Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen bei einem Unfall, der sich infolge alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers ereignet hat, Versicherungsschutz für den Mitfahrer besteht, der die Fahruntüchtigkeit des Kraftfahrers gekannt hat.

 

Normenkette

RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Urteile des Sozialgerichts Hannover vom 11. Oktober 1955 und des Landessozialgerichts Celle vom 13. August 1957 mit Ausnahme der Gebührenfestsetzungen für den Prozeßbevollmächtigten der Kläger, sowie der Bescheid der Beklagten vom 24. April 1954 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt. den Klägern wegen des Arbeitsunfalls, der dem Franz N am 5. August 1953 zugestoßen ist, die gesetzliche Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Kläger sind die Hinterbliebenen des Handelsvertreters F N (N), der am 5. August 1953 etwa um 0,30 Uhr bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn Hannover-Köln getötet wurde. N. war bei der Firma D in Hannover (Einrichtung von Tankstellen und Handel mit Tankstellenzubehör) beschäftigt. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hatte ihn der bei derselben Firma beschäftigte Vertreter H (H) am 4. August 1953 um 7,30 Uhr zu einer Geschäftsfahrt mit einem der Firma gehörenden, von H. gesteuerten Pkw abgeholt. Auf der Fahrt, die zu mehreren Ortschaften führte, wurden eine Reihe von Kunden und ein weiterer Vertreter der Firma aufgesucht. N. verhandelte noch zwischen 21 und 22 Uhr mit einem Interessenten in R. über die Errichtung einer Tankstelle. Anschließend fuhren H. und N. nach Beckedorf, wo ein Kunde wohnte, den sie in der Gastwirtschaft "Beckedorfer Höhe" treffen wollten; dieser blieb jedoch aus. H. und N. hielten sich in der Gastwirtschaft etwa von 23 bis 24 Uhr auf und tranken Bier und Kaffee. N. rief die Klägerin zu 1) an und teilte ihr mit, er wolle in der Gastwirtschaft übernachten, da er mit H., der betrunken sei, nicht weiterfahren könne. N. und H. - dieser entschloß sich gleichfalls zum Übernachten - bestellten sich Zimmer Nach dem Bezahlen der Zeche gingen sie hinaus, um den Wagen, der zu weit auf der Fahrbahn stand, näher an das Haus heranzusetzen; H. saß hierbei am Steuer, während N. von außen schob. Zur Überraschung des zuschauenden Gastwirts stieg N. plötzlich in den Wagen, der davonfuhr. In etwa 15 km Entfernung von Beckedorf - für die Zurücklegung dieser Strecke hat das LSG 15 bis 20 Minuten Fahrzeit veranschlagt - fuhr der Pkw auf den beleuchteten Anhänger eines langsam und vorschriftsmäßig rechts fahrenden Lastzuges auf. Der Fahrer H. und der neben ihm sitzende N. waren sofort tot. Bei H. wurde ein Blutalkoholgehalt von 2,95 0 / 00 ermittelt; von N. wurde keine Blutprobe entnommen.

Die Beklagte war der Auffassung, N. habe sich vom Betriebe gelöst, indem er sich zu dem fahruntüchtigen H. in den Wagen gesetzt und damit in einen außerbetrieblichen Gefahrenbereich begeben habe; sie lehnte durch Bescheid vom 24. April 1954 die Gewährung der Hinterbliebenenentschädigung an die Kläger ab.

Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 11. Oktober 1955 die Klage abgewiesen: Der Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit sei dadurch gelöst gewesen, daß N. sich seit 23 Uhr eigenwirtschaftlich betätigt habe.

