Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei alkoholbedingter relativer Fahruntüchtigkeit
Leitsatz (redaktionell)
Der Umstand, daß zur Unfallzeit eine Blutalkoholkonzentration von 0,83 Promille festgestellt wurde, berechtigt die Tatsachengerichte nicht ohne weiteres zu der Argumentation, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß der Unfall auch ohne Alkoholeinfluß geschehen wäre.
Orientierungssatz
1. Wird der Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit (1,3 Promille Blutalkoholkonzentration) nicht erreicht, dann kann alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit nur dann nachgewiesen werden, wenn zusätzlich zu einer die Fahrleistung eines Kraftfahrers mindernden Blutalkoholkonzentration entsprechende sonstige Beweisanzeichen auf Fahruntüchtigkeit (relative Fahruntüchtigkeit) schließen lassen (vgl BSG 1981-03-31 2 RU 13/79 = HVGBG RdSchr VB 103/82 = USK 81162).
2. Ein Fehlverhalten beweist nur dann eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit, wenn es nicht ebenso gut auch andere Ursachen haben kann, wie zB jugendlicher Leichtsinn, persönlichkeitseigene Unaufmerksamkeit in Zuwendung zu einem Beifahrer, Lebenswandel und arbeitsbedingte körperliche Verfassung (vgl BSG 1978-02-02 8 RU 66/77 = BSGE 45, 285, 289).
3. Für eine Herabsetzung des Grenzwertes von 1,3 Promille Blutalkoholkonzentration besteht auch unter Berücksichtigung dessen kein Grund, daß die Führung eines Kraftfahrzeugs mit einer Alkoholmenge von 0,8 Promille im Blut oder einer Alkoholmenge im Körper des Kraftfahrers, die zu einer solchen Blutalkoholkonzentration führt, nach § 24a Abs 1 StVG als Ordnungswidrigkeit geahndet wird (Anschluß an BSG 1976-01-22 2 RU 239/73 = SozSich 1976, 188, BSG 1977-03-09 2 RU 35/76 = Meso B 330/33).
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01; StVG § 24a Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 23.11.1983; Aktenzeichen L 3 U 29/83) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 16.02.1983; Aktenzeichen S 5 U 76/82) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Unfallentschädigung des Klägers ausgeschlossen ist, weil er vor dem Unfall Alkohol getrunken hat.
Als 18-jähriger Bauschlosser erlitt der Kläger am Sonnabend, dem 27. September 1980, auf der Heimfahrt von seiner Betriebsstätte einen Verkehrsunfall. Er war seit knapp neun Monaten im Besitz einer Pkw-Fahrerlaubnis und befuhr am Steuer des auf seinen Vater zugelassenen Pkw aus dem Jahre 1971 vom Typ VW "Käfer", 34 PS, in Begleitung seines 18-jährigen Arbeitskameraden eine Kreisstraße. In einer zuerst nach links ausbiegenden Doppelkurve mit geringem Gefälle kam sein Fahrzeug etwa im Scheitelpunkt der ersten Ausbiegung rechts von der Fahrbahn ab, prallte gegen einen Telegrafenmast, der umgeknickt wurde, überschlug sich im Zurückschleudern und blieb nach etwa 30 Metern auf der Gegenfahrbahn auf den Rädern stehen. Der Kläger erlitt dabei ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und wurde in tiefer Bewußtlosigkeit (die bis zum 3. November 1980 andauerte) in das nächstgelegene Krankenhaus eingeliefert. Die dort 1 1/2 Stunden nach dem Unfall bei ihm entnommene Blutprobe zeigte eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,83 %o. Er hatte ebenso wie sein Begleiter Flaschenbier getrunken. Trinkmenge und Trinkende wurden nicht festgestellt. Als Unfallfolgen trug der Kläger eine Kalottenfraktur parietal bis temporo-basal rechts, bitemporale Contusionsherde, eine Hemiparese rechts sowie ein organisches Psychosyndrom mit allgemeiner psychischer Verlangsamung und Kritikminderung davon.
