Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen in Fällen, in denen ein rechtzeitig zur Post gegebener Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen (Art. 2 § 49a des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten -AnVNG-) auf dem Postwege verlorengegangen ist, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder Nachsicht nach Treu und Glauben gegenüber der Versäumung der Antragsfrist (31. Dezember 1975) zu gewähren ist.
Die Klägerin hat nach den Feststellungen des Landessozialgerichts am 17. Dezember 1975 mittels einfachen, an die Beklagte gerichteten Briefes einen Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen, zur Post gegeben. Dieser Antrag ist bei der Beklagten nicht auffindbar. Diese erfuhr von dem Antrag erst durch die Nachfrage der Klägerin vom 19./20. Januar 1977. Obwohl die Klägerin später noch eine Durchschrift des Antragsschreibens vom 17. Dezember 1975 vorlegte, lehnte die Beklagte den Antrag dennoch ab, weil die Klägerin die Antragsfrist des Art. 2 § 49a Abs. 3 Satz 1 AnVNG nicht eingehalten habe (Bescheid vom 29. März 1977). Der Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 16. August 1977).
Während des von der Klägerin angestrengten Klageverfahrens hat das Sozialgericht (SG) Kiel Beweis über die rechtzeitige Absendung des Antragsschreibens erhoben. Es ist daraufhin zu der Überzeugung gelangt, daß das Antragsschreiben rechtzeitig abgesandt worden ist, und hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin auf ihren Antrag einen neuen Bescheid zu erteilen (Urteil vom 6. September 1978): Die Beklagte dürfe sich nicht auf die Ausschlußfrist berufen; denn bei einer Interessenabwägung sei die Ausschlußfrist, die nur Ordnungscharakter habe, für den Versicherungsträger gegenüber dem Interesse des Versicherten an einer auf Dauer angelegten, ausreichenden Sicherung eindeutig von geringerer Bedeutung.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 6. Juni 1979). Es hat die Auffassung vertreten, daß es sich bei dem Antrag um eine empfangsbedürftige Willenserklärung handele, die erst wirksam werde, wenn sie dem Empfänger zugehe. Dies habe sich indes nicht feststellen lassen. Die objektive Beweislast für den Zugang treffe die Klägerin. Die am 20. Januar 1977 bei der Beklagten eingegangene Nachfrage könne zwar ebenfalls als Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen angesehen werden. Dieser Antrag sei jedoch verspätet gestellt und deshalb nicht wirksam. Wegen der Fristversäumnis könne der Klägerin auch keine Wiedereinsetzung gewährt werden, weil das Gesetz dies nicht vorsehe. Bei einer Ausschlußfrist sei die Ursache für den fruchtlosen Ablauf der Frist grundsätzlich ohne Bedeutung. Entgegen der Rechtsauffassung des SG könne auch unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben Nachsicht nicht gewährt werden. Ein Rechtsmißbrauch könnte insoweit allenfalls dann vorliegen, wenn die Beklagte nur ein geringfügiges Interesse an der Fristwahrung habe und ganz erhebliche langfristig wirksame Interessen der Klägerin auf dem Spiel stünden. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Zwar habe die Klägerin ein erhebliches Interesse an einer Beitragsnachentrichtung; die Fristwahrung sei jedoch für die Beklagte nicht von geringer Bedeutung. Der Gesetzgeber habe dadurch, daß er eine Ausschlußfrist vorgesehen habe, zum Ausdruck gebracht, daß er in besonderem Maße die Sicherstellung der Rechtsklarheit erreichen wolle. Er habe außerdem durch die Fristsetzung die in der Nachentrichtung liegende Systemwidrigkeit in vertretbaren Grenzen halten wollen.
Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor, eine Nachsichtgewährung nach Treu und Glauben sei geboten, weil der Brief auch bei der Beklagten verlorengegangen sein könne. Da es sich bei der Ausschlußfrist - wie das SG zu Recht hervorgehoben habe - lediglich um eine Ordnungsvorschrift handele, könne der Einhaltung dieser Frist kein erhebliches Gewicht für die Beklagte zugemessen werden