Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 18.05.1960) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Mai 1960 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Ehemann der Klägerin betrieb eine landwirtschaftliche Viehhaltung. Am 7. Dezember 1956 mußte er einen von ihm gehaltenen Zuchtbullen, der zum Decken zugelassen war, im Hofe der Gastwirtschaft J. in Großensiel zur Körung vorführen. Dem Tier wurde die gute Note 1 b zuerkannt; bei einem um nur 1 ½ kg höheren Gewicht hätte es die Höchstnote 1 a erzielt. Die Körung mit anschließender Gebührenentrichtung dauerte bis etwa 17 Uhr. Danach hielt sich der Ehemann der Klägerin noch bis 22.00 Uhr oder 22.15 Uhr in Gesellschaft der Landwirte H. und B. sowie des Viehhändlers B., die an der Körung interessiert und deshalb von dem Ehemann der Klägerin hierzu eingeladen worden waren, in der Gastwirtschaft J. auf. Sie unterhielten sich u. a. über den Verlauf der Körung, über die Eigenschaften und die Vererbungsmerkmale des gekörten und auch anderer Bullen, über die Bullenzucht im allgemeinen sowie darüber, wie der Ehemann der Klägerin den gekörten Bullen mit Hilfe des Zeugen B. erworben hatte. Dabei wurde Alkohol „in kleinen Lagen” (2 ccm 32 %iger Korn und 1/10 1 Bier) getrunken. Den Heimweg trat der Ehemann der Klägerin zu Fuß gemeinsam mit B. an, der ein Fahrrad mit sich führte. Nachdem die beiden 200 bis 300 m zurückgelegt hatten, kam ihnen ein von dem Reisenden Rupprecht gesteuerter Personenkraftwagen entgegen. Von diesem Wagen wurde der Ehemann der Klägerin angefahren und so schwer verletzt, daß er noch in derselben Nacht starb. Die Blutalkoholuntersuchung ergab bei dem Verunglückten einen Wert von 1,63 0/00, bei B. einen solchen von 1,65 0/00. Das gegen R. eingeleitete Strafverfahren wurde eingestellt; er hatte vorgebracht, als er mit den beiden Fußgängern ungefähr auf gleicher Höhe gewesen sei, habe der Ehemann der Klägerin beide Arme hochgestreckt und sei in die Fahrbahn des Wagens gelaufen.
Durch Bescheid vom 13. Juni 1957 lehnte die Beklagte den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente und Sterbegeld ab, weil der Versicherungsschutz für den Verunglückten sowohl wegen des mehrstündigen Wirtschaftsaufenthalts als auch wegen der durch Alkoholgenuß bedingten Verkehrsuntüchtigkeit entfallen sei.
Die hiergegen gerichtete Klage ist vom Sozialgericht (SG) Oldenburg durch Urteil vom 19. Juni 1958 aus dem Gesichtspunkt der Lösung vom Betrieb durch übermäßigen Alkoholgenuß abgewiesen worden.
Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat in seinem Urteil vom 18. Mai 1960 die Frage der alkoholbedingten Verkehrsuntüchtigkeit unerörtert gelassen; es hat in dem fünfstündigen Wirtschaftsaufenthalt nicht nur eine Unterbrechung der Betriebstätigkeit, sondern eine Lösung vom Betriebe gesehen. Im einzelnen hat es dazu ausgeführt: Der Aufenthalt in der Gastwirtschaft habe nicht betrieblichen Interessen gedient, sondern in erster Linie geselligen Charakter gehabt. Dies ergebe sich aus der langen Dauer des Aufenthalts, aus der Menge des genossenen Alkohols und daraus, daß der Ehemann der Klägerin aus Freude über seinen Körerfolg zu dem Zusammensein eingeladen habe. Dem stehe nicht entgegen, daß auch Gespräche landwirtschaftlich-betrieblicher Art. geführt worden seien. Solche Gespräche könnten nur dann Versicherungsschutz begründen, wenn sie für das betreffende Unternehmen von unmittelbarer Bedeutung seien oder ihm konkret dienten. Der Ehemann der Klägerin habe aber nur theoretische und allgemeine Gespräche geführt. Daß der Gasthausaufenthalt auch als Kundenwerbung gedacht gewesen sei, sei nicht wahrscheinlich; denn dies habe der Ehemann der Klägerin bei dem günstigen Ergebnis der Körung nicht notwendig gehabt, außerdem hätten die Zeugen nichts derartiges bekundet. Im übrigen verliere jede Werbung den betrieblichen Charakter, wenn sie – wie bei einem Gasthausaufenthalt – hinter der Geselligkeit eines Zusammenseins zurücktrete.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Klägerin am 9. Juli 1960 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 4. August 1960 Revision eingelegt und diese am 3. September 1960 begründet.