Die Beklagte lehnte es ab, den Unfall des Klägers als Arbeitsunfall zu entschädigen. Nach den von ihr eingeholten technischen und rechtsmedizinischen Gutachten sei die BAK zum Unfallzeitpunkt wahrscheinlich Ursache dafür gewesen, daß der Kläger praktisch reaktionslos auf den Telegrafenmast gefahren sei. Das schließe einen Arbeitsunfall aus (Bescheid vom 14. Januar 1982 und Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1982).
Vor dem Sozialgericht (SG) und dem Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger keinen Erfolg gehabt (Urteile vom 16. Februar 1983 und 23. November 1983). Das LSG hat sich mit dem Ermittlungsergebnis der Beklagten begnügt. Es ist ebenso wie diese davon ausgegangen, daß die BAK beim Kläger zur Unfallzeit 0,83 %o betragen habe. Dazu hat es die Rechtsmeinung vertreten, allein wegen der BAK sei erwiesen, daß der Kläger zur Unfallzeit aufgrund nicht betrieblicher Alkoholeinwirkung fahruntüchtig gewesen sei. Zwar liege (absolute) Verkehrsuntüchtigkeit - ohne Zulässigkeit eines Gegenbeweises - erst bei einer BAK von 1,3 %o und höher vor und unter dieser BAK-Grenze könne (relative) Fahruntüchtigkeit nur bei erkennbaren Ausfallerscheinungen festgestellt werden. Aber durch § 24a des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) sei die Grenze der allgemein anzunehmenden und darum nicht mehr hinzunehmenden erhöhten Gefährlichkeit durch mangelnde Verkehrstüchtigkeit bei 0,8 %o gezogen worden. Von dieser BAK-Grenze ab werde die Verkehrsuntüchtigkeit vermutet, ohne daß sichtbare Ausfallerscheinungen noch hinzukommen müßten. Nur bei einer BAK unter 0,8 %o müsse demzufolge die Fahruntüchtigkeit durch zusätzliche Einzelumstände zum Ausdruck kommen. Sonst sei sie - anders als bei einer BAK ab 0,8 %o - noch keine konkret in Betracht zu ziehende Möglichkeit eines Ursachenbeitrags zu dem Unfall. Da im Falle des Klägers nicht ersichtlich sei, daß sich der Unfall auch ohne den bei einer BAK von 0,83 %o gesetzlich vermuteten Abfall des Leistungsvermögens im Kraftfahrzeugverkehr ereignet haben würde, sei seine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Bedingung des Unfalls.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß allein aufgrund einer BAK von 0,8 %o alkoholbedingte, relative Fahruntüchtigkeit angenommen werden müsse, die geeignet sei, den Unfallversicherungsschutz auszuschließen. Eine solche tatsächliche oder rechtliche Vermutung gebe es nicht. Damit habe das LSG ohne die gemäß § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Amts wegen erforderliche Sachaufklärung seine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit in rechtswidriger Weise unterstellt.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Urteile und Bescheide zu verurteilen, ihm den Unfall vom 27. September 1980 als Arbeitsunfall zu entschädigen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Das LSG sei rechtsfehlerfrei zu dem Schluß gelangt, daß lediglich eine alkoholbedingte Verlangsamung der Reaktionsfähigkeit des Klägers als Erklärung dafür übrig bleibe, daß er sein Fahrzeug nicht auf der Fahrbahn gehalten oder es jedenfalls nicht mit reflexartiger Schnelligkeit auf sie zurückgelenkt habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Für eine Entscheidung darüber, ob dem Kläger wegen der Folgen des umstrittenen Unfalls Entschädigung aus der Unfallversicherung zusteht, fehlen die erforderlichen Tatsachenfeststellungen. Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Beschäftigung zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 539 Abs 1 Nr 1, § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Damit wird der gesetzliche Unfallversicherungsschutz auf Wege ausgedehnt, deren Zurücklegen der versicherten Beschäftigung, am Ort der Tätigkeit (§§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO) zuzurechnen ist, weil ein sogenannter "innerer, ursächlicher Zusammenhang mit der Beschäftigung" besteht (vgl Roewer, Zweites Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925, RGBl I 97 - mit dem die Wegeunfallversicherung in § 545a RVO aF erstmals eingeführt wurde - 2. Aufl 1926, S 72 ff).