Auch die Berufung der Kläger hatte keinen Erfolg. Das LSG hat in seinem Urteil vom 13. August 1957 (vgl. BB 1958, 195 = Niedersächs.Min.Bl. 1958, Rechtspr.Beilage S. 15) angenommen, daß der Aufenthalt in der Gastwirtschaft "Beckedorfer Höhe" zwar eine Unterbrechung der Geschäftsfahrt bedeutete, aber noch nicht zu einer endgültigen Lösung vom Betriebe führte. Der Versicherungsschutz für N. sei danach aber gleichwohl entfallen. Dem Versicherten stehe es zwar frei, welches Verkehrsmittel er für seine Geschäftsfahrten benutzen wolle, es müsse nur hierzu geeignet sein. Dies treffe nicht zu bei einem Kraftfahrzeug, an dessen Steuer ein fahruntüchtiger Fahrer sitze; der Versicherte, der die Fahruntüchtigkeit des Fahrers seines Fahrzeugs erkannt habe, handele, wenn er dieses Fahrzeug trotzdem benutze, nicht mehr nur leichtsinnig oder grob fahrlässig (§ 542 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), sondern er benutze damit ein Verkehrsmittel, mit dem er objektiv seine Betriebstätigkeit, nämlich die Geschäftsfahrt, nicht durchführen könne; er handele also eigenwirtschaftlich und verliere wegen Lösung vom Betrieb den Versicherungsschutz. N. habe die durch den Blutalkoholgehalt von 2,95 0 / 00 nachgewiesene schwere Trunkenheit des H. erkennen können; denn N. selbst habe nach Zeugenaussagen nicht erheblich unter Alkoholeinwirkung gestanden. Daß N. die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit seines Fahrers auch tatsächlich erkannt habe, folge aus seiner fernmündlichen Mitteilung an die Klägerin zu 1), er und H. könnten keinesfalls weiterfahren, weil H. unter Alkohol stehe. Erwiesen sei schließlich, daß N. die Weiterfahrt von Beckedorf aus freiem Entschluß angetreten habe und nicht etwa - wie die Kläger behaupteten - von H. durch Überlistung hierzu genötigt worden sei. H. sei auch nicht der Vorgesetzte des N. gewesen, so daß dahingestellt bleiben könne, wie der Versicherungsschutz des Mitfahrers zu beurteilen sei, wenn der betrunkene Fahrer dessen Arbeitgeber oder Vorgesetzter sei. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 27. September 1957 zugestellte Urteil haben die Kläger am 25. Oktober 1957 Revision eingelegt und sie am 23. November 1957 begründet: N. habe sich entgegen der Ansicht des LSG durch das Mitfahren mit H. nicht vom Betriebe gelöst. Die Annahme des LSG, N. habe die Weiterfahrt von Beckedorf freiwillig angetreten, beruhe auf fehlerhafter Beweiswürdigung. Zu der Frage, ob H. Vorgesetzter des N. gewesen sei, habe das LSG den Sachverhalt nicht hinreichend erforscht. Die Kläger beantragen,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenbezüge zu verurteilen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei und meint, gegen den Entschädigungsanspruch spreche außerdem noch der Gesichtspunkt, daß N. durch seine Fahrt mit dem betrunkenen H. sich in einen betriebsfremden Gefahrenbereich begeben habe.

II

Die Revision ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig.

Sie hatte auch Erfolg.

Übereinstimmend mit dem LSG hat der erkennende Senat angenommen, daß der Besuch der Gastwirtschaft "Beckedorfer Höhe" und der Aufenthalt daselbst nicht den Abbruch der Geschäftsfahrt darstellten und demgemäß auch nicht zur Lösung des Zusammenhanges mit der von N. ausgeübten Betriebstätigkeit führten; denn der Zweck des Besuches war anfänglich das Treffen mit einem dort erwarteten Kunden, und der etwa einstündige Aufenthalt konnte als angemessene Rastpause nach der schon 14 Stunden dauernden Geschäftsfahrt den Verlust des Versicherungsschutzes nicht bewirken. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die anschließende Fahrt, auf welcher sich der für H. und N. tödlich verlaufene Verkehrsunfall ereignete, anderen Zwecken als der an sich unter Versicherungsschutz stehenden Zurücklegung des Heimwegs von der Geschäftstour gedient haben könnte.

