Orientierungssatz
1. Ist der Verfügungssatz eines Bescheides nicht eindeutig, dann kann und muß gegebenenfalls zu seiner Auslegung auf nähere Einzelheiten, insbesondere auf seine Begründung, zurückgegriffen werden.
2. Der Verlust einer Niere (bei Gesundheit der anderen Niere) stellt eine derart erhebliche Einschränkung der Verwendungsmöglichkeiten des Verletzten auf dem gesamten Bereich des wirtschaftlichen Lebens dar, daß - auch unter Berücksichtigung der dem Einnierigen drohenden Gefahren - für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung wenigstens eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vom Hundert angenommen werden muß (Vergleiche BSG 1976-01-27 8 RU 264/74).
Normenkette
RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Oktober 1975 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte den Nierenverlust der Klägerin als Arbeitsunfall anerkannt hat und wie hoch deswegen gegebenenfalls die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist.
Die 1939 geborene Klägerin beantragte im Juni 1972 bei dem Beklagten Entschädigung für einen Unfall, den sie sich im Oktober 1959 zugezogen und der zum Verlust der rechten Niere geführt habe. Sie gab an, damals bei der Städtischen Kinderkrippe als Hausgehilfin beschäftigt gewesen, auf einer Treppe ausgerutscht und mit der rechten Hüfte auf einer Treppenstufe aufgeschlagen zu sein. Sie habe einen heftigen Schmerz empfunden und einige Zeit darauf Blut im Urin entdeckt.
Der Facharzt für Urologie Dr. W berichtete, er habe die Klägerin im November 1959 wegen Blasenentzündung und blutigem Urin behandelt. Von einem Unfallereignis sei ihm nichts bekannt.
Der Beklagte holte ein urologisches Gutachten von Professor Dr. S und Dr. B von der Urologischen Abteilung der Chirurgischen Universitätsklinik T ein. Diese führten aus, der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der nachfolgenden Hämaturie, die dann zur Nephrektomie geführt habe, sei nicht ausgeschlossen. Die MdE sei mit 15 v. H. einzuschätzen.
Mit Bescheid vom 23. April 1974 lehnte der Beklagte die Gewährung einer Rente ab und führte zur Begründung aus: "Der Arbeitsunfall hat eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Grade (3) - nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung - nicht hinterlassen". Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat den Facharzt für Chirurgie Dr. F gehört. Dieser hat den ursächlichen Zusammenhang als kaum wahrscheinlich angesehen und die MdE wegen ungünstiger Narbenverhältnisse mit 20 v. H. bewertet. Daraufhin hat das SG den Beklagten am 29. Januar 1975 verurteilt, unter Abänderung des Bescheides als Unfallfolge "Verlust der rechten Niere" anzuerkennen und eine Rente von 20 v. H. zu zahlen, soweit im Zeitpunkt der Antragstellung der Rentenanspruch nicht verjährt sei. Die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) am 22. Oktober 1975 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe als Folge des Arbeitsunfalls einen Nierenverlust geltend gemacht. Es sei ihr keineswegs darum gegangen, den Unfall als solchen unabhängig von daraus resultierenden Gesundheitsstörungen anerkannt zu erhalten. Schon aus der im Bescheid gegebenen Begründung sei zu entnehmen, daß der Beklagte das Vorliegen eines Arbeitsunfalls und der geltend gemachten Gesundheitsstörungen als Folge nicht in Frage gestellt habe. In der Anmerkung zu dem Entscheidungssatz werde darauf hingewiesen, daß trotz Ablehnung der Rente die Gewährung von Heilbehandlung unberührt bleibe und ärztliche Behandlung wegen Unfallfolgen zugesichert werde. Im übrigen habe der Beklagte auch selbst bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung in erster Instanz den ursächlichen Zusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Nierenverlust nicht bestritten. Zwar bestünden in Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Auffassungen über die Höhe der MdE nach Verlust einer Niere. Die Einschätzung mit 20 v. H. durch den Gutachter Dr. F als erfahrenen Facharzt erscheine mit Rücksicht auf die bei der Klägerin vorliegenden individuellen Verhältnisse überzeugend.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt, eine Untersuchung der Klägerin durch Dr. F vor dessen Bewertung der MdE mit 20 v. H. habe offensichtlich nicht stattgefunden. Im übrigen sei zu befürchten, daß dieser Sachverständige, der Leitender Arzt der Urologischen Abteilung des Bundeswehr-Zentralkrankenhauses K sei, nicht die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Maßstäbe für die Beurteilung bei Nierenverlust, wonach eine MdE von 15 v. H. die oberste Grenze sei, beachtet habe. Auch seien mit dem angefochtenen Bescheid Unfallfolgen irgendwelcher Art, insbesondere die Entfernung der rechten Niere als Folge des Unfalles von 1959 mit Bindungswirkung nicht anerkannt worden.