Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 24.07.1968; Aktenzeichen L 6b Lw 8/68)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Juli 1968 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 2. November 1966 der Klägerin die begehrte Unfallhinterbliebenenentschädigung, weil der am 23. Dezember 1965 eingetretene Tod ihres Ehemannes mit dessen betrieblicher Tätigkeit nicht zusammenhänge.

Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat aus denselben Erwägungen durch Urteil vom 21. März 1968 die hiergegen erhobene Klage abgewiesen.

Im Klageverfahren war die Klägerin durch die Rechtsanwälte F. und Sch. (F.u.Sr.) vertreten. Diese haben mit Schriftsatz vom 20. Mai 1968 gegen die Entscheidung des Erstgerichts beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen Berufung eingelegt. Die Berufungsschrift ist beim LSG am 22. Mai 1968 eingegangen.

Mit Schriftsatz vom 22. Mai 1968, beim Berufungsgericht eingegangen am 24. Mai 1968, haben die Rechtsanwälte Sch. und L. (S.u.L.) unter Vorlage einer Prozeßvollmacht sowie unter Hinweis darauf, daß sie Prozeßbevollmächtigte zweiter Instanz, die Rechtsanwälte F.u.Sr. Prozeßbevollmächtigte erster Instanz seien, ebenfalls Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 1. Juni 1968 haben die Rechtsanwälte F.u.Sr. mitgeteilt, sie nähmen”die Berufung vom 22. Mai 1968” zurück.

Auf den Hinweis des Vorsitzenden des zuständigen Senats des LSG, daß durch die Zurücknahme der Berufung der Rechtsstreit erledigt sei, haben die Rechtsanwälte S.u.L. nach Rücksprache mit der Klägerin wie folgt erwidert: Die Klägerin habe, nachdem sie ihnen den Auftrag zur Führung des Rechtsstreits in der zweiten Instanz erteilt habe, die Kanzlei ihrer Prozeßbevollmächtigten, welche sie im ersten Rechtszug vertreten hatten, fernmündlich davon verständigt, diese möchten „die Sache zum Abschluß bringen”; den Inhalt dieses Telefongesprächs habe sie den Rechtsanwälten F.u.Sr. mit Schreiben vom 24. Mai 1968 bestätigt. Daraufhin hätten diese Prozeßbevollmächtigten das von ihnen eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen. Die mit Schriftsatz vom 22. Mai 1968 eingelegte Berufung sei hingegen nach wie vor wirksam.

Das LSG hat durch Urteil vom 24. Juli 1968 festgestellt, daß die Zurücknahme der Berufung den Verlust des Rechtsmittels bewirkt habe. Zur Begründung hat es ausgeführt: Aufgrund der Prozeßvollmachten müsse davon ausgegangen werden, daß die Klägerin im Berufungsverfahren sowohl von den Rechtsanwälten F.u.Sr. als auch von den Rechtsanwälten S.u.L. vertreten werde. Der Klägerin habe gegen das Urteil des SG nur „die” Berufung offengestanden. Diese hätten bereits die Rechtsanwälte F.u.Sr. rechtswirksam eingelegt. Der zwei Tage später eingereichte Schriftsatz der Rechtsanwälte S.u.L. enthalte nur eine Wiederholung oder Bestätigung dieses Rechtsmittels. Die Rechtsanwälte F.u.Sr. seien aufgrund ihrer Prozeßvollmacht berechtigt gewesen, „die” Berufung der Klägerin zurückzunehmen. Es sei nicht ersichtlich, daß ihr Mandat in diesem Zeitpunkt erloschen gewesen sei. Diese Zurücknahme der Berufung bewirke – abweichend von § 515 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) – den Verlust des Rechtsmittels schlechthin.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel durch ihre Prozeßbevollmächtigten eingelegt und es wie folgt begründet: In der von den Rechtsanwälten S.u.L. unterzeichneten Berufungsschrift sei deutlich zum Ausdruck gebracht worden, daß die Rechtsanwälte F.u.Sr. nur Prozeßbevollmächtigte der ersten Instanz seien; der Schriftsatz vom 22. Mai 1968 habe also nicht nur die Einlegung der Berufung zum Inhalt gehabt, sondern, auch den Widerruf der den Prozeßbevollmächtigten des ersten Rechtszuges erteilten Prozeßvollmacht. Dies habe jedoch zur Folge gehabt, daß die früheren Prozeßbevollmächtigten die von den Prozeßbevollmächtigten der zweiten Instanz eingelegte Berufung nicht rechtswirksam hätten zurücknehmen können.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Aus dem Schriftsatz der Rechtsanwälte S.u.L. vom 22. Mai 1968 ergebe sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit, daß den Rechtsanwälten F.u.Sr. das Mandat entzogen worden sei.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist, obwohl das LSG sie nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–), statthaft, weil die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin zutreffend einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts rügen (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Mit Recht geht das LSG allerdings davon aus, daß – anders als nach § 515 Abs. 3 ZPO – im sozialgerichtlichen Verfahren die Zurücknahme der Berufung den Verlust des Rechtsmittels schlechthin bewirkt. Dies hat der erkennende Senat im Hinblick auf den von § 515 Abs. 3 ZPO deutlich abweichenden Wortlaut des § 156 SGG in Übereinstimmung mit dem Schrifttum im Urteil vom 26. April 1963 (BSG 19, 120 = NJW 1963, 2047) entschieden. Die Ansicht der Revision, die Rechtsanwälte F.u.Sr. hätten die von ihnen – den Rechtsanwälten S.u.L. – eingelegte Berufung nicht rechtswirksam zurücknehmen können, trifft in dieser Allgemeinheit somit nicht zu.