Das LSG hat dazu - ohne zulässige Rüge der Beklagten im Revisionsverfahren - festgestellt, daß sich der Kläger während der Unfallfahrt auf einem solchen Heimweg befand. Zutreffend hat das LSG aber berücksichtigt, daß nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Entstehung eines Entschädigungsanspruchs gehindert sein kann, wenn der Versicherte - nicht beschäftigungsbedingt - Alkohol zu sich nimmt. Versetzt sich ein versicherter Kraftfahrer auf diese Weise in den Zustand der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit, dann ist er von dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ausgeschlossen, wenn seine Fahruntüchtigkeit als die rechtlich allein wesentliche Ursache anzusehen ist (vgl BSGE 12, 242, 245 = SozR Nr 27 zu § 542 RVO aF; BSGE 48, 228, 229 = SozR 2200 § 548 Nr 46).
Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat im Ergebnis an. Nicht zuletzt zur wirksamen Unfallverhütung im Interesse der Versichertengemeinschaft hat damit ein vorwerfbares Verhalten des Versicherten - abgesehen von der absichtlichen Herbeiführung eines Arbeitsunfalls (§ 553 RVO) - ausnahmsweise den Ausschluß des Versicherungsschutzes zur Folge, wenn es im Rechtssinne die einzige Unfallursache war (so auch schon Schulte-Holthausen, Unfallversicherung, 4. Aufl 1929, § 544, Anm 8a S 53, zur Berücksichtigung auch grobfahrlässigen Verhaltens des Versicherten, wenn dadurch die Beziehungen zum Betrieb gelöst werden).
Jedoch ist das LSG rechtsfehlerhaft zu der Entscheidung gelangt, daß der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls in diesem Sinne fahruntüchtig gewesen sei. Alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit, bei einem Kraftfahrer als Fahruntüchtigkeit zu verstehen, muß erwiesen sein, während der ursächliche Zusammenhang zwischen einem solchen Zustand und einem Unfall nur wahrscheinlich zu sein braucht (BSGE 45, 285, 286 = SozR 2200 § 548 Nr 38).
Kommt für einen auf einem grundsätzlich versicherten Weg erlittenen Verkehrsunfall alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit als (Mit-)Ursache in Betracht, so ist die Beweislast im Sinne der Feststellungslast in der Weise verteilt, daß sie in der Regel der Versicherungsträger für das Vorliegen und die (Mit-)Ursächlichkeit der Fahruntüchtigkeit trägt, dagegen der Versicherte für das Vorliegen und die (Mit-)Ursächlichkeit betriebsbezogener Umstände und Wegegefahren (BSGE 43, 110 = SozR 2200 § 548 Nr 27).
Ein Kraftfahrer ist bei einer BAK von 1,3 %o und mehr oder mit einer Alkoholmenge im Körper, die zu einer BAK von 1,3 %o oder mehr führt, absolut, dh ohne Rücksicht auf sonstige Beweisanzeichen, fahruntüchtig (vgl BSGE 34, 261 und BSGE 48, 228). Wird der Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit (1,3 %o BAK) nicht erreicht, dann kann alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit nur dann nachgewiesen werden, wenn zusätzlich zu einer die Fahrleistung eines Kraftfahrers mindernden BAK (sei dieser Wert ermittelt oder nicht, vgl BSGE 45, 285, 288) entsprechende sonstige Beweisanzeichen auf Fahruntüchtigkeit (relative Fahruntüchtigkeit) schließen lassen (vgl zuletzt BSGE 45, 285, 289; 48, 228, 231 und BSG-Urteil vom 31. März 1981 - 2 RU 13/79 - HVGBG RdSchr VB 103/82 = USK 81162 jeweils mwN). Als solche Beweisanzeichen für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit kommen die Fahrweise des Betroffenen - wie zB überhöhte Geschwindigkeit, das Fahren in Schlangenlinien und plötzliches Bremsen - im Verhältnis zur Verkehrslage und zu den Straßen-, Sicht- und Wetterumständen sowie sein Verhalten vor, bei und nach dem Unfall in Betracht. Ein Fehlverhalten beweist allerdings nur dann eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit, wenn es nicht ebenso gut auch andere Ursachen haben kann, wie zB jugendlicher Leichtsinn, persönlichkeitseigene Unaufmerksamkeit in Zuwendung zu einem Beifahrer, lebenswandel- und arbeitsbedingte körperliche Verfassung (vgl BSGE 45, 285, 289).
