Leitsatz (amtlich)

1. Die Fälligkeit - iS des RVO § 29 Abs 3 - des Anspruchs auf eine Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung setzt nicht voraus, daß die Leistung durch Bescheid des Versicherungsträgers festgestellt ist.

2. Die Verjährung des Anspruchs auf die Witwenrentenleistungen ist auch nicht gemäß BGB § 202 Abs 1 gehemmt, solange sie noch nicht durch einen Bescheid des Versicherungsträgers festgestellt ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Einrede der Verjährung ist auch in den Fällen der Neufeststellung von Leistungen nach RVO § 1300 nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

 

Normenkette

RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1938-09-01, § 1300 Fassung: 1957-02-23; BGB § 202 Abs. 1 Fassung: 1896-08-18

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Juni 1961 und des Sozialgerichts Landshut vom 24. April 1959 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 29. November 1957 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin ist die Witwe des am 14. November 1936 gestorbenen Versicherten W. Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Witwenrente vom 2. Oktober 1949 mit Bescheid vom 5. Februar 1951 ab, weil die Anwartschaft nicht erhalten sei; die Klägerin nahm im Verfahren vor dem Oberversicherungsamt (OVA) die Berufung gegen den Bescheid vom 5. Februar 1951 zurück. Am 31. Mai 1957 beantragte sie erneut Witwenrente. Die Beklagte hob mit Bescheid vom 29. November 1957 ihren Bescheid vom 5. Februar 1951 auf und bewilligte der Klägerin Witwenrente vom 1. Mai 1953 an. Sie ging hierbei von den Erwägungen aus, der frühere Antrag der Klägerin auf Witwenrente sei zu Unrecht abgelehnt worden, jedoch sei der Anspruch auf die Rentenbeträge für die Zeit vor dem 1. Mai 1953 verjährt. Das Sozialgericht (SG) hat unter Abänderung des Bescheides vom 29. November 1957 die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Witwenrente vom 1. November 1949 an zu zahlen, und die Berufung zugelassen. Die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil hatte keinen Erfolg. Die Leistung sei - so hat das Berufungsgericht ausgeführt - nicht erst vom Beginn des Monats der zweiten Antragstellung (Mai 1957) an zu gewähren, weil in einem Falle wie dem vorliegenden, in dem der Versicherungsträger sich von der Unrichtigkeit seines früheren Bescheides überzeugt und deshalb gemäß § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erneut über die Leistung entschieden habe, die Leistung rückwirkend von dem ursprünglichen Antrag an zu gewähren sei; der zweite Antrag sei kein echter Antrag im Sinne des § 1286 RVO aF, weil eine neue Prüfung nach § 1300 RVO einen Antrag nicht voraussetze. Die Verjährung der einzelnen Rentenleistungen mit einer Frist von vier Jahren (§ 29 Abs. 3 RVO) beginne mit deren Fälligkeit. Als fällig geworden in diesem Sinne könne der Anspruch auf Leistungen aber erst dann angesehen werden, wenn der Versicherungsträger ihn festgestellt habe, denn vorher wisse weder der Berechtigte, was er zu fordern, noch der Versicherungsträger, ob und in welcher Höhe er zu leisten habe. Selbst wenn aber die Verjährung schon mit der Entstehung des Anspruchs, nicht erst mit seiner Feststellung, beginne, stünde hier der Verjährung der auch im Sozialversicherungsrecht entsprechend anwendbare § 202 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entgegen (BSG 6, 283, 288; 8, 218, 221). Nach dieser Vorschrift sei die Verjährung gehemmt, solange die Leistung gestundet oder der Verpflichtete aus einem anderen Grunde vorübergehend zur Verweigerung der Leistung berechtigt sei. Die zweite Voraussetzung sei hier gegeben, denn die Beklagte habe die Leistung gar nicht bewirken können, solange sie nicht durch einen Verwaltungsakt festgestellt gewesen sei. Ob Treu und Glauben der Einrede der Verjährung entgegenständen, könne deshalb dahinstehen.

Gegen dieses Urteil, in dem die Revision zugelassen ist, hat die Beklagte Revision mit dem Antrag eingelegt,

die Urteile des Landessozialgerichts (LSG) und des SG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 29. November 1957 abzuweisen.