Das LSG hat gleichwohl die Weiterfahrt von der Gastwirtschaft zur Unfallstelle als nicht mehr versichert angesehen, und zwar hinsichtlich des N. deshalb, weil dieser die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des H. erkannt, trotzdem sich aber diesem Fahrer anvertraut habe; N. habe damit ein Verkehrsmittel benutzt, mit dem er objektiv seine Betriebstätigkeit nicht durchführen konnte. Diesen Erwägungen hat der erkennende Senat nicht beigepflichtet. Auszugehen ist hierbei von der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Verlust des Unfallversicherungsschutzes bei Trunkenheit am Steuer (vgl. BSG 12, 242, SozR RVO § 543 Bl. Aa 23 Nr. 30). Danach ist ein infolge Alkoholgenusses absolut fahruntüchtiger Kraftfahrer nicht ohne weiteres schon von Beginn der Fahrt an unversichert; vielmehr erhält - vom Zustand des Vollrausches abgesehen, der eine zweckgerichtete Tätigkeit ausschließt - ein alkoholbeeinflußter Kraftfahrer, der sein Kraftfahrzeug zwar nicht mehr verkehrssicher steuern, aber immerhin tatsächlich noch fahren kann, beim Fahren den Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufrecht (BSG 12, 245). Dies bedeutet im vorliegenden Fall, daß der alkoholbeeinflußte Fahrer H. trotz seiner, durch die Blutalkoholkonzentration von 2,95 0 / 00 später nachgewiesenen absoluten Fahruntüchtigkeit bei der Abfahrt aus Beckedorf noch unter Versicherungsschutz gestanden hat. Folgerichtig kann auch der Versicherungsschutz für N. nicht schon bei Antritt der Weiterfahrt als erloschen angesehen werden, sonst würden nämlich - nach Ansicht des Senats zu Unrecht - für den Versicherungsschutz des selbst bei der Fahrt nicht tätigen Mitfahrers strengere Grundsätze - nämlich diejenigen der früheren Rechtsprechung des Senats (BSG 3, 116) - gelten als für den des Fahrers. Bereits hieraus ergeben sich grundsätzliche Bedenken gegen den vom LSG angenommenen Standpunkt, der Mitfahrer, der sich in dem Fahrzeug trotz Kenntnis der Trunkenheit des Fahrers befördern lasse, handele damit eigenwirtschaftlich, weil er ein objektiv für die Durchführung der Betriebstätigkeit ungeeignetes Verkehrsmittel benutze. Die Annahme einer solchen objektiven Ungeeignetheit ist mit den Grundsätzen zum Versicherungsschutz für den unter Alkoholeinfluß stehenden Kraftfahrer unvereinbar.

Für den infolge Trunkenheit fahruntüchtigen Kraftfahrer entfällt der Versicherungsschutz vielmehr erst dann, wenn die Fahruntüchtigkeit die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund drängt, daß sie als die rechtlich allein wesentliche Ursache anzusehen ist, d.h. wenn der Kraftfahrer nach der Lebenserfahrung in nicht alkoholbeeinflußtem Zustand bei sonst gleicher Sachlage wahrscheinlich nicht verunglückt wäre. Entscheidend für den Verlust des Versicherungsschutzes ist demnach beim Kraftfahrer ein - unter Umständen durch den Beweis des ersten Anscheins nachweisbares - unrichtiges Verhalten im Verkehr, welches auf den Alkoholgenuß zurückzuführen ist (BSG 12, 246). Im vorliegenden Fall sprechen die tatrichterlichen Feststellungen in Verbindung mit den - im angefochtenen Urteil verwerteten - Ermittlungen der Staatsanwaltschaft dafür, daß nach der Art des Unfallherganges für H. der Versicherungsschutz ausgeschlossen war. Eine solche Einwirkung auf den Geschehensablauf durch das Fehlverhalten des fahruntüchtigen Kraftfahrers H. ist aber nach Ansicht des Senats nicht ohne weiteres geeignet, die gleichen versicherungsrechtlichen Folgen auch für den Mitfahrer N. auszulösen, von dem das LSG lediglich angenommen hat, daß er - selbst nicht erheblich angetrunken - die schwere Trunkenheit des H. erkannt habe, trotzdem aber aus freien Stücken mit diesem von Beckedorf weitergefahren sei.

