Leitsatz (redaktionell)

1. Zum Unfallversicherungsschutz eines betrunkenen Mitfahrers, der vor Antritt der Fahrt zusammen mit dem Fahrzeugführer getrunken hat.

2. Ein infolge Alkoholgenusses absolut fahruntüchtiger Kraftfahrer ist nicht schon ohne weiteres vom Beginn der Fahrt an unversichert. Vielmehr steht - vom Zustand des Vollrausches abgesehen, welcher eine zweckgerichtete Tätigkeit ausschließt - ein Kraftfahrer, der sein Fahrzeug zwar nicht mehr verkehrssicher steuern, es aber noch fahren kann, grundsätzlich unter Unfallversicherungsschutz.

3. Solange Unfallversicherungsschutz für den unter Alkoholeinfluß stehenden Kraftfahrzeuglenker besteht, gilt das grundsätzlich auch für den Mitfahrer, es sei denn, daß dieser durch sein alkoholbedingtes Verhalten den Unfall wesentlich mitverursacht hat.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Juli 1967 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2), H S (S.), war bei einer Heizungsfirma als Monteur beschäftigt. Den Weg von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte pflegte er mit dem Motorrad zurückzulegen; dieses stellte er auf der Arbeitsstätte ab.

Am 23. Oktober 1964, einem Freitag, sollte S. mit seinen Arbeitskollegen B und St auf einer Baustelle eine Ölfeuerungsanlage montieren. Es war vorgesehen, daß S. und B mit einem Firmenwagen, den B lenkte, den Ölbrenner nebst Zubehör zur Baustelle fahren und sich dort mit St treffen sollten; dieser hatte das erforderliche Werkzeug bei sich, sollte aber vorher noch auf einer anderen Baustelle Arbeiten ausführen. S. und B kamen, nachdem sie um 10.00 Uhr gefrühstückt und dabei alkoholische Getränke zu sich genommen hatten, gegen 12.00 Uhr auf der Baustelle an. Da sie St nicht antrafen, fuhren sie zu einer in der Nähe gelegenen Gaststätte um Mittag zu machen; dazu tranken sie Bier. St, welcher sie zunächst vergeblich gesucht hatte, fand sie gegen 14.00 Uhr in der Gaststätte. Da um 15.45 Uhr Lohnempfang war, beschlossen sie, mit der Montagearbeit gar nicht erst zu beginnen; sie blieben in der Gaststätte und tranken Alkohol. Gegen 15.15 Uhr fuhren sie zur Baustelle, um das Material abzuladen. Hierauf fuhren S. und B in dem einen Firmenwagen, St in dem anderen zum Betrieb zurück. In einer leichten Linkskurve geriet das von B gesteuerte Fahrzeug über die Leitplanke der rechten Fahrbahnseite und überschlug sich einige Male. S. und B wurden schwer verletzt; S. erlag in der Nacht vom 24. zum 25. Oktober 1964 seinen Verletzungen.

B wurde durch Urteil des Schöffengerichts Lübeck vom 28. Mai 1965 wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit Trunkenheit im Straßenverkehr zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt; ferner wurde ihm die Fahrerlaubnis für 12 Monate entzogen. Die Große Strafkammer des Landgerichts Lübeck bestätigte durch Urteil vom 14. Januar 1966 im wesentlichen diese Entscheidung.

Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 25. März 1966 die begehrte Hinterbliebenenentschädigung, weil der Verstorbene die Fahruntüchtigkeit des betrunkenen Fahrzeuglenkers hätte erkennen müssen, er somit, obwohl er trotzdem mit diesem die Rückfahrt angetreten habe, in einen nicht betriebsbedingten Gefahrenbereich eingetreten und dieser von ihm selbst geschaffenen Gefahr erlegen sei.

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Lübeck vom 26. Juli 1966, Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts - LSG - vom 6. Juli 1967).

