Leitsatz (amtlich)
Hat das Sozialgericht die Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines Bescheides über die Entziehung der Kassenpraxis abgewiesen, jedoch der hilfsweise erhobenen Klage auf Aufhebung des Entziehungsbescheides allein wegen Verfahrensfehlern bei Durchführung des Entziehungsverfahrens stattgegeben, so ist der Kläger trotz der Aufhebung des Entziehungsbescheides durch die Abweisung der Nichtigkeitsklage beschwert. Die Berufung gegen die Abweisung der Nichtigkeitsklage ist daher zulässig.
Normenkette
SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 55 Fassung: 1953-09-03, § 143 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Oktober 1955 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 22. März 1955, die die Feststellung der Nichtigkeit des Beschlusses des Beklagten vom 19. Februar 1954 und des Widerspruchsbescheides vom 11. August 1954 zum Gegenstand hat, wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger ist im Jahre 1910 geboren, seit 1939 ist er Arzt und seit 1951 zur Kassenpraxis zugelassen. Am 29. Dezember 1952 erteilte der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung dem Kläger eine Verwarnung und verhängte über ihn eine Geldbuße von 1000,-- DM, weil er mindestens 12 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und 150 Rezeptvordrucke "blanko unterschrieben" seiner Sprechstundenhilfe überlassen habe, damit sie diese Bescheinigungen während seines Urlaubs verwenden könne. Auf Antrag des Verbandes der Ortskrankenkassen vom 18. März 1953 entzog der Zulassungsausschuß für Ärzte und Krankenkassen in Dortmund in der Sitzung vom 3. Juni 1953 dem Kläger die Zulassung zur Kassenarztpraxis nach den §§ 16 Nr. 1, 25 Nr. 1 und 3 der Zulassungsordnung für Ärzte vom 21. April 1948 - ZulO für Ärzte - (Arb. Bl. f.d.br. Zone 1948 S. 250). Der Kläger habe vor dem Disziplinarausschuß zugegeben, er habe die blanko unterschriebenen Arbeitsbescheinigungen und Rezeptvordrucke seiner Sprechstundenhilfe überlassen, bevor er seinen Urlaub angetreten habe. Es sei unwahrscheinlich, daß eine so große Zahl Bescheinigungen für schon untersuchte Patienten bestimmt gewesen seien, wie er behaupte. Der Kassenarzt habe nach § 6 Abs. 6 des Gesamtvertrages die kassenärztliche Tätigkeit selbst auszuüben. Für den Inhalt seiner Bescheinigungen sei er selbst verantwortlich. Er dürfe nach § 19 der Ausführungs- und Überleitungsbestimmungen über das kassenärztliche Dienstverhältnis nur von dem Befund bei der ärztlichen Untersuchung ausgehen, die eine Sprechstundenhilfe nicht vornehmen könne. Nach der Aussage der Sprechstundenhilfe habe sie stets die Verordnungen auf Blankorezepten ausgefertigt, wobei zum Teil Dr. R... die Patienten vorher nicht einmal gesehen gehabt habe. Diese Besuche bei der Sprechstundenhilfe habe der Kläger mit der Kassenärztlichen Vereinigung sogar abgerechnet. Da der Kläger zum Verhandlungstermin trotz ordnungsgemäßer Ladung weder selbst erschienen noch durch seinen Prozeßbevollmächtigten vertreten war und er vor dem Disziplinarausschuß sein schuldhaftes Verhalten zugegeben habe, hat der Zulassungsausschuß die Vorwürfe als begründet angesehen. Er geht davon aus, der kassenärztliche Dienst sei einem Dienstverhältnis gleichzusetzen, das im Sinne des § 626 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gelöst werden könne, wenn Gründe dies rechtfertigten, die in der Person des Arztes liegen könnten. Die Entziehung sei keine Strafe, sondern eine Verwaltungsmaßnahme, die erforderlich sei, weil der Kläger das Vertrauensverhältnis empfindlich gestört habe; er habe seine kassenärztlichen Pflichten gröblich verletzt und sei unzuverlässig gewesen.