Die den Rechtsanwälten F.u.Sr. von der Klägerin erteilte Prozeßvollmacht ist jedoch – entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – im Zeitpunkt der Zurücknahme der Berufung durch diese Prozeßbevollmächtigten erloschen gewesen, da die Klägerin diese Prozeßvollmacht widerrufen hat und dies dem LSG durch den Schriftsatz der Rechtsanwälte S.u.L. vom 22. Mai 1968 bekanntgegeben worden ist.

Eine Prozeßvollmacht endet allerdings nicht ohne weiteres von selbst durch die Bestellung eines Vertreters für die höhere Instanz (RG, Seuff Arch., 85. Band, Nr. 195; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., § 50 II 7b; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Rand-Nr. 43 zu § 73 SGG). Der Vollmachtgeber muß vielmehr dem Prozeßbevollmächtigten das Mandat entziehen und dem Gericht, bei dem die Sache anhängig ist, vom Erlöschen der Vollmacht Kenntnis geben, § 87 ZPO, der Näheres über die Kündigung der Prozeßvollmacht vorschreibt, ist, da auf diese Vorschrift in § 73 Abs. 4 SGG nicht verwiesen ist, im sozialgerichtlichen Verfahren zwar nicht unmittelbar anwendbar. Nach allgemeinen Grundsätzen ist für dieses Verfahren indessen davon auszugehen, daß die Kündigung einer Prozeßvollmacht durch den Vollmachtgeber jedenfalls mit der entsprechenden Mitteilung an das Gericht wirksam wird (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 1.2.1969, Bd. I, S. 234 und II; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., Stand: April 1969, Anm. 3g zu § 73 SGG). Da als Anzeige der Kündigung sogar nach § 87 ZPO – sowohl gegenüber dem Gegner als auch gegenüber dem Gericht (RG, JW 1932, 109) – jede schlüssige Handlung, etwa die Zustellung eines Schriftsatzes, genügt, in dem erklärt wird, daß der neue Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigter an die Stelle des früheren und nicht neben ihn tritt (RGZ 95, 338; Wieczorek, Kommentar zur ZPO, Anm. A III Abs. 1 zu § 87 ZPO; Baumbach-Lauterbach, Kommentar zur ZPO, 29. Aufl., Anm. 2 zu § 87 ZPO) können insoweit in der Sozialgerichtsbarkeit angesichts des Fehlens von Verfahrensnormen keine strengeren Formerfordernisse verlangt werden.

Im Schriftsatz der Rechtsanwälte S.u.L. vom 22. Mai 1968 ist mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, daß im zweiten Rechtszug allein die Rechtsanwälte S.u.L. als Prozeßbevollmächtigte der Klägerin auftreten sollten, die Prozeßvollmacht der im Klageverfahren tätig gewesenen Rechtsanwälte dagegen auf diese Instanz beschränkt sein sollte. Die Prozeßbevollmächtigten des ersten Rechtszuges sind zwar auch im Berufungsverfahren tätig geworden. Dazu waren sie, solange der ihnen erteilte Auftrag zur Prozeßführung nicht zurückgenommen war, berechtigt; die Klägerin mußte ihre Prozeßhandlungen gegen sich gelten lassen, solange sie gegenüber dem Berufungsgericht ihre – nicht von vornherein auf die erste Instanz beschränkte – Prozeßvollmacht nicht widerrufen hatte. Die Rechtsanwälte F.u.Sr. haben somit rechtswirksam Berufung beim LSG eingelegt. Durch den zwei Tage später beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz der Rechtsanwälte S.u.L. ist dem Gericht jedoch deutlich erkennbar mitgeteilt worden, daß die Klägerin im zweiten Rechtszug durch die Prozeßbevollmächtigten des Klageverfahrens nicht mehr vertreten werde. Die Beendigung der Bevollmächtigung brauchte die Vollmachtgeberin dem Gericht nicht selbst mitzuteilen. Es genügte hierzu, obwohl die Prozeßbevollmächtigten erster Instanz auch im Berufungsverfahren tätig gewesen waren, die Mitteilung der neuen Prozeßbevollmächtigten (ähnlich RG, JW 1932, 1553, 1554, a.A. Wieczorek, aaO, Anm. A III, Abs. 2 zu § 87 ZPO). Es wäre zuviel verlangt und eher geeignet, Verwirrung zu stiften, wollte man eine solche Erklärung stets vom – häufig rechtsungewandten – Vollmachtgeber fordern.

Da seit Eingang des Schriftsatzes der Rechtsanwälte S.u.L. vom 22. Mai 1968 beim. Berufungsgericht die Rechtsanwälte F.u.Sr. für die Klägerin im zweiten Rechtszug nicht mehr rechtswirksam Prozeßhandlungen vornehmen konnten, ist ihre dennoch im Schriftsatz vom 1. Juni 1968 erklärte Zurücknahme „ihres” Rechtsmittels – die Prozeßbevollmächtigten haben dabei offensichtlich § 515 Abs. 3 ZPO im Auge gehabt – ohne rechtliche Bedeutung. Dies hat zur Folge, daß das LSG sich nicht mit einem Prozeßurteil hätte begnügen dürfen, sondern in der Sache hätte entscheiden müssen. Da dies nicht geschehen ist, liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts nach § 162 Abs. 2 Nr. 2 SGG vor. Dieser ist von der Revision gerügt worden.

Der Senat kann in der Sache nicht entscheiden, weil entsprechende tatsächliche Feststellungen des Berufungsgerichts fehlen. Deshalb war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Entscheidung des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Unterschriften

Brackmann, Dr. Baresel, Dr. Kaiser

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926667

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