Erst wenn bei einem Verkehrsunfall eine auf unternehmensfremdem Alkoholgenuß beruhende Fahruntüchtigkeit auf diese Weise absolut oder relativ festgestellt worden ist, darf die weitere Entscheidung getroffen werden, ob sie neben anderen Mitursachen die rechtlich allein wesentliche Ursache gewesen ist (vgl BSG, Urteil vom 9. März 1977, 2 RU 35/76 Medizin im Sozialrecht -Meso- B 330/33).
Das LSG kann für seine Meinung, alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit lasse sich bereits oberhalb der 0,8 %o-Grenze ohne zusätzliche Beweisanzeichen feststellen, weder einen allgemeinen Erfahrungssatz noch eine für die gesetzliche Unfallversicherung geltende Rechtsvermutung anführen. Das BSG hat vielmehr entschieden, daß für eine Herabsetzung des Grenzwertes von 1,3 %o BAK auch unter Berücksichtigung dessen kein Grund besteht, daß die Führung eines Kraftfahrzeuges mit einer Alkoholmenge von 0,8 %o im Blut oder einer Alkoholmenge im Körper des Kraftfahrers, die zu einer solchen BAK führt, nach § 24a Abs 1 StVG als Ordnungswidrigkeit geahndet wird. Die Ordnungswidrigkeit hängt gerade nicht vom Nachweis der Fahruntüchtigkeit ab. Das Gutachten des Bundesgesundheitsamts "Alkohol bei Verkehrsstraftaten" (Kirschbaum-Verlag 1966, bearbeitet von Lundt und Jahn), auf dessen Empfehlung die Einführung des "Gefahrengrenzwertes" von 0,8 %o beruht, geht ausdrücklich davon aus, daß im Einzelfall eine Fahrunsicherheit nicht nachgewiesen zu werden brauche (Gutachten S 47; vgl BSG-Urteile vom 22. Januar 1976, 2 RU 239/73 SozSich 1976, 188, und vom 9. März 1977, aaO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, Band II, 60. Nachtrag September 1983, S 487u mwN). Die Festlegung des Grenzwertes für die absolute Fahruntüchtigkeit wird dadurch also nicht berührt. Der 9b Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.
Die Entscheidung, ob sonstige Beweisanzeichen für die Fahruntüchtigkeit des Klägers sprechen, kann der Senat nicht selber treffen. Zwar hat das LSG anhand der teilweise lückenhaften Ermittlungen der Beklagten und anhand der beigezogenen Akten der Kreisverwaltung A. einige Umstände im Urteil erörtert. Dies erfolgte jedoch nur bei der Prüfung, ob neben der - vom LSG unterstellten, aber unzureichend festgestellten - alkoholbedingten relativen Fahruntüchtigkeit noch andere Mitursachen den Unfall wesentlich herbeigeführt haben. Eine Würdigung dieser und etwaiger weiterer Umstände zum tatsächlichen Nachweis alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit des Klägers hat das LSG aufgrund seiner abweichenden Rechtsansicht nicht vorgenommen.
Das Berufungsurteil war somit aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten
Fundstellen