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner - in Breithaupt 1967, 1007 veröffentlichten - Entscheidung, welcher auch der Inhalt der Strafakten zugrunde liegt, im wesentlichen ausgeführt:

Entgegen der Auffassung des SG hätten sich S. und B durch den Aufenthalt in der Gaststätte von ihrer betrieblichen Tätigkeit nicht gelöst; diese sei solange nur unterbrochen gewesen, so daß der Unfallversicherungsschutz lediglich während des Gaststättenaufenthalts entfallen sei. Der Versicherungsschutz sei aber wieder aufgelebt, als sie das Arbeitsmaterial auf der Baustelle abgeladen hätten und zum Lohnempfang in den Betrieb zurückgefahren seien. Aus den Strafakten ergebe sich jedoch, daß S. und B in der Gaststätte jeder mindestens 6 Glas Bier und einen Korn getrunken hätten, B schon während der Frühstückspause zwei Flaschen Bier getrunken und S. am Vormittag den Inhalt einer Taschenflasche Rum zu sich genommen habe. Angesichts der Straßen- und Verkehrslage sei der Schluß berechtigt, daß die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Fahrzeuglenkers B die alleinige Unfallursache im Rechtssinne sei. B habe somit keinen Anspruch auf Unfallentschädigung. Dasselbe gelte für die Hinterbliebenen des Mitfahrers S., da dieser gemeinsam mit B getrunken habe, obwohl er gewußt habe, daß er mit B zum Betrieb zurückfahren müsse. Da der Unfall allein auf den Alkoholgenuß zurückzuführen sei, sei dem Mitfahrer S. die Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit des Fahrzeuglenkers kausal zuzurechnen, weil er sie rechtlich wesentlich mitverursacht habe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Kläger haben dieses Rechtsmittel eingelegt. Ihr Prozeßbevollmächtigter hat es im wesentlichen wie folgt begründet: Die Feststellung des Berufungsgerichts, daß S. am Vormittag des 23. Oktober 1964 Rum getrunken habe, treffe nicht zu. Sollte es auf diesen Umstand ankommen, hätte das LSG den Sachverhalt näher aufklären müssen. Aus dem Strafverfahren sei bekannt, daß B während der Fahrt die neben dem Mitfahrer S. befindliche Wagentür, welche geklappert habe, habe schließen wollen. Zu diesem Zweck habe er sich weit nach rechts beugen müssen. Dadurch habe er naturgemäß die im Straßenverkehr erforderliche Aufmerksamkeit außer acht gelassen, so daß der Unfall in erster Linie hierauf zurückgeführt werden könne. Die von B im Strafverfahren aufgestellte Behauptung, daß S. ihm in das Lenkrad gegriffen habe, sei nur als Schutzbehauptung zu werten. Da sich nicht ausschließen lasse, daß allein durch dieses fehlerhafte Fahrverhalten des Fahrzeuglenkers der Firmenwagen von der Fahrbahn abgekommen sei, sei die Alkoholbeeinflussung nicht die alleinige Unfallursache; für den Versicherungsschutz des Mitfahrers könne es keinen Unterschied machen, ob der Fahrzeuglenker wegen einer - vom Mitfahrer nicht erkannten - alkoholbedingten Fahrunsicherheit oder wegen eines anderen Fehlverhaltens den Unfall herbeigeführt habe.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Kläger beantragen,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihnen wegen der Folgen des Unfalls vom 23. Oktober 1964 Entschädigung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist insofern begründet, als unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß S. und B sich im Zeitpunkt des Unfalls auf einer Betriebsfahrt befunden haben, denn sie haben die Rückfahrt von der Baustelle zum Betrieb zurückgelegt. Der Versicherungsschutz war während der Zeit, in der sie, statt zu arbeiten, getrunken haben, lediglich unterbrochen.

Zur - vom LSG im vorliegenden Fall verneinten - Frage, unter welchen Voraussetzungen bei einem Unfall, der sich infolge alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers ereignet hat, Unfallversicherungsschutz für den Mitfahrer besteht, der die Fahruntüchtigkeit des Kraftfahrers gekannt hat, enthält das Urteil des erkennenden Senats vom 28. Februar 1961 (BSG 14, 64) grundlegende Ausführungen, an denen der Senat im Urteil vom 31. Oktober 1969 festgehalten hat (BSG 30, 121). Mit diesen hat sich das angefochtene Urteil nicht auseinandergesetzt. Seine Begründung vermag nicht zu überzeugen.

Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Mitfahrer müsse sich die Fahruntüchtigkeit des Fahrzeuglenkers anrechnen lassen, wenn er mit diesem getrunken habe und für den Unfall die Fahruntüchtigkeit des Fahrzeuglenkers infolge Alkoholbeeinflussung die rechtlich allein wesentliche Ursache sei, berücksichtigt nicht die Änderung der Rechtsprechung des erkennenden Senats zum Verlust des Versicherungsschutzes bei Trunkenheit am Steuer (BSG 12, 242, unter Aufgabe der Rechtsprechung in BSG 3, 116) und die Folgerung, welche der Senat hieraus für die Beurteilung des Versicherungsschutzes von Mitfahrern gezogen hat (BSG 14, 64). Danach ist ein infolge Alkoholgenusses absolut fahruntüchtiger Kraftfahrer nicht schon ohne weiteres vom Beginn der Fahrt an unversichert; vielmehr steht - vom Zustand des Vollrausches abgesehen, der eine zweckgerichtete Tätigkeit ausschließt - ein Kraftfahrer, der sein Fahrzeug zwar nicht mehr verkehrssicher steuern, aber es noch fahren kann, grundsätzlich unter Versicherungsschutz. Daraus hat der Senat gefolgert, daß solange auch der Versicherungsschutz des Mitfahrers grundsätzlich erhalten ist, weil sonst für den Mitfahrer strengere Grundsätze - nämlich die der früheren Rechtsprechung (BSG 3, 116) - gelten würden. Anders ist allerdings die Rechtslage, wenn der Fahrzeuglenker beim Mitfahrer den Eindruck der Volltrunkenheit erwecken mußte, weil dann ein Anwendungsfall der - den Versicherungsschutz ausschließenden - selbst geschaffenen Gefahrerhöhung gegeben wäre. Der vom LSG festgestellte Sachverhalt läßt eine solche Schlußfolgerung indessen nicht zu.

Ferner kann nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (aaO) der Versicherungsschutz des Mitfahrers entfallen, wenn dieser durch sein alkoholbedingtes Verhalten das Zustandekommen des Unfalls wesentlich mitverursacht hat, beispielsweise durch Behinderung oder Ablenkung des Fahrzeuglenkers. Der Inhalt der Strafakten, welchen das Berufungsgericht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, schließt nicht aus, daß Umstände dieser Art vorgelegen haben. Sie haben in den Entscheidungen der Strafgerichte eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Diese haben als erwiesen angesehen, daß es zwischen S., der sich nach Arbeitsschluß mit seiner Ehefrau verabredet hatte, und seinem Arbeitskollegen B zu einem Streit gekommen sei, weil ihm B nicht schnell genug gefahren sei und auf sein Schimpfen nicht reagiert habe, so daß S. mehrfach auf Bs Fuß getreten habe, mit dem dieser das Gaspedal reguliert habe. Die Strafgerichte haben B ferner geglaubt, daß S. sich geweigert habe, die auf seiner Seite befindliche klappernde Wagentür zu schließen und B aufgefordert habe, dies selbst zu tun und daß bei dieser Gelegenheit der Wagen von der Fahrbahn abgekommen sei. Schließlich haben die Strafgerichte die Behauptung Bs, daß S. ihm in das Lenkrad gegriffen habe, als er mit der rechten Hand die klappernde Wagentür habe schließen wollen und mit der linken Hand das Steuer festgehalten habe, für wahr gehalten. Auf diese Umstände, auf welche die Prozeßbeteiligten im Revisionsverfahren teilweise eingegangen sind, hat das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus nicht abzustellen brauchen. Sie werden von der Revision teilweise bestritten. Das Berufungsgericht wird im Rahmen seiner freien richterlichen Überzeugungsbildung auch zu prüfen und zu würdigen haben, welcher Beweiswert dem Brief zukommt, den B im Krankenhaus an S. geschrieben und in dem er zum Ausdruck gebracht hat, daß er der Polizei von dem Streit sowie darüber, daß S. die Wagentür aufgerissen und ihm ins Lenkrad gefaßt habe, nichts gesagt habe.

Da die Sache mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts nicht entscheidungsreif ist, war sie unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668932

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