Die Revision führt im wesentlichen aus: Das angefochtene Urteil sei im Tatbestand insofern unrichtig, als die Berufungsschrift der Klägerin den Vortrag enthalten solle, für ihren Ehemann habe Grund zum Feiern und zum Trinken bestanden, weil bei der Körung des Bullen die Note 1 b erzielt worden sei. In Wahrheit habe die Klägerin dies nicht in der Berufungsschrift vorgetragen. Ob sie es in der mündlichen Verhandlung erklärt habe, lasse sich nicht feststellen. Selbst wenn dies der Fall gewesen sei, könne die Erklärung nur als Vermutung verstanden werden. Eine solche Vermutung bilde aber keine geeignete Grundlage für eine sachliche Feststellung über die Verhaltensweise des Ehemannes der Klägerin. In materiell-rechtlicher Hinsicht vertritt die Revision den Standpunkt, der Ehemann der Klägerin habe auch während seines Aufenthalts in der Gastwirtschaft unter Versicherungsschutz gestanden; denn er habe dort in unmittelbarem Anschluß an die Körung Gespräche mit Kunden über seine Bullenhaltung geführt. Diese Gespräche seien sowohl wegen des behandelten Themas als auch aus dem Gesichtspunkt der Kundenwerbung betriebsbezogen gewesen. Die Tatsache, daß der Bulle ausgezeichnet worden sei, habe eine weitere Anpreisung nicht überflüssig gemacht. Der Versicherungsschutz sei nicht dadurch beeinträchtigt worden, daß die Gespräche in einer Gastwirtschaft geführt worden seien. Das LSG habe auch zu Unrecht zwischen rein theoretischen und praktischen Erörterungen landwirtschaftlicher Themen unterschieden; für die Landwirtschaft sei jede theoretische Erörterung auch von praktischer Bedeutung. Selbst für den Fall, daß der Aufenthalt in der Gastwirtschaft nicht als versicherte Tätigkeit angesehen werde, sei der Heimweg wieder betriebsbezogen gewesen, weil der Ehemann der Klägerin denselben Weg auch hätte gehen müssen, wenn er die Gastwirtschaft J. alsbald nach Beendigung der Körung verlassen hätte.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der Urteile der. Vorinstanzen und des Bescheides der Beklagten vom 13. Juni 1957 zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenrente und Sterbegeld aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie nimmt Bezug auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet werden, also zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Die auf dem Gebiet des Verfahrensrechts liegende Rüge der Revision, das LSG hätte nicht davon ausgehen dürfen, daß für den Ehemann der Klägerin ein besonderer Grund zum Feiern vorgelegen habe, ist nicht begründet. Der Tatbestand des Berufungsurteils zwingt nicht zu dem Schluß, daß schon die Berufungsschrift der Klägerin das Vorbringen enthalten habe, für den Ehemann der Klägerin habe ein besonderer Grund zum Feiern vorgelegen. Das LSG hat unmittelbar vor der Wiedergabe des Antrages der Klägerin deren Berufungsvorbringen zusammengefaßt; es hat dabei – dies ist auch nicht erforderlich – nicht zwischen dem Inhalt der Berufungsschrift und dem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung unterschieden. Die von der Revision beanstandete Wiedergabe des Sachvortrages der Klägerin läßt sich daher ohne Zwang auf das Vorbringen in der mündlichen Verhandlung beziehen. Daß dieses aber unrichtig wiedergegeben sei, hat die Revision nicht behauptet. Sie weist allerdings mit Recht darauf hin, daß die bloße Erklärung der Klägerin, ihr Ehemann habe einen besonderen Grund zum Feiern gehabt – mag diese Erklärung als Vermutung oder als eine Wiedergabe von Tatsachen aufzufassen sein –, das LSG nicht zu einer dahingehenden Feststellung berechtigte; denn es hatte den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG) und mußte seine richterliche Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens herleiten (§ 128 Abs. 1 SGG). Daß es diese Pflicht verletzt hätte, ergibt sich jedoch weder aus dem Revisionsvorbringen noch aus dem Akteninhalt. Das Beweisergebnis – vor allem die Bekundung des Zeugen J., der Ehemann der Klägerin sei sehr zufrieden und fröhlich gewesen, denn sein Bulle habe sich als der beste am Platze erwiesen – ließ die von der Revision beanstandete Feststellung zu, ohne daß eine Überschreitung des Rechts der freien richterlichen Überzeugungsbildung ersichtlich wäre.