Der Kläger machte mit seiner Berufung geltend, der Zulassungsausschuß habe den Sachverhalt nur unvollständig ermittelt, er habe ungeprüft die Feststellungen der Kassen-ärztlichen Vereinigung übernommen, die Sprechstundenhilfe, Frau B... sei nicht ordnungsgemäß vernommen worden. Wenn er auch 150 blanko unterschriebene Arzneivordrucke und 12 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen seiner Sprechstundenhilfe überlassen habe, so habe doch der Zulassungsausschuß seinen Beweggrund und den Zweck seines Verhaltens nicht hinreichend geprüft. Die Patienten seien von ihm untersucht gewesen, nur ihr Krankenschein habe gefehlt; die untersuchten "Laufpatienten" sollten während seines Urlaubs die Medikamente, die sie brauchten, weiter erhalten. Der Zulassungsausschuß habe schließlich nicht geprüft, ob nicht eine Entziehung der Zulassung auf Zeit möglich sei. Nach dem Beweisbeschluß des Berufungsausschusses vom 11. Dezember 1953 hat das Amtsgericht Schwelm die Sprechstundenhilfe Frau B... als Zeugin eidlich vernommen. Der Kläger war zugegen. Sie hat bekundet, sie sei vom 3. bis 23. September 1952 während des Urlaubs des Klägers ermächtigt gewesen, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Arzneiverschreibungen den Patienten auszuhändigen. Die Vollmacht, diese blanko unterschriebenen Bescheinigungen an Patienten auszuhändigen, sei nicht auf bestimmte Personen beschränkt gewesen. Die Entscheidung darüber, wer eine solche Bescheinigung bekommen könne, habe bei ihr gelegen. Als die blanko unterschriebenen Bescheinigungen ausgegangen seien, habe er ihr geschrieben, sie solle "nicht unterschriebene Rezepte" ausgaben. Er wolle sie später unterschreiben. Der als Zeuge vernommene Direktor der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK.) Schwelm hat vor dem Amtsgericht bekundet, er habe bei den drei S. Apotheken 140 Rezeptvordrucke beschlagnahmt, die sich auf die AOK. Schwelm bezogen hätten, die blanko unterschrieben gewesen und von der Sprechstundenhilfe während des Urlaubs des Klägers ausgegeben worden seien.
Der Berufungsausschuß für den Bereich der Landesstelle Westfalen der Kassenärztlichen Vereinigung wies durch den Beschluß vom 19. Februar 1954 die Berufung des Klägers zurück. Er bestätigte die bisherigen Feststellungen und ging von der beschworenen Aussage der Zeugin aus; die Entziehung der Kassenarztzulassung bestehe zu Recht, wenn auch der Kläger schon durch den Beschluß der Kassenärztlichen Vereinigung vom 29. Dezember 1952 wegen derselben Vorgänge rechtskräftig bestraft worden sei, denn der Grundsatz "ne bis in idem", wonach niemand wegen derselben Tat zweimal bestraft werden könne, sei nicht anwendbar. Dieser Grundsatz beschränke sich auf Strafmaßnahmen wegen kriminellen Verhaltens, die Entziehung der Kassenzulassung nach § 25 ZulO sei dagegen eine der Kündigung eines Dienstverhältnisses gleichstehende Vorbeugungsmaßnahme, während die Maßnahme der Kassenärztlichen Vereinigung Ausfluß ihrer Organisationsgewalt sei. Die Maßnahmen seien innerhalb zweier verschiedener Gewaltverhältnisse getroffen worden. Eine Entziehung auf Zeit sei überdies mit der Zulassungsordnung nicht vereinbar. Der Kläger habe seine Kassenarztpflichten schwer verletzt, den Krankenkassen könne eine weitere Zusammenarbeit mit dem Kläger nicht mehr zugemutet werden. Das Verhalten des Klägers bedeute auch eine Gefahr für Kranke, es verstoße gegen § 13 der Vertragsordnung, wonach der Kassenarzt - selbst - behandeln müsse. Während des Urlaubs des Klägers habe überdies sein Arzneikostenverbrauch über dem Durchschnitt der übrigen praktischen Ärzte gelegen. Er habe auch charakterliche Unzulänglichkeit bewiesen (§§ 16, 25 ZulO). In der Rechtsbehelfsbelehrung wies der Berufungsausschuß darauf hin, daß der Kläger Widerspruch gegen diesen Beschluß erheben könne. Dem Widerspruch des Klägers hat der Berufungsausschuß nicht abgeholfen.