Die Beklagte rügt Verletzung materiellen Rechts, nämlich der §§ 1300, 29 RVO. § 29 RVO sei neben § 1300 RVO anzuwenden. Dieser sei keine Sondervorschrift gegenüber § 29 RVO, abgesehen davon, daß es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz gebe, daß die Sondervorschrift in jedem Falle der allgemeinen vorgehe. Die Verjährung diene der Rechtssicherheit; es müsse verhütet werden, daß die Versicherungsträger durch Nachzahlungen für weit zurückliegende Zeiten unvorhergesehenen Belastungen ausgesetzt würden (EuM 33, 314, 316). Bei dem heutigen komplizierten Rentenrecht erscheine die Wahrung des Rechtsfriedens, dem die Verjährungsvorschriften dienten, mehr als je notwendig. Ändere sich zum Beispiel die Rechtsprechung und fielen dadurch bei Anwendung des § 1300 RVO Leistungen für zurückliegende Zeiten an, so würde das Bemühen des Versicherungsträgers, sich der geänderten Rechtslage anzupassen und damit zu einer einheitlichen Rechtsauslegung im Bundesgebiet beizutragen, ohne Anwendung des § 29 RVO nur zur Rechtsunsicherheit und zu erheblichen Schwierigkeiten führen. § 1304 RVO aF habe den Versicherungsträger schon so gebunden, daß die Neufassung in § 1300 RVO keine Änderung des Wesensgehalts der Vorschrift bedeute. Das bisherige Schrifttum und die bisherige Rechtsprechung können daher unverändert angewandt werden (AN 10, 644; 13, 546; EuM 4 S. 9). Auch für § 1300 RVO werde die Anwendung der Verjährungsvorschriften von Etmer (Kommentar zur RVO § 1300 Anm. 2) und Niemann (SozVers. 1960, 253 und SGb 1961, 234, 236) bejaht. Wenn der Versicherte ein Recht auf erneute Prüfung habe, müsse er es sich gefallen lassen, daß dieses Recht, wenn er es nach langer Zeit geltend mache, der Verjährung unterliege. Die Kenntnis des Rechts sei nicht Voraussetzung für den Beginn der Verjährung (EuM 33, 316). Bei der Bescheiderteilung im Jahre 1951 sei § 4 Abs. 1 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) deshalb nicht angewandt und deshalb Rente versagt worden, weil damals die Rechtsauffassung vertreten werden konnte, daß Art. 17 der Vereinfachungsverordnung (VereinfVO) vom 17. März 1945 nur auf Versicherungsfälle anzuwenden sei, für die am 31. März 1945 ein rechtskräftiger Bescheid noch nicht ergangen sei. Hier liege aber ein solcher seit 1936 vor. Diese Auffassung habe das Bayerische LSG noch am 31. Mai 1960 (Bayer. AmtsBl. 1960, 81) vertreten. Die Landesversicherungsanstalt (LVA) habe ihre Auffassung unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bayerischen LSG vom 23. Oktober 1956 (AmtsBl. 1957, 60 B) aufgegeben, was aber nicht beweise, daß ihre Auffassung falsch gewesen sei. Dabei möge dahingestellt bleiben, ob nicht der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit gegenüber dem Grundsatz von Treu und Glauben im Verwaltungsrecht Vorrang beanspruchen könne. - Die Verjährung könne auch eintreten, ehe die Leistung festgestellt sei. Das LSG habe nicht beachtet, daß bei dem Entwurf der RVO die in erster Lesung beschlossene Einschränkung der Verjährung auf die festgestellten Leistungen in zweiter Lesung aufgehoben worden sei. Dadurch habe der Gesetzgeber seinen Willen unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß auch nicht festgestellte Leistungen verjähren können. Die Verjährungsvorschriften des BGB könnten nur insoweit herangezogen werden, als die Sozialversicherungsgesetze keine derartigen Vorschriften enthielten. Nachdem aber der Gesetzgeber hinsichtlich der Verjährung nicht festgestellter Leistungen seinen Willen unmißverständlich ausgedrückt habe, entfalle die Anwendung des § 202 Abs. 1 BGB. Den von dem LSG angeführten Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG 6, 283 und 8, 218) liege ein völlig anderer Tatbestand zugrunde.