In materiell-rechtlicher Hinsicht ist der Revision darin zu folgen, daß der Ehemann der Klägerin auf dem unfallbringenden Heimweg – wenn man von der möglicherweise infolge des Alkoholgenusses eingetretenen Verkehrsuntüchtigkeit absieht – jedenfalls dann unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hätte, wenn der Aufenthalt in der Gastwirtschaft J. der versicherten landwirtschaftlichen Tätigkeit des Verunglückten zuzurechnen wäre. Diese Voraussetzung hat das LSG jedoch mit Recht als nicht gegeben angesehen. Eine versicherte Tätigkeit hat der Ehemann der Klägerin in der Gastwirtschaft J. entgegen der Auffassung der Revision nicht schon deshalb ausgeübt, weil er sich mit drei Interessenten über seine Bullenzucht unterhalten hat. Die, Bedeutung solcher fachlichen Bespräche kann sich durchaus und wird sich auch vielfach – zumal wenn sie in einer Gastwirtschaft bei alkoholischen Getränken stattfinden – darin erschöpfen, daß zur allgemeinen Unterhaltung beigetragen und die Geselligkeit gefördert werden soll. Es liegt nahe, daß beruflich in gleicher Richtung Interessierte sich vornehmlich über Fragen ihres Fachgebietes unterhalten. In versicherungsrechtlichem Sinne betriebsbezogen wird die Unterhaltung für den einen oder anderen der Teilnehmer erst dadurch, daß ein innerer, rechtlich beachtlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit begründet und auf diese Weise dem betreffenden Betriebe oder der Tätigkeit gedient wird (vgl. BSG 1, 258, 261). Ein solcher innerer Zusammenhang ist im vorliegenden Falle, wie das LSG mit Recht ausgeführt hat, nicht schon durch die Gesprächsthemen begründet worden. Andernfalls wäre jede Unterhaltung, die sich auf betriebliche Vorgänge bezieht, als Betriebstätigkeit anzusehen und somit eine sinnvolle Abgrenzung zwischen der betrieblichen und der persönlichen Sphäre schlechthin unmöglich.
Nach den vom LSG getroffenen, von der Revision nicht wirksam angegriffenen und somit das Bundessozialgericht (BSG) bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) hat sich der Ehemann der Klägerin mit den von ihm eingeladenen Personen über seine Bullenzucht und die Bullenzucht im allgemeinen unterhalten und jene Personen über den Erwerb seines gekörten Bullen sowie über dessen Vorzuge und die Eigenschaften anderer Bullen unterrichtet. Hierin könnte eine dem landwirtschaftlichen Betrieb des Verunglückten dienende Tätigkeit – wie es das LSG auch getan hat – allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Kundenwerbung in Betracht gezogen werden. Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht nicht als wahrscheinlich angesehen, daß der Ehemann der Klägerin eine Kundenwerbung habe durchführen wollen, weil dies im Hinblick auf das günstige Ergebnis der Körung nicht notwendig gewesen sei. In einer Hilfsbegründung hat es alsdann die Kundenwerbung – falls sie beabsichtigt gewesen sein sollte – aus Rechtsgründen der landwirtschaftlichen Betriebstätigkeit vor allem deshalb nicht zugerechnet, weil sie hinter der Geselligkeit erheblich zurückgetreten sei. Die zuerst angeführte Begründung greift die Revision mit der Rüge an, auch bei einem durch die Körung ausgezeichneten Bullen erübrige sich keineswegs eine weitere Anpreisung. Ob diese Rüge – wegen Verstoßes gegen allgemeine Erfahrungssätze oder aus anderen Gründen – gerechtfertigt ist, konnte der Senat unentschieden lassen, weil jedenfalls die Hilfsbegründung des LSG seine Entscheidung trägt. Selbst wenn man davon ausgeht, daß das Zusammensein des Ehemannes der Klägerin mit den drei angeführten Personen auch von dem Zweck der