Mit der Klage hat der Kläger beantragt, festzustellen, daß der Beschluß des Berufungsausschusses vom 19. Februar 1954 und der Widerspruchsbescheid vom 11. August 1954 nichtig sind, hilfsweise hat er beantragt, die Beschlüsse aufzuheben. Er beruft sich darauf, die Aussage seiner Sprechstundenhilfe sei unzuverlässig. Er habe sich auch nicht genügend äußern können. Das Protokoll über die Vernehmung der Sprechstundenhilfe habe er zu spät erhalten. Seine Frau und seine Schwiegermutter seien zugegen gewesen, als er der Sprechstundenhilfe die Anweisungen über die Verwendung der blanko unterschriebenen Formulare gegeben habe. Weiterhin hat er den Oberarzt Dr. K... als Zeugen dafür benannt, daß er seiner Sprechstundenhilfe solche Anweisungen gegeben habe. Die von ihm benannten Zeugen seien aber nicht vernommen worden.
Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 22. März 1955 den Beschluß des Berufungsausschusses vom 19. Februar 1954 und seinen Widerspruchsbescheid vom 11. August 1954 aufgehoben, im übrigen die Klage abgewiesen. Die Nichtigkeitsklage sei nicht begründet, die Verfahrensverstöße seien nicht so schwerwiegend, daß sie die Nichtigkeit der Entziehungsbescheide zur Folge haben könnten. Immerhin seien die Beschlüsse unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen, denn die Entziehung werde auch auf Vorwürfe gestützt, die der Kläger nicht rechtzeitig erfahren habe, nämlich die Vorwürfe wegen des zu hohen Arzneimittelverbrauchs (§ 38 ZulO). Im Verfahren vor dem Berufungsausschuß seien nach den Bestimmungen der Zulassungsordnung und nach den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen bestimmte Regeln anzuwenden, die nicht außer acht gelassen werden dürften. Dazu gehöre die in § 35 ZulO vorgeschriebene mündliche Verhandlung. Diese umfasse das rechtliche Gehör für die Beteiligten. Hierunter sei das Recht zu verstehen, "mit Angriff und Verteidigung gehört zu werden und zu hören, was die Gegner vorbringen". Danach müsse der Beteiligte rechtzeitig erfahren, welche Vorwürfe den Gegenstand des gegen ihn eingeleiteten Verfahrens bilden. Wenn der Kläger außerhalb des Verfahrens von den Vorwürfen der AOK. gegen ihn wegen Arzneimittelverbrauchs gehört hatte, so genüge das nicht. Er hätte auch erfahren müssen, daß diese Vorwürfe Gegenstand des Verfahrens vor dem Berufungsausschuß seien, nur dann hätte er sich verteidigen können. Wenn auch nicht alle benannten Zeugen vernommen werden müßten, so sei doch der Berufungsausschuß in der Auswahl der Zeugen nicht völlig frei, sie unterliege seinem pflichtgemäßen Ermessen. Der Berufungsausschuß habe den Inhalt der Weisungen des Klägers an seine Sprechstundenhilfe für ein erhebliches Beweisthema gehalten. Er habe die Vernehmung der weiteren Zeugen nicht wegen Unerheblichkeit, sondern deshalb abgelehnt, weil er durch die eidliche Aussage der Sprechstundenhilfe B... schon vom Gegenteil dessen überzeugt gewesen sei, was die anderen Zeugen hätten aussagen sollen. Eine solche Erwägung sei zwar zulässig, es hätten aber Gründe dargelegt werden müssen, warum den Angaben der weiteren Zeugen, wenn sie die Behauptung des Klägers bestätigten, kein Glauben geschenkt werden könne. Im angefochtenen Beschluß des Berufungsausschusses sei aber darüber nichts ausgeführt, es sei nur gesagt, die Aussage der Frau habe das Gegenteil zur Evidenz ergeben. Da der Berufungsausschuß keine weiteren Gründe angegeben habe, so sei es nicht möglich festzustellen, ob der Beschwerdeausschuß bei der Ablehnung der angebotenen Beweise im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens gehandelt habe. Da die angefochtenen Beschlüsse auf der Annahme erhöhten Arzneiverbrauchs