Die Klägerin hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

Die Revision der Beklagten ist zulässig; sie hatte auch Erfolg.

Es ging darum, ob die Beklagte mit Recht in ihrem Bescheid vom 29. November 1957 es abgelehnt hat, der Klägerin die Witwenrente auch für die Zeit vor dem 1. Mai 1953 zu gewähren. In dem genannten Bescheid hat die Beklagte, weil sie sich bei erneuter Prüfung überzeugt hatte, daß die Witwenrente durch den Bescheid vom 5. Februar 1951 zu Unrecht abgelehnt worden war, gemäß § 1300 RVO eine Witwenrente für die Klägerin festgestellt, jedoch mit der Begründung erst für die Zeit vom 1. Mai 1953 an, daß der Anspruch auf die Rentenleistungen für die vorausgegangene Zeit gemäß § 29 Abs. 3 RVO verjährt sei.

Anders als die Vorinstanzen hat der Senat diese Einrede der Verjährung für wirksam erachtet.

Gemäß § 29 Abs. 3 RVO verjährt der Anspruch auf Leistungen der Versicherungsträger in vier Jahren nach der Fälligkeit, soweit die RVO nichts anderes vorschreibt. Da für Rentenleistungen wie die hier streitige eine andere Vorschrift nicht besteht, beginnt die Verjährung mit der Fälligkeit der einzelnen Rentenleistung. Der Senat konnte aber der Ansicht des Berufungsgerichts nicht beitreten, als fällig könne eine solche Leistung erst dann angesehen werden, wenn der Versicherungsträger sie (durch Bescheid) festgestellt habe, denn vorher wisse weder der Berechtigte, was er zu fordern habe, noch der Versicherungsträger, ob und in welcher Höhe er zu leisten habe. Abgesehen davon, daß es nicht zutrifft, der Versicherungsträger wisse erst von der förmlichen Leistungsfeststellung an, ob und in welcher Höhe er zu leisten habe, ist die Kenntnis eines Anspruchs nicht Voraussetzung für den Beginn der Verjährung (EuM 33 S. 314, 316). Zudem ist eine Leistung nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen dann fällig, wenn der Gläubiger sie fordern kann, und die Witwenrentenzahlungen fordern konnte die Klägerin von dem Zeitpunkt an, in dem sowohl die materiall-rechtlichen Voraussetzungen des Rechtsanspruchs auf diese Zahlungen erfüllt waren als auch der Anspruch auf Witwenrente gemäß den §§ 1545 und 1613 RVO angemeldet war (zu vgl. ESG SozR RVO § 29 Nr. 4), d. h. vom 1. November 1949 an (§ 1286 RVO aF) und dann weiter jeweils für den laufenden Monat zu dessen Beginn (§ 1298 RVO aF, § 1297 RVO). Der Bescheid des Rentenversicherungsträgers über die Feststellung einer Witwenrente - deren Voraussetzungen und deren Höhe sich allein aus dem Gesetz ergeben - ist, wie schon die Bezeichnung Feststellungsbescheid zeigt, ein lediglich feststellender (deklaratorischer), nicht ein rechtsgestaltender (konstitutiver) Verwaltungsakt (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 232 f), er hat mithin nicht die Bedeutung, daß erst von seinem Erlaß an der Rentenberechtigte die Rente fordern könnte. Auch rechtfertigt der Umstand, daß das Gesetz nicht eine formlose Anspruchserfüllung genügen läßt, sondern aus wohlerwogenen Gründen die Erteilung eines förmlichen Leistungsfeststellungsbescheides vorschreibt (§§ 1630, 1631 RVO), nicht den Schluß, daß vor Erteilung eines solchen Bescheides der Berechtigte die Leistung nicht fordern könne. Dieser Schluß wäre umso weniger gerechtfertigt, als er bedeutete, daß der Versicherungsträger durch einseitiges Handeln in Gestalt des Hinausschiebens der Feststellung das Fälligwerden der Leistung verzögern könnte. Eine Sonderregelung aber wie in § 53 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Abgeltung von Besatzungsschäden, wonach die Entschädigung erst dann auszuzahlen ist, sobald der Feststellungsbescheid unanfechtbar geworden ist (zu vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juni 1958, NJW 58, 1744), enthält die RVO nicht.

Gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, erst nach Erlaß des Rentenfeststellungsbescheides könne von Fälligkeit der Rentenleistung und deshalb von dem Beginn der Verjährung gesprochen werden, spricht auch die Entstehungsgeschichte des § 29 Abs. 3 RVO. Denn aus dieser ergibt sich, daß die Reichsversicherungskommission des Reichstages die in erster Lesung beschlossene Einschränkung der Verjährung auf festgestellte Leistungen in zweiter Lesung aufgegeben hat, was für den Willen des Gesetzgebers spricht, es solle nicht Voraussetzung für den Beginn der Verjährung sein, daß die Leistungen festgestellt sind (zu vgl. Hanow, RVO, Erstes Buch, 5. Aufl. S. 115 Anm. 12 zu § 29).

Die vorstehende Rechtsauffassung stimmt - wie das Berufungsgericht nicht verkannt hat - mit der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts überein (zu vgl. AN 1910, 644, 646; 1913, 546, 548; vgl. auch BSG 19, 93, 96).

Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Anspruch der Klägerin auf die Witwenrente für die Zeit vor dem 1. Mai 1953 sei nicht verjährt, ist ferner auf die Erwägung gestützt worden, selbst wenn man meine, die Verjährung beginne schon vor der Leistungsfeststellung im Zeitpunkt der Anspruchsentstehung, stünde hier der auch im Sozialversicherungsrecht entsprechend anwendbare § 202 Abs. 1 BGB entgegen; nach dieser Vorschrift sei die Verjährung u. a. gehemmt, solange der Verpflichtete vorübergehend zur Verweigerung der Leistung berechtigt sei; dies sei hier der Fall, da die Beklagte die Leistung gar nicht habe bewirken können, so lange sie nicht durch einen Verwaltungsakt festgestellt gewesen sei. - Diese Ansicht des Berufungsgerichts wird dem Sinn und Zweck des § 202 Abs. 1 BGB nicht gerecht. Diese Vorschrift hat - anders als etwa der eine Verjährungshemmung aus tatsächlichen Gründen behandelnde § 203 BGB - Fälle im Auge, in denen ein besonderes Recht zur Leistungsverweigerung besteht, nicht aber den Fall, daß eine Leistung lediglich aus einem tatsächlichen Grunde, weil nämlich ihre Berechnung und Feststellung naturgemäß eine gewisse Zeit beansprucht, nicht auf der Stelle erbracht werden kann. Den Urteilen des BSG vom 30. Januar 1958 (BSG 6, 283) und vom 30. Oktober 1958 (BSG 8, 218), die das Berufungsgericht angeführt hat, ist Gegenteiliges nicht zu entnehmen.

Endlich trifft es auch nicht zu, daß - wie das Sozialgericht gemeint hat, während das Berufungsgericht dies dahingestellt gelassen hat - die Einrede der Verjährung gegen Treu und Glauben verstoße und deshalb eine unzulässige Rechtsausübung sei. Der Umstand allein, daß die Klägerin an der unrichtigen anfänglichen Ablehnung ihres Anspruchs auf Witwenrente schuldlos ist, rechtfertigt es nicht, die Einrede der Verjährung als gegen Treu und Glauben verstoßend anzusehen (zu vgl. Palandt, BGB, 20. Aufl., Anm. 3 vor § 194); ob aber die Einrede der Verjährung etwa dann gegen Treu und Glauben verstößt, wenn die anfängliche Ablehnung der Leistung durch den Versicherungsträger auf dessen Verschulden beruht, kann dahinstehen, weil im vorliegenden Falle für ein solches Verschulden der Beklagten kein Anhalt ist (zu vgl. BSG 19, 93, 97).

Konnte aber nach alledem die Beklagte sich auf die Vorschrift des § 29 Abs. 3 RVO stützen, so ist nicht zweifelhaft, daß jedenfalls für die Zeit vor dem 1. Mai 1953 der Anspruch der Klägerin auf Witwenrentenzahlungen verjährt war. Deshalb war unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

NJW 1965, 838

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