Leitsatz (redaktionell)

Verbot der Abweichung in der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit um nur 5 vH - Bindungswirkung nach SGG § 77:

1. Die Unzulässigkeit einer Abweichung um 5 vH, bei der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit setzt voraus, daß eine vorherige Festlegung der Minderung der Erwerbsfähigkeit stattgefunden hat. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Verfügungssatz des Bescheides nicht genannt worden ist.

2. Die Bindungswirkung der Bescheide nach SGG § 77 erstreckt sich nur auf den Verfügungssatz des Bescheides und nicht auch auf die Begründung des Bescheides.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. November 1974 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Aufgrund von Anzeigen der Universitäts-Hals-Nasen-Ohren-Klinik H und des Unternehmers einer Gesenkschmiede über eine Lärmschwerhörigkeit des Klägers beauftragte der Staatliche Gewerbearzt des Saarlandes in S Prof. Dr. P von der anzeigenden Klinik mit einer Begutachtung des Klägers. Im Gutachten vom 30. Dezember 1971 kam Prof. Dr. P zu dem Ergebnis, daß die festgestellte beiderseitige mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit des Klägers zum Teil auf altersbedingte Veränderungen und zum Teil auf Lärm zurückzuführen sei. Er empfahl die Anerkennung als Berufskrankheit. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte er auf 30 v. H. Dem Gutachten trat der Staatliche Gewerbearzt mit der gutachtlichen Äußerung vom 18. Februar 1972 bei. Wegen Zweifeln an der Beurteilung, insbesondere wegen des Abzugs eines Anteils für die Altersschwerhörigkeit, ersuchte die Beklagte den Staatlichen Gewerbearzt um eine Stellungnahme. Dieser übermittelte der Beklagten eine Stellungnahme des Prof. Dr. P vom 19. Mai 1972, wonach die lärmbedingte Schwerhörigkeit nach Abzug eines altersbedingten Anteils eine MdE von 30 v. H. bedinge. Da die Beklagte weiterhin Zweifel an dem Grad der MdE infolge berufsbedingter Lärmeinwirkung hatte, holte sie eine Stellungnahme von Dr. H in O vom 6. Juni 1972 ein. Er schlug wegen der Diskrepanz zwischen Sprachaudiogramm und Hörvermögen für Umgangssprache eine klinische Nachuntersuchung des Klägers vor. Diese fand in der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der R-universität B, Klinikum E, statt. Über deren Ergebnis führte Prof. Dr. W im Gutachten vom 31. Juli 1972 aus, daß beim Kläger eine Innenohrschwerhörigkeit in den hohen Tonfrequenzen bestehe, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf seine Lärmtätigkeit zurückzuführen sei. Das Hörbild sei nicht frei von Aggravationen; der Kläger höre nicht so schlecht, wie er in Homburg angegeben habe. Die lärmbedingte Schwerhörigkeit sei deshalb nach einer MdE von 15 v. H. entsprechend einer geringgradigen Schwerhörigkeit einzuschätzen. Durch Bescheid vom 9. November 1972 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Entschädigung ab. Zur Begründung führte sie u. a. aus, daß die berufsbedingte Schwerhörigkeit die Erwerbsfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach dem Gutachten des Prof. Dr. W um 15 v. H. mindere, eine Entschädigungspflicht aber erst bestehe, wenn die MdE rechtserheblich, d. h. einen zum Bezug der Rente berechtigenden Grad erreicht habe; das sei im Regelfalle eine MdE von 20 v. H.

Auf Ersuchen des Sozialgerichts (SG) Speyer haben Prof. Dr. B und Dr. S von der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Städtischen Krankenanstalten L nach dreimaliger Untersuchung des Klägers ein Gutachten vom 9. Mai 1973 erstattet. Nach Meinung der Sachverständigen liege beim Kläger eine gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit vor, die in ihrer Gesamtheit auf die berufsbedingte Lärmeinwirkung zurückzuführen sei. Die MdE schätzten die Sachverständigen auf 20 v. h. Der durchschnittliche durch den Altersabbau hervorgerufene Hörverlust im berufsfähigen Alter sei zu gering, um bei der Bemessung der MdE eine Rolle zu spielen. Das SG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. Februar 1971 an Rente nach einer MdE um 20 v. H. zu gewähren (Urteil vom 17. Januar 1974). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz zurückgewiesen (Urteil vom 13. November 1974). Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: Zwar vertrete die Rechtsprechung zu § 581 Reichsversicherungsordnung (RVO) die Meinung, daß Abweichungen in der Schätzung der MdE um 5 v. H. unbeachtlich seien, weil sie innerhalb einer natürlichen Fehlergrenze lägen und daher nicht unrichtig zu sein brauchten. Dies gelte jedoch nicht ausnahmslos und jedenfalls dann nicht, wenn die Gewährung einer Rente von der Bewertung der MdE abhänge. Aufgrund des Gutachtens des Städtischen Krankenhauses L, das überzeuge, sei der Kläger durch die berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit in seiner Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. gemindert.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seien die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht befugt, von der Bemessung des Grades der MdE durch den Versicherungsträger um 5 v. H. abzuweichen. Das gelte auch, wenn in einem Ablehnungsbescheid der Grad der MdE mit 15 v. H. festgesetzt worden sei. Das sei hier der Fall. Sie habe im Bescheid vom 9. November 1972 die MdE mit 15 v. H. bemessen. Diese Auffassung rechtfertige sich, weil eine Abweichung um 5 v. H. innerhalb der natürlichen Fehlergrenze jeder Schätzung liege.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts Speyer vom 17. Januar 1974 und des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. November 1974 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Von dem Grundsatz, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei der Bewertung der MdE von den ihnen zur Überprüfung unterbreiteten Entscheidungen nicht um 5 v. H. abweichen dürften, sei jedenfalls dann eine Ausnahme zu machen, wenn die abweichende Feststellung der MdE überhaupt erst zu einer Rentenberechtigung führe.

 

Entscheidungsgründe

Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten zu Recht für zulässig gehalten. Bei der Verurteilung der Beklagten durch das SG, dem Kläger vom 1. Februar 1971 an Rente nach einer MdE um 20 v. H. zu gewähren, hat es sich um die Feststellung einer Dauerrente gehandelt, denn im Zeitpunkt der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils am 17. Januar 1974 waren bereits mehr als zwei Jahre seit dem Beginn der Berufskrankheit vergangen. Auch für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gilt die zwingende Vorschrift des § 1585 Abs. 2 RVO, daß spätestens mit Ablauf dieser Frist die Dauerrente festzustellen ist (RVA AN 1924, 72). Gründe für den Ausschluß der Berufung gemäß § 145 SGG haben demnach nicht vorgelegen.

Die Beklagte ist zu Recht verurteilt worden, dem Kläger wegen Lärmschwerhörigkeit eine Rente nach einer MdE von 20 v. H. zu gewähren.

Nach § 551 Abs. 1 und 4 RVO i. V. m. § 1 der Siebenten Berufskrankheiten-Verordnung - 7. BKVO - vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) und Nr. 26 ihrer Anlage 1 ist Lärmschwerhörigkeit, die ein Versicherter bei einer der in § 539 RVO genannten Tätigkeiten erleidet, eine Berufskrankheit. Die Beklagte hat im angefochtenen Bescheid eine berufsbedingte Schwerhörigkeit des Klägers zwar bejaht, einen Entschädigungsanspruch jedoch abgelehnt, weil die MdE des Klägers durch die Berufskrankheit nur um 15 v. H. gemindert sei.

Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO setzt die Gewährung einer Rente voraus, daß die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge der Berufskrankheit um wenigstens 20 v. H. gemindert ist. Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht eine durch die Lärmschwerhörigkeit bedingte MdE des Klägers von 20 v. H. festgestellt. Daran ist das Revisionsgericht gebunden, da in bezug auf diese Feststellung Revisionsrügen nicht vorgebracht worden sind (§ 163 SGG).

Zu Unrecht ist die Beklagte der Auffassung, daß das SG zu ihrer Verurteilung nicht hätte gelangen dürfen, da die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht befugt seien, um 5 v. H. gegenüber einem die MdE um 15 v. H. bemessenden Ablehnungsbescheid eines Versicherungsträgers abzuweichen. Diese Auffassung der Beklagten findet in dem von ihr zitierten Urteil des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. März 1974 - 8/2 RU 55/72 - (BSG 37, 177) keine Stütze. Dort ist unter Hinweis auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats ausdrücklich erwähnt, daß die Unzulässigkeit einer Abweichung um 5 v. H. bei der Bemessung der MdE voraussetzt, daß vorher eine Festsetzung der MdE stattgefunden hat. Von dieser ständigen Rechtsprechung abzuweichen besteht keine Veranlassung (vgl. auch das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil vom 17. Dezember 1975 - 2 RU 35/75). Eine Festsetzung der MdE ist im vorliegenden Fall jedoch nicht erfolgt. Die Beklagte hat durch Bescheid vom 9. November 1972 die Gewährung einer Entschädigung abgelehnt. Auf diesen Verfügungssatz und nicht auch auf die Ausführungen in der Begründung des Bescheides über die MdE infolge der berufsbedingten Schwerhörigkeit erstreckt sich die Bindungswirkung des Bescheides nach § 77 SGG. Die Gründe eines Verwaltungsaktes nehmen an der Bindungswirkung ebensowenig teil wie die Entscheidungsgründe eines Urteils an der Rechtskraft. Dem steht nicht entgegen, daß die Gründe einer Entscheidung ausnahmsweise mit an der Rechtskraft bzw. Bindungswirkung teilnehmen können, wenn und soweit sie zur Auslegung des Urteilstenors bzw. des Verfügungssatzes eines Verwaltungsaktes heranzuziehen sind (vgl. BSG 5, 96, 100; SozR Nr. 5 zu § 581 RVO). Ein Fall, in dem die Gründe des Bescheides an der Bindungswirkung teilnehmen, liegt bei dem Bescheid vom 9. November 1972 nicht vor. Nach dem Inhalt des Bescheides ist ein Entschädigungsanspruch des Klägers nicht gegeben, da seine MdE infolge der Schwerhörigkeit den zum Bezug einer Rente berechtigenden Mindestgrad nicht erreicht; mit dem Hinweis auf die MdE von 15 v. H. wird die Begründung für die Ablehnung des Entschädigungsanspruches lediglich konkretisiert. Daß die Beklagte darüber hinaus auch eine sie selbst für die Zukunft bindende Festsetzung über die Höhe der durch die Schwerhörigkeit des Klägers bedingte MdE treffen wollte (vgl. SozR Nr. 24 zu § 77 SGG), kann dem Bescheid nicht entnommen werden.

Die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 9. November 1972 ergibt sich somit daraus, daß die MdE des Klägers infolge einer Berufskrankheit im Sinne der Nr. 26 der Anlage 1 zur 7. BKVO den zum Bezug einer Rente berechtigenden Mindestgrad (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO) erreicht. Die Beklagte ist daher zu Recht zur Gewährung einer entsprechenden Rente verurteilt worden. Ihre Revision mußte zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651587

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