und auf Feststellungen über den Inhalt der Anweisungen des Klägers an seine Sprechstundenhilfe beruhten, seien sie nicht fehlerfrei zustande gekommen. Dem Gericht sei versagt zu prüfen, ob der vom Kläger zugegebene Sachverhalt in Verbindung mit dem Inhalt der an die Sprechstundenhilfe gerichteten Postkarte schon genüge, die angefochtenen Beschlüsse zu rechtfertigen, ohne daß es auf den erhöhten Arzneiverbrauch und auf die Anweisungen an die Sprechstundenhilfe ankäme. Der Grundsatz der Gewaltenteilung verbiete dem Gericht, sein Ermessen an die Stolle des Ermessens der Verwaltung, des Berufungsausschusses, zu setzen. Da die Entscheidungen sich auf Feststellungen gründeten, die nicht ohne Fehler getroffen worden seien, müßten sie aufgehoben werden.
Mit der Berufung an das Landessozialgericht hat der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des Sozialgerichts zu ändern und festzustellen, daß der Beschluß des Berufungsausschusses vom 19. Februar 1954 und der Widerspruchsbescheid vom 11. August 1954 nichtig seien,
hilfsweise die Beschlüsse aufzuheben.
Der Kläger hat sich darauf berufen, ihm sei das rechtliche Gehör verweigert worden; er sei wegen der Überlassung der Vordrucke und des Arzneiverbrauchs nicht gehört worden. Da der Berufungsausschuß außerdem den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß aufgeklärt habe, sei sein Beschluß nichtig.
Der Beklagte hat beantragt,
die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen; mit seiner - unselbständigen - Anschlußberufung hat er beantragt, das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben, soweit es die Beschlüsse des Berufungsausschusses aufgehoben hat, und die Klage abzuweisen.
Er führt aus, die angefochtenen Beschlüsse seien nur anfechtbar; die das Verfahren betreffenden Gründe rechtfertigten jedoch nicht die Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse. Eine Vernehmung der weiteren vom Kläger benannten Zeugen hätte nur das Verfahren verzögert.
Der Kläger hat beantragt,
die Anschlußberufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Entziehung der Zulassung zur Kassenarztpraxis sei eine Ermessensentscheidung. Der Arzneimittelverbrauch sei ärztlich notwendig gewesen.
Das Landessozialgericht hat durch Urteil vom 18. Oktober 1955 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts als unzulässig verworfen, weil der Kläger durch das angefochtene Urteil nicht beschwert seit. Zwar habe das Sozialgericht dem Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit der angefochtenen Beschlüsse (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) nicht stattgegeben, sondern nur auf den Hilfsantrag hin die belastenden Bescheide nach § 54 SGG aufgehoben. Nicht jede Zurückweisung sei jedoch eine Beschwer. Entscheidend sei, ob zwischen dem Verlangen, dem Klagantrag und der Entscheidung ein dem Kläger nachteiliger Unterschied bestehe; die Behauptung eines Nachteils genüge nicht, er müsse wirklich vorhanden sein. Der Kläger habe durch das angefochtene Urteil das erreicht, was er erstrebt habe, nämlich die Erhaltung seiner Kassenpraxis. Er habe nur den Beschluß über die Entziehung seiner Praxis beseitigen wollen. Der Kläger habe nun auch kein Interesse mehr daran, die Entziehung als nichtig hinzustellen, um der Klage nach § 97 SGG alter Fassung die aufschiebende Wirkung zu verschaffen. Soweit der Kläger weitere Ansprüche (Folgenbeseitigung und Schadenersatz) erstrebe, könne damit die Beschwer nicht begründet werden. Ob der Kläger beschwert sei, könne nur aus dem Urteilsspruch, nicht aber aus der Begründung entnommen werden. Der Urteilsspruch habe dem Kläger den Fortbestand der Kassenpraxis gegeben.
Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Das Urteil ist dem Kläger am 15. Dezember 1955 zugestellt worden. Am 22. Dezember 1955 ist die Revision des Klägers und am 30. Dezember 1955 die Revisionsbegründung beim Bundessozialgericht eingegangen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und festzustellen, daß die angefochtenen Beschlüsse des Berufungsausschusses vom 19. Februar 1954 und 11. August 1954 nichtig seien.
Der Kläger rügt, das angefochtene Urteil beruhe auf wesentlichen Mängeln des Verfahrens (§ 162 Nr. 2 SGG). Das Landessozialgericht hätte die Berufung des Klägers nicht als unzulässig verwerfen, sondern über die Nichtigkeit des Entziehungsbescheides unter Berücksichtigung der von dem Kläger vorgebrachten Gründe (insbesondere Verletzung des Grundsatzes: ne bis in idem) eine Sachentscheidung treffen müssen. Der Kläger rügt ausdrücklich Verletzung der §§ 157, 158 Abs. 1, 162 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGG. Das Landessozialgericht hätte den Streitfall im gleichen Umfange wie das Sozialgericht prüfen müssen. Die Beschwer liege darin, daß die angefochtene Entscheidung etwas versage, was der Kläger beantragt habe. Der Antrag des Klägers auf Feststellung der Nichtigkeit sei begründet, denn der Berufungsausschuß sei nicht mehr berechtigt gewesen, das Entziehungsverfahren durchzuführen, nachdem das Disziplinarverfahren der Kassenärztlichen Vereinigung gegen ihn wegen derselben Vorgänge rechtskräftig abgeschlossen gewesen sei. Das Entziehungsverfahren nach § 8 der Satzung der Kassenärztlichen Vereinigung vom 27. Januar 1941 schließe ein weiteres Entziehungsverfahren vor den Zulassungsinstanzen aus. Der Antrag der AOK., ihm die Zulassung zu entziehen, verstoße auch gegen Treu und Glauben. Hätte das Landessozialgericht die Nichtigkeit der angefochtenen Bescheide festgestellt, so hätte es gleichzeitig entschieden, daß die Zulassungsinstanzen nicht mehr berechtigt seien, auf Grund derselben Beschuldigungen ein neues Entziehungsverfahren einzuleiten. Gerade das habe aber der Kläger mit seiner Feststellungsklage erreichen wollen, während das Sozialgericht von einer neuen Durchführung des Entziehungsverfahrens ausgegangen sei (Seite 8/9 des Urteils). Dadurch sei er beschwert. Schließlich liege eine Beschwer auch darin, daß das Sozialgericht zur Möglichkeit der Entziehung auf Zeit keine Stellung genommen habe.
Die beigeladene Kassenärztliche Vereinigung weist darauf hin, sie sei nach dem Rechtszustand im Zeitpunkt der Disziplinarentscheidung nicht befugt gewesen, die Entziehung der Zulassung im Disziplinarwege auszusprechen. Jeder Vertragspartner des Gesamtvertrages könne aber beim Zulassungsausschuß Entziehung der Zulassung beantragen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise beantragt er,
die Revision zurückzuweisen.
Er erklärt weiter, er nehme die Anschlußberufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurück.
Der Berufungsausschuß geht davon aus, daß der Entziehungsstreit von ihm neu verhandelt und entschieden werden müsse. Die Revision sei unzulässig, denn sie sei nicht zugelassen. Die nach § 162 Nr. 2 SGG gerügten Mängel müßten das Verfahren vor dem Berufungsgericht betreffen. Die Rügen über die Beschwer des Klägers seien materieller Natur, er rüge eine angeblich falsche Entscheidung.
II.
Die Revision des Klägers ist frist- und formgerecht eingelegt. Sie ist auch statthaft, obwohl sie nicht zugelassen ist; denn der Kläger hat wesentliche Mängel des Verfahrens gerügt, die auch tatsächlich vorliegen (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Der Kläger kann sich zwar nicht auf § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG berufen, denn wenn das Landessozialgericht im Urteil ausgesprochen hat, daß die Revision nicht zugelassen werde, dann ist diese Entscheidung für das Bundessozialgericht bindend (BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 1 Nr. 1 und Bl. Da 14 Nr. 55). Jedoch ist die Rüge begründet, das Landessozialgericht habe zu Unrecht die Berufung für unzulässig gehalten und daher zu Unrecht keine Sachentscheidung getroffen.
Das Landessozialgericht hat die vom Kläger eingelegte Berufung, die sich allein gegen die Abweisung der Nichtigkeitsklage richtet, für unzulässig gehalten, weil seiner Auffassung nach der Kläger durch die Abweisung seiner Klage auf Feststellung der Nichtigkeit der Beschlüsse des Berufungsausschusses über die Entziehung der Kassenzulassung nicht benachteiligt sei; denn da das Sozialgericht auf die vom Kläger hilfsweise erhobene Anfechtungsklage hin die Beschlüsse des Berufungsausschusses aufgehoben habe, sei er durch das die Nichtigkeitsklage abweisende Urteil des Sozialgerichts nicht beschwert; er sei nicht gehindert, weiterhin die Kassenpraxis auszuüben und habe daher kein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der vermeintlichen Nichtigkeit der Entziehungsbeschlüsse. Dem Vorderrichter ist darin zuzustimmen, daß die Zulässigkeit der Berufung in jedem Falle eine Beschwer des Berufungsklägers durch das angefochtene Urteil voraussetzt und daß eine solche Beschwer zur Begründung eines Rechtsschutzinteresses nicht nur behauptet werden, sondern auch tatsächlich vorliegen muß. Das Landessozialgericht irrt aber, wenn es im vorliegenden Rechtsstreit eine Beschwer des Klägers durch das seine Nichtigkeitsklage abweisende Urteil des Sozialgerichts verneint. Es mag sein - darüber ist vorliegend nicht zu entscheiden -, daß der Kläger durch die Abweisung seiner Nichtigkeitsklage nicht beschwert wäre, wenn das Sozialgericht die Bescheide, deren Nichtigkeit der Kläger festgestellt wissen will, nicht nur wegen einzelner, während des Verwaltungsverfahrens unterlaufener Verfahrensmängel aufgehoben hätte, sondern darüber hinaus die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entziehungsbeschlüsse damit begründet hätte, daß die Durchführung eines Entziehungsverfahrens - nach Verhängung der Disziplinarstrafe - überhaupt unzulässig, die Entziehung der Zulassung auf Grund des vorliegenden Sachverhalts daher in jedem Fall, d.h. auch bei sonst mängelfreier Durchführung des Entziehungsverfahrens, ausgeschlossen sei. Im vorliegenden Rechtsstreit hat indessen das Sozialgericht in diesem Sinne keine erschöpfende Entscheidung über die Anfechtungsklage getroffen, es hat sich vielmehr - in Verkennung der Rechtsnatur der Zulassungsentziehung, die nach damals geltendem Recht (§ 25 ZulO brit. Zone) keine Ermessensentscheidung darstellte und in Verkennung seiner Pflicht zur eigenen Sachentscheidung nach § 123 SGG - lediglich darauf beschränkt, die angefochtenen Entziehungsbescheide wegen der von ihm festgestellten einzelnen Mängel des Verfahrens vor dem Berufungsausschuß aufzuheben. Die Rechtskraft eines solchen Urteils kann den Kläger nicht davor schützen, daß der Berufungsausschuß erneut die Entziehung der Zulassung wegen der Ausstellung der erwähnten Blankoformulare beschließt. Die Rechtskraft des Urteils des Sozialgerichts erstreckt sich nur auf das fehlerhafte Zustandekommen und auf die Aufhebung der Verwaltungsakte aus diesen Gründen, sie erstreckt sich aber nicht auf das Recht der Zulassungsinstanzen, den Sachverhalt zur Grundlage einer neuen Verwaltungsentscheidung zu machen. Das Urteil des Sozialgerichts verbraucht somit nicht das "Recht zur Entziehung der Zulassung" aus demselben Sachverhalt. Nach § 141 des SGG binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Worüber entschieden worden ist und wie der Urteilsspruch auszulegen ist, ergeben die Urteilsgründe, die für die Ermittlung der Grenzen der Rechtskraft wesentlich sind (Forsthoff, Lehrbuch I 6. Aufl. S. 486). Der Kläger hat also mangels einer erschöpfenden Entscheidung über die Rechtswidrigkeit bzw. Wichtigkeit der Entziehung sein Klageziel nicht erreicht. Bei dieser Prozeßlage war der Kläger durch das Urteil des Sozialgerichts beschwert und hat auch seiner Beschwer durch den Berufungsantrag, die Nichtigkeit des Entziehungsbescheides festzustellen, Ausdruck gegeben. - Zwar scheint seine Berufung auf den ersten Blick nur das Ziel zu haben, statt einer Aufhebung der Entziehungsbescheide wegen der vorgefallenen Fehler des Verwaltungsverfahrens eine Feststellung ihrer Nichtigkeit wegen eben dieser Fehler zu erreichen. Bei einer solchen - engen - Auslegung seines Berufungsantrags würden in der Tat - wie auch das Landessozialgericht angenommen hat - Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Beschwer bestehen. Da aber der Berufungsantrag bei sinngemäßer, die Interessen des Klägers berücksichtigender Auslegung weiter geht und die Feststellung zum Ziele hat, daß ein Entziehungsverfahren - bei Vermeidung der Nichtigkeit der Entziehung - wegen der erwähnten Vorwürfe überhaupt nicht mehr gegen ihn stattfinden dürfe, ist eine Beschwer trotz Aufhebung der Entziehungsbescheide als gegeben und die Berufung daher als zulässig anzusehen.
Das Urteil des Landessozialgerichts beruht somit insofern auf einem wesentlichen Verfahrensmangel, als es die Berufung als unzulässig verworfen hat. Die nicht zugelassene Revision des Klägers ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft und auch begründet. Da der Rechtsstreit über die allein noch schwebende Nichtigkeitsklage entscheidungsreif ist, hat der Senat nach § 170 Abs. 2 Nr. 1 SGG in der Sache selbst entschieden.
Der Kläger klagt auf Feststellung der Nichtigkeit der Bescheide über die Entziehung seiner Zulassung zunächst mit der Begründung, daß das Verfahren des Berufungsausschusses, das zu der Entziehung geführt hat, an wesentlichen Mängeln leide: Der Berufungsausschuß habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt, er habe es insbesondere unterlassen, die von dem Kläger benannten Zeugen über den Inhalt der von dem Kläger der Sprechstundenhilfe erteilten Anweisungen zu vernehmen; der Berufungsausschuß habe ferner den Grundsatz des rechtlichen Gehörs insofern verletzt, als er es unterlassen habe, dem Kläger Gelegenheit zu geben, zu den in einem Schriftsatz des Verbandes der Ortskrankenkassen - Landesgeschäftsstelle Westfalen - Lippe - gemachten Ausführungen Stellung zu nehmen; die Entziehung der Zulassung trotz vorheriger Bestrafung im Disziplinarverfahren stelle auch eine Verletzung des Verbots der doppelten Bestrafung - ne bis in idem - dar. Die Entziehung verstoße ferner gegen Treu und Glauben, weil der Kläger bereits im Disziplinarverfahren wegen der gleichen Vorgänge bestraft worden sei und er den Bescheid des Disziplinarausschusses nur im Vertrauen auf eine damit getroffene endgültige Erledigung der Sache habe rechtskräftig werden lassen.
Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, vermögen die von dem Kläger vorgebrachten Verfahrensmängel - ihr Vorliegen unterstellt - die Nichtigkeit der Entziehungsbescheide nicht herbeizuführen. Nichtigkeit und Anfechtbarkeit stellen einen verschiedenen Grad der Rechtswidrigkeit von Verwaltungsakten dar. Der nichtige Verwaltungsakt ist von Anfang an rechtlich unbeachtlich, während der anfechtbare Verwaltungsakt erst durch die Anfechtung aufgehoben wird. Die Rechtssicherheit und das Vertrauen in die Beständigkeit von Staatsakten erfordern, daß die Nichtigkeit von Verwaltungsakten nur in seltenen Ausnahmefällen angenommen werden darf. Die von dem Kläger vorgetragenen Mängel des Verfahrens vor dem Berufungsausschuß und die von ihm vorgebrachten Gründe für die materielle Fehlerhaftigkeit des Entziehungsbescheides könnten allenfalls seine Anfechtbarkeit, nicht aber seine Nichtigkeit zur Folge haben. Auch die Verweigerung des rechtlichen Gehörs im Verwaltungsverfahren kann jedenfalls dann nicht zur Nichtigkeit des Verwaltungsaktes führen, wenn dem Kläger - wie er behauptet - nicht Gelegenheit gegeben worden ist, zu einzelnen Punkten des Vorbringens der Beteiligten Stellung zu nehmen, er im übrigen aber ausreichend Gelegenheit hatte, an den Verhandlungen vor dem Berufungsausschuß selbst teilzunehmen oder sich dort vertreten zu lassen. Im Falle der Versagung des rechtlichen Gehörs könnte der Verwaltungsakt allenfalls dann nichtig sein, wenn er dadurch zu einem dem Bereich der hoheitlichen Betätigung fremden, gesetzlich überhaupt nicht zu rechtfertigenden Akt reiner Willkür werden würde (Urt. Bundesgerichtshof v. 14.5.1954 - DVBl. 1954 S. 431 und DÖV. 1954 S. 438). Von einem solchen schwerwiegenden Verstoß gegen die Grundlagen des Verwaltungsverfahrens kann hier nicht die Rede sein.
Auch die Tatsache, daß gegen den Kläger vor Durchführung des Entziehungsverfahrens bereits wegen der gleichen Vorgänge, die zu den Entziehungsbeschlüssen geführt haben, von dem Disziplinarausschuß der Kassenärztlichen Vereinigung eine Verwarnung und eine Geldstrafe verhängt worden waren, vermag die Nichtigkeit des Entziehungsbescheids nicht zu begründen. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die Entziehung der Zulassung auf Grund des gleichen Sachverhalts, der schon zu einer Bestrafung im Disziplinarwege geführt hat, eine Verletzung des Verbots der doppelten Bestrafung ("ne bis in idem") darstellt und daher rechtswidrig ist. Selbst wenn man das bejahen wollte, so würde doch auch eine solche Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsverfahrens nicht die Nichtigkeit des in dem Verfahren ergangenen Verwaltungsaktes, sondern nur seine Anfechtbarkeit begründen. - Auch das weitere Vorbringen des Klägers, der beklagte Berufungsausschuß habe mit der Entziehung der Zulassung nach Verhängung der Disziplinarstrafe gegen Treu und Glauben verstoßen, kann die Nichtigkeit des Entziehungsbescheids nicht begründen. Somit ist die Klage auf Feststellung der Nichtigkeit der Entziehungsbescheide unbegründet.
Die Berufung des Klägers gegen das die Nichtigkeitsklage abweisende Urteil des Sozialgerichts war daher zurückzuweisen. Damit ist das Urteil des Sozialgerichts, nachdem der Beklagte seine unselbständige Anschlußberufung zurückgenommen hat, rechtskräftig geworden. Der Berufungsausschuß wird nunmehr das noch bei ihm schwebende Verfahren über die Entziehung der Zulassung fortzusetzen haben.
Fundstellen