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des SG Koblenz vom 29. Januar 1975 und des LSG Rheinland-Pfalz vom 22. Oktober 1975 aufzuheben und die Klage gegen seinen Bescheid vom 23. April 1974 als unbegründet abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das LSG-Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Der Senat teilt die Auffassung des LSG, daß der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 23. April 1974 den Unfall der Klägerin, den sie sich im Oktober 1959 zugezogen haben will, als Arbeitsunfall im Sinne des § 548 Reichsversicherungsordnung (RVO) anerkannt hat. Im Verfügungssatz des genannten Bescheides wird zwar lediglich die Gewährung einer Rente abgelehnt. Dieser Verfügungssatz ist aber in sich nicht ausführlich und verständlich genug, als daß er allein aus sich heraus ausgelegt werden könnte. Die Ablehnung der Gewährung einer Rente kann nämlich mehrere Gründe haben. Einmal weil der Verletzte nicht zu dem versicherten Personenkreis gehörte, zum anderen, weil die unfallbringende Tätigkeit unversichert sei, 3. weil die Gesundheitsstörung keine Folge eines Arbeitsunfalls sei und 4., weil zwar ein Arbeitsunfall im Sinne des Gesetzes vorgelegen habe, jedoch eine MdE im rentenberechtigenden Grade nicht gegeben sei. Es trifft nun zwar zu, daß im allgemeinen die Gründe eines Verwaltungsaktes nicht an der Bindungswirkung teilnehmen, sondern sich die bindende Wirkung des Bescheides auf den bescheidmäßigen Ausspruch - den Verfügungssatz - beschränkt (vgl. BSG 6, 288, 291; BSG 9, 80, 84; 12, 25; 27, 22, 23; BSG SozR Nr. 5 zu § 42 BVG und SozR Nr. 6 zu § 64 BVG siehe auch SozR Nr. 1 zu § 570 RVO). Dies gilt insbesondere hinsichtlich der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für das Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung, nach der die für die Bemessung der Rente maßgebend gewesenen Gründe nicht an der Bindungswirkung teilnehmen (siehe BSG Nr. 1 zu § 570 RVO mit weiteren Nachweisen). Wenn jedoch der Verfügungssatz eines Verwaltungsaktes, wie hier, nicht eindeutig ist, dann kann und muß ggf. zu seiner Auslegung auf nähere Einzelheiten, insbesondere auf seine Begründung zurückgegriffen werden (vgl. Urteil des 2. Senats vom 14. Dezember 1965, BSG 24, 162, 164 mit weiteren Nachweisen; hier werden sogar zur Auslegung eines Verwaltungsakts Unterlagen des Versicherungsträgers herangezogen, auf die sich dieser bei Erlaß seiner Entscheidung offensichtlich gestützt hat; siehe weiter BSG 6, 288, 291). In dem angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 23. April 1974 heißt es ausdrücklich "Der Arbeitsunfall hat ..."; daraus ergibt sich eindeutig, daß die Beklagte das Ereignis vom Oktober 1959, das für den Nierenverlust der Klägerin verantwortlich gemacht worden war, als Arbeitsunfall im Sinne des § 548 RVO gewertet hat und anerkennen wollte. Dafür spricht weiter, daß jeweils am Ende des eigentlichen Verfügungssatzes und eines Teils der Begründung Hinweise auf die Erläuterungen der Rückseite des Bescheides enthalten sind. In diesen Erläuterungen wird unter anderem darauf hingewiesen, daß durch die Ablehnung einer Verletztenrente - wie sie hier im Verfügungssatz ausgesprochen wurde - der Anspruch auf Heilbehandlung nicht berührt werde; es wird betont, daß weitere erforderliche ärztliche Behandlung wegen Unfallfolgen gewährt werde. Sonach kann kein ernstlicher Zweifel daran bestehen, daß das angeschuldigte Ereignis vom Oktober 1959 und seine Folgen als Arbeitsunfall- und zwar bindend - anerkannt worden ist.
So hat der Beklagte seinen Bescheid zunächst auch selbst verstanden. Denn er hat nach den Feststellungen des LSG "bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung in erster Instanz den ursächlichen Zusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Nierenverlust nicht bestritten" (Urt. S. 5/6). Nach alledem ist davon auszugehen, daß der Unfall der Klägerin den Verlust der rechten Niere zur Folge gehabt hat. Dies hat das SG zutreffend im Urteilstenor ausdrücklich ausgesprochen. Die Zurückweisung der Berufung des Beklagten durch das Urteil des LSG vom 22. Oktober 1975 war daher insoweit gerechtfertigt.
Die Revision konnte aber auch hinsichtlich der Höhe der unfallbedingten MdE keinen Erfolg haben. Dabei konnte dahinstehen, ob Dr. F, wie die Revision meint. ohne vorherige Untersuchung für den Verlust einer Niere keine MdE von 20 v. H. - sondern nur 15 v. H. - hätte annehmen dürfen bzw. ob er als Leitender Arzt eines Bundeswehrkrankenhauses nicht die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Maßstäbe zugrunde gelegt haben könnte. Denn der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 27. Januar 1976 - 8 RU 264/74 - unter Würdigung des Sinns und Zwecks der MdE-Bemessung sowie unter Auswertung zahlreicher medizinischer Auffassungen entschieden, daß der Verlust einer Niere (bei Gesundheit der anderen Niere) eine derart erhebliche Einschränkung der Verwendungsmöglichkeiten des Verletzten auf dem gesamten Bereich des wirtschaftlichen Lebens darstellt, daß - auch unter Berücksichtigung der dem Einnierigen drohenden Gefahren - für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung wenigstens eine rentenberechtigende MdE von 20 v. H. angenommen werden muß. Dieser MdE-Grad stellt - wie vom Senat ferner dargelegt wurde - auch bei einem durchaus zulässigen Vergleich mit dem in der Kriegsopferversorgung geltenden Regel-MdE-Satz von 30 v. H. einen Mindestsatz dar. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gründe des Urteils vom 27. Januar 1976, das in Abschrift beigefügt ist, verwiesen.
Da das LSG-Urteil sonach im Ergebnis nicht zu beanstanden war, konnte die Revision des Beklagten keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen