Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisbarkeit. zumutbare Tätigkeit

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Berufsunfähigkeit eines Fahrhauers.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.03.1973; Aktenzeichen L 2 Kn 106/69)

SG Duisburg (Entscheidung vom 16.06.1969; Aktenzeichen S 2 Kn 391/67)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. März 1973 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der 1924 geborene Kläger, von Beruf Bergmann, war zuletzt - seit 1957 - auf einer Kleinzeche als Fahrhauer beschäftigt.

Seinen Antrag auf Knappschaftsrente vom 8. Dezember 1966 lehnte die Beklagte durch den streitigen Bescheid vom 27. Juni 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 1967 mit der Begründung ab, daß der Kläger weder berufsunfähig noch vermindert bergmännisch berufsfähig sei.

Mit seiner hiergegen erhobenen Klage hatte der Kläger in zweiter Instanz Erfolg. Durch die angefochtene Entscheidung vom 8. März 1973 hat das Landessozialgericht (LSG) das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1968 die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. In der Begründung heißt es, der Kläger sei nach seinen gesundheitlichen Verhältnissen nicht mehr in der Lage, unter Tage zu arbeiten oder außerhalb geschlossener Räume Tätigkeiten mit schwerer oder dauernd mittelschwerer Beanspruchung zu verrichten oder in gebückter oder sonstiger Zwangshaltung zu arbeiten; außerdem könne er nur noch abwechselnd im Gehen, Stehen und Sitzen arbeiten. Schon deshalb entfalle eine Verweisung auf Tätigkeiten der Gehaltsgruppe 2 und 3 für technische Tagesangestellte wie die eines Platzmeisters, Holzmeisters, Hafenmeisters und Bahnmeisters. Bei den Tätigkeiten der Gehaltsgruppen 1 der technischen Tagesangestellten und der kaufmännischen Angestellten handele es sich nur um ganz einfache Hilfstätigkeiten, die dem Kläger nicht zugemutet werden könnten. Arbeiten im Sicherheitsbüro, in der Dienststelle des Staubbeauftragten, in der Schichtzettelkontrolle, im Fehlschichtenbüro, im Maschinen- und Materialbeschaffungswesen sowie in der Maschinenkartei könne der nur in einer Kleinzeche beschäftigt gewesene Kläger ohne längere, über drei Monate hinausreichende Einarbeitung mangels ausreichender Kenntnisse und Fertigkeiten auf einer fremden Zechenanlage nicht verrichten; überdies scheide eine reine Büroarbeit wegen des medizinischen Erfordernisses überwiegenden Gehens und Stehens aus. Außerhalb des Bergbaues seien keine Tätigkeiten vorhanden, auf die der Kläger verwiesen werden könnte; sie seien ihm entweder sozial unzumutbar oder verlangten Kenntnisse und Fertigkeiten, die er nicht besitze.

Gegen dieses Urteil richtet sich die zugelassene Revision der Beklagten. Sie trägt vor: Der Kläger könne entgegen der Ansicht des LSG sehr wohl Bürotätigkeiten gemäß Gruppe K 2 des Manteltarifvertrages (MTV) für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaues verrichten. Insbesondere sei der Kläger sicher geeignet, in der Schichtzettelkontrolle zu arbeiten sowie im Büro des Sicherheits- und Staubbeauftragten statistische Arbeiten auszuführen, Materialbestellungen zu erledigen und bei der Überwachung der eingesetzten und in Reserve befindlichen Maschinen als Karteiführer mitzuwirken. Hierdurch werde der Kläger nicht überfordert. Diese Tätigkeiten seien einem ehemaligen Fahrhauer auch zumutbar. Falls im übrigen die Behauptung des Klägers zuträfe, er sei in der Kleinzeche nie mit kaufmännischen oder Verwaltungsaufgaben betraut gewesen, so stelle sich die Frage, ob er im Hauptberuf nicht als Aufsichtshauer zu behandeln sei. Bejahendenfalls müsse sich der Kläger als Arbeiter auf Tätigkeiten wie die eines Apparatewärters oder Verwiegers verweisen lassen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 16. Juni 1969 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne einer Zurückverweisung der Streitsache an die Vorinstanz begründet.

Nach § 46 Abs. 2 Satz 1 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG - (= § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt nach Satz 2 aaO zunächst alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen. Das bedeutet, daß der Versicherte weder in gesundheitlicher Hinsicht noch in seinem Wissen und Können objektiv überfordert werden darf; er kann also nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, zu deren Verrichtung er gesundheitlich imstande und nach seinen Kenntnissen und Erfahrungen fähig ist. Zu Recht hat es daher das LSG abgelehnt, den nach seinen gesundheitlichen Verhältnissen nur noch zu körperlich leichten bis mittelschweren Tätigkeiten überwiegend in geschlossenen Räumen fähigen Kläger auf die nach seinen - des LSG - unangegriffenen Feststellungen im Freien zu verrichtenden oder mit schwerer körperlicher Beanspruchung verbundenen Tätigkeiten als Platz-, Holz-, Hafen-, Bahn- und Versandmeister zu verweisen. Was - abgesehen von den eben genannten speziellen Arbeiten - im übrigen die Tätigkeiten der Gruppe 3 (13) der technischen Angestellten über Tage nach der ab 1. Juni 1970 geltenden Fassung der Anlage A zum MTV für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaues betrifft, so handelt es sich hierbei um Tätigkeiten von Angestellten mit Meister- oder gleichwertigen Kenntnissen, über die der Kläger nicht verfügt. Entsprechendes gilt auch für eine Tätigkeit der Gruppe 2 (12) der technischen Angestellten über Tage nach der Anlage A aaO; soweit der Kläger die dort geforderten speziellen, auf Grund einer Fach- oder Spezialausbildung oder gründlicher Berufserfahrung erworbenen beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten überhaupt besitzt, scheitert eine Verweisung an den gegebenen gesundheitlichen Einschränkungen. Insoweit sind daher die Ausführungen des LSG nicht zu beanstanden.

Nach § 46 Abs. 2 Satz 2 RKG umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, weiterhin alle Tätigkeiten, die ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Besonderes Gewicht hat mithin der bisherige Beruf (Hauptberuf), d. h. die Bedeutung dieses Berufes im Betrieb und die an ihn zu stellenden besonderen, d. h. positiv zu bewertenden Anforderungen. In der Regel finden diese Merkmale ihren Ausdruck in der tariflichen Einstufung (so der erkennende Senat in BSG 31, 106 = SozR Nr. 80 zu § 1246 RVO; SozR Nrn. 17, 25 und 26 zu § 46 RKG und Nr. 103 zu § 1246 RVO).

Das LSG hat dies auch nicht verkannt. Entgegen dessen Ansicht kann jedoch nicht ohne nähere Prüfung davon ausgegangen werden, daß dem Kläger in diesem Sinne die Tätigkeit eines technischen Angestellten über Tage nach der Gruppe 1 (11) aaO nicht zumutbar ist. Es ist zwar richtig, daß nach der knappen Tätigkeitsbeschreibung aaO zur Ausübung einer solchen Arbeit "im allgemeinen" keine besondere Berufsausbildung erforderlich ist. Abgesehen davon, daß die Bedeutung des Berufes im Betrieb nicht nur von der Ausbildung abhängt, weist das LSG selbst darauf hin, daß die in Frage stehenden Tätigkeiten nach einer Auskunft des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau immerhin eine Anlernung voraussetzen können, also möglicherweise Kenntnisse und Fertigkeiten verlangen, wie sie ein Fahrhauer auf Grund seiner Berufsausübung erworben haben mag. Hinzu kommt die tariflich relativ hohe Einstufung dieser Tätigkeiten; sie werden z. B. vom 1. August 1973 an mit einem Mindestendgehalt ab vollendetem 18. Lebensjahr von 1.308,- DM entlohnt, also mit einem Gehalt, das deutlich höher liegt als das eines kaufmännischen Angestellten in einem anerkannten kaufmännischen Anlernberuf nach der Gruppe 2 (42) aaO (Mindestendgehalt 1.265,- DM). Die tarifliche Einstufung deutet daher möglicherweise auf ein erhebliches betriebliches Gewicht zumindest einzelner dieser Tätigkeiten hin. Es kann daher nicht genügen, die Unzumutbarkeit dieser Arbeiten auf die knappen Anhaltspunkte zu stützen, mit der in der Anlage A aaO das Tätigkeitsfeld dieser Angestellten umrissen wird.

Die Feststellungen des LSG reichen mithin nicht aus, um entscheiden zu können, ob der Kläger zumutbar auf die Tätigkeiten der tarifvertraglichen Gruppe 1 (11) der technischen Angestellten über Tage verwiesen werden kann. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und dem LSG durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit zu der Prüfung zu geben, ob von dieser Tarifgruppe technische Tätigkeiten erfaßt werden, die einem ehemaligen Fahrhauer zugemutet werden können.

Nicht zumutbar im Sinne des Gesetzes sind in Übereinstimmung mit dem LSG die Arbeiten der Gruppe 1 (41) der kaufmännischen Angestellten nach der Anlage A aaO. Zu dieser Gruppe zählen Bürohilfskräfte, die überwiegend schematische Arbeiten verrichten, für die eine kaufmännische Berufsausbildung nicht erforderlich ist, wie z. B. einfache Abschreibearbeiten oder Abheften von Schriftgut. Es handelt sich hiernach um Tätigkeiten, deren Stellenwert in einem bergbaulichen Betrieb deutlich geringer ist als derjenige eines Fahrhauers, also eines technischen Mitarbeiters, der aus dem Beruf des Hauers hervorgegangen ist und diesen infolge zusätzlich erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten in der betrieblichen Bedeutung überragt. Die erheblich geringere betriebliche Bedeutung des kaufmännischen Angestellten nach der Gruppe 1 (41) im Verhältnis zum Fahrhauer belegt auch die tarifliche Einstufung: Dieser gehört in die Berufsgruppe 1 (01) der technischen Angestellten unter Tage nach der Anlage A aaO, die z. B. ab 1. August 1973 ein Mindestendgehalt von 1.806,- DM sowie eine Leistungszulage von 7 % des Tarifgehalts beziehen, während das Gehalt des kaufmännischen Angestellten über Tage nach der Gruppe 1 (41) ab dem gleichen Zeitpunkt 1.049,- DM ohne Leistungszulage beträgt.

Zumutbar sind dem Kläger dagegen, wie auch das LSG anzunehmen scheint, die Arbeiten der Gruppe 2 (42) der kaufmännischen Angestellten aaO. In diese Gruppe sind tariflich die Angestellten eingeordnet, die gleichförmig wiederkehrende Büroarbeiten verrichten, welche Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, wie sie im allgemeinen durch eine Ausbildung als Anlernling in einem anerkannten kaufmännischen Anlernberuf vermittelt werden; nach der ausdrücklichen Bestimmung in der Anlage A aaO können diese Kenntnisse auch durch eine andere gleichwertige Ausbildung von in der Regel mindestens drei Jahren erworben sein. Dauer und Umfang der für einen Angestellten dieser Gruppe erforderlichen Berufsausbildung bzw. langjährigen Berufserfahrung belegen, daß es sich um Arbeiten handelt, die in ihrer Bedeutung für den Betrieb immerhin so erhebliches Gewicht haben, daß sie einem aus dem Hauerberuf zum Fahrhauer aufgestiegenen Bergmann ohne Beeinträchtigung der erreichten sozialen Stellung zugemutet werden können.

Zu Recht hat daher das LSG den Kläger auf die zumindest in diese Angestelltengruppe fallende Tätigkeiten im Sicherheitsbüro, in der Dienststelle des Staubbeauftragten, in der Schichtenzettelkontrolle, im Fehlschichtenbüro, im Maschinen- und Materialbestellwesen sowie in der Maschinenkartei für verweisbar erachtet. Diese Tätigkeiten können im allgemeinen nur Angestellte verrichten, die gründliche Kenntnisse und Erfahrungen über Arbeitsbedingungen und Arbeitsablauf in einem bergbaulichen Betrieb haben. Solche Kenntnisse wird ein Fahrhauer in aller Regel auf Grund seiner beruflichen Tätigkeit in ausreichendem Maße gewonnen haben. Andererseits erfordern die genannten Tätigkeiten keine ausgeprägten kaufmännischen Kenntnisse und Fertigkeiten.

Allerdings hat das LSG insoweit - gestützt auf das Ergebnis einer durch Anhörung mehrerer berufstechnischer Sachverständiger gepflogenen Beweisaufnahme - unangegriffen und damit für den erkennenden Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verbindlich festgestellt, daß der Kläger wegen der in seinem Falle gegebenen Besonderheiten - Beschäftigung ausschließlich auf einer Kleinzeche - die entsprechenden Kenntnisse und Fähigkeiten nicht besitze und außerdem wegen der bei ihm gegebenen speziellen gesundheitlichen Einschränkungen den kräftemäßigen Anforderungen einer solchen Tätigkeit nicht genügen kann. Freilich beschränkt sich diese Feststellung auf den konkreten Fall; ein allgemeiner Erfahrungssatz dahin, daß auf Kleinzechen beschäftigte Fahrhauer im Vergleich zu Fahrhauern auf großen Zechen hinsichtlich der Kenntnisse und Erfahrungen für die hier in Frage stehenden Verweisungstätigkeiten über geringere Kenntnisse und Erfahrungen verfügten, besteht nicht; im Einzelfall mag der Arbeitskreis eines Fahrhauers auf einer Kleinzeche - zumal, wenn er mit der Funktion eines stellvertretenden Betriebsleiters verknüpft ist - sogar umfassender und verantwortlicher sein. Dies wird das LSG bei der zu treffenden neuen Entscheidung zu berücksichtigen haben.

Was die rechtlich mögliche Verweisung des Klägers auf Tätigkeiten außerhalb des Bergbaues betrifft, so reichen die Feststellungen des LSG ebenfalls nicht aus, um eine abschließende Entscheidung zu treffen. Das Berufungsgericht hat sich insoweit im wesentlichen damit begnügt auszuführen, daß solche Tätigkeiten dem Kläger entweder sozial nicht zumutbar seien oder Kenntnisse und Fertigkeiten verlangten, die eine längere Einarbeitung voraussetzten. Eine nähere Kennzeichnung der Tätigkeiten, auf die das LSG hierbei abgestellt hat, fehlt. Zu einer eingehenden Prüfung hätte indessen schon deswegen Anlaß bestanden, weil, wie der Senat wiederholt ausgeführt hat (vgl. z. B. SozR Nr. 103 zu § 1246 RVO), § 46 Abs. 2 RKG (= § 1246 Abs. 2 RVO), nicht nur eine Verweisung auf dem bisherigen Beruf artverwandte, sondern auch auf eine berufsfremde Tätigkeit gestattet, soweit sie der Versicherte nach seinen gesundheitlichen Kräften und beruflichen Fähigkeiten verrichten kann; der betriebliche Stellenwert dieser Tätigkeit muß freilich der Bedeutung des bisherigen Berufes angemessen entsprechen. Das LSG wird daher nach Zurückverweisung auch in dieser Richtung die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben.

Nach allem war unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zu entscheiden wie geschehen und der Ausspruch im Kostenpunkt der Endentscheidung vorzubehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651773

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