Dem vom LSG hervorgehobenen, durch die fernmündliche Mitteilung an die Klägerin zu 1) nachgewiesenen Entschluß des N., in der Gastwirtschaft "Beckedorfer Höhe" zu übernachten, käme allerdings Bedeutung zu, wenn die bald danach erfolgte Änderung des Entschlusses ein völlig unvernünftiges, mit dem Zweck der Betriebsfahrt nicht zu vereinbarendes Verhalten des N. erkennen ließe. Dies wäre anzunehmen, falls der Mitfahrer trotz seiner Kenntnis, daß der Fahrer nicht bloß stark angetrunken und damit fahruntüchtig, sondern durch Volltrunkenheit zu keinerlei zweckgerichteter Tätigkeit mehr fähig ist, sich doch zu ihm in den Wagen setzen und schon alsbald nach dem Start - wie in solchen Fällen mit Sicherheit zu erwarten - verunglücken würde. Darin wäre zweifellos ein Anwendungsfall des Begriffs der selbstgeschaffenen Gefahrenerhöhung zu erblicken, welche der versicherten Tätigkeit nicht zuzurechnen ist (vgl. BSG 6, 165, 169). Die festgestellten Umstände des vorliegenden Falles lassen jedoch im Gegenteil erkennen, daß N. bei seinem Fahrer H. einen solchen Vollrausch nicht annehmen mußte; denn H. hat noch 15 bis 20 Minuten lang bei Nacht eine etwa 15 km lange Strecke offenbar ohne Zwischenfall zurückgelegt. Darüber hinaus ist der vorliegende Fall dadurch gekennzeichnet, daß N. auf die Beförderung mit dem firmeneigenen Kraftwagen angewiesen war, wenn er zu der fraglichen Nachtzeit noch seinen Wohnort erreichen wollte, von wo aus er am folgenden Tage rechtzeitig wieder zu seiner Arbeitsstätte nach Hannover gelangen mußte. Die Handlungsweise des N., der seine anfänglich gehegten Bedenken zurückstellte und sich doch von H. weiterfahren ließ, kann also nicht in dem gekennzeichneten Sinne als unvernünftig und betriebsfremd angesehen werden.

Von diesem besonderen - im vorliegenden Fall nicht einschlägigen - Gesichtspunkt abgesehen, kann nach Meinung des Senats der Versicherungsschutz des Mitfahrers weiterhin beeinträchtigt werden, wenn dieser selbst durch sein eigenes alkoholbeeinflußtes Verhalten das Zustandekommen des Unfalles wesentlich mitverursacht hat, zB durch Behinderung oder Ablenkung des Fahrers. Gleich zu beurteilen wäre der Fall, wenn der selbst nicht dem Alkohol zusprechende Mitfahrer den Alkoholgenuß des Fahrers fördert oder auch nur - entgegen einer etwa aus dem Beschäftigungsverhältnis folgenden Verpflichtung - nicht verhindert (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, SozR RVO § 542 Ab 16 Nr. 126). Anhaltspunkte dafür, daß N. auf derartige Weise zum Zustandekommen des Unfalles - eventl. auch nur mittelbar - ursächlich beigetragen haben könnte, sind indessen aus dem festgestellten Sachverhalt nicht ersichtlich.

Dieser Sachverhalt rechtfertigt vielmehr den Schluß, das N. - entgegen dem von den Vorinstanzen und der Beklagten vertretenen Standpunkt - zur Zeit des Unfalles sich noch unter Versicherungsschutz befand und sein tödlicher Unfall demnach ein Arbeitsunfall war. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die Fragen an, ob er freiwillig einstieg oder von H. durch Überlistung zur Weiterfahrt genötigt wurde und ob H. sein betrieblicher Vorgesetzter war. Die insoweit von der Revision erhobenen Verfahrensrügen bedurften somit keiner Prüfung.

Der Senat war auf Grund der vom LSG getroffenen Feststellungen in der Lage, über die begründete Revision in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Entschädigungsanspruch der Kläger ist dem Grunde nach gerechtfertigt. Gemäß § 130 Satz 1 SGG war daher, wie geschehen, zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2297081

BSGE, 64

NJW 1961, 1600

MDR 1961, 801

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