Kundenwerbung bestimmt war, so kann diesem Zweck in Übereinstimmung mit dem LSG keine wesentliche, sondern nur nebensächliche Bedeutung beigemessen werden. Dies ergibt sich sowohl daraus, daß angesichts der günstigen, den anwesenden Interessenten bekannten Körergebnisses der Eigentümer des gekörten Bullen kaum etwas zu unternehmen brauchte, um sich die beiden Landwirte als Kunden zu erhalten und sie für eine häufigere Inanspruchnahme des Bullen zu gewinnen, als auch aus dem ungewöhnlich lange ausgedehnten Wirtshausaufenthalt von fünf Stunden. Hiernach stand die Geselligkeit so sehr im Vordergrund, daß auch der erkennende Senat dem Gesichtspunkt der Kundenwerbung keine rechtlich wesentliche Bedeutung beizumessen vermochte (vgl. auch Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., § 542 RVO Anm. 3 II 9 S 73). Der Aufenthalt in der Gastwirtschaft war daher nicht der landwirtschaftlichen Tätigkeit, sondern dem unversicherten persönlichen Bereich des Ehemannes der Klägerin zuzurechnen.
Die Entscheidung, ob der nach 22 Uhr angetretene Heimweg unter dem Schütz der gesetzlichen Unfallversicherung stand, hängt demnach davon ab, ob der Aufenthalt in der Gastwirtschaft lediglich zu einer Unterbrechung oder zu einer Lösung von der landwirtschaftlichen Betriebstätigkeit geführt hat. Eine bloße Unterbrechung ist entgegen der Auffassung der Revision nicht schon deshalb anzunehmen, weil der Ehemann der Klägerin nach dem Verlassen der Gastwirtschaft denselben Weg eingeschlagen hat, den er gegangen wäre, wenn er sich alsbald nach Beendigung der Körung nach Hause begeben hätte. Es kommt vielmehr für die Beantwortung der Frage, ob der Heimweg ein unter Versicherungsschutz stehender Betriebsgang oder ein Rückweg von einer persönlichen Verrichtung war, auf die Dauer und die Art. der vorangegangenen unversicherten Tätigkeit an (vgl. BSG SozR RVO § 543 Bl. Aa 4 Nr. 7 und BSG 10, 228). Diese Prüfung ergibt im vorliegenden Falle, daß zwar der Anlaß zum Aufsuchen der Gastwirtschaft in der Teilnahme an der Körung lag und auch bis zu einem gewissen Grade der Gedanke der Kundenwerbung das gesellige Beisammensein beeinflußt haben mag; diese Beziehungen zu der versicherten Tätigkeit traten aber gegenüber der Geselligkeit von fünfstündiger Dauer so sehr in den Hintergrund, daß sie den Versicherungsschutz für den Heimweg nicht erhalten konnten. Der in BSG 10, 226 ff behandelte Fall liegt insofern entscheidend anders, als dort dem Versicherten, der seinen Heimweg wegen einer fünfeinhalb Stunden dauernden Motorradreparatur nicht fortgesetzt hatte, keine Möglichkeit gegeben war, die Unterbrechung des Heimwegs zu umgehen. Demgegenüber hatte sich der Verunglückte im vorliegenden Falle, wie vor allem aus der Dauer seines Aufenthalts in der Gastwirtschaft zu schließen ist, von der vorausgegangenen versicherten Tätigkeit abgewandt und die ihm zur Verfügung stehende Freizeit seinen Wünschen entsprechend gestaltet.
Hiernach ist das LSG mit Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß der Weg, auf dem der Ehemann der Klägerin verunglückt ist, kein Betriebsweg, sondern ein unversicherter Heimweg von einem seinem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden geselligen Aufenthalt in einer Gastwirtschaft war.
Die Revision der Klägerin mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden, ohne daß noch zu prüfen gewesen wäre, ob die Hinterbliebenenansprüche auch wegen des festgestellten Grades der Alkoholbeeinflussung des Verunglückten unbegründet sind.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Hunger, Schmitt
Fundstellen