aus dem Absender erkennbar ist und nur die grundsätzlich erforderliche Unterschrift vergessen hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre, bedarf hier keiner Erörterung, da sich die Beklagte mit einer solchen Privatperson nicht zu vergleichen vermag und wohl auch nicht sich zu vergleichen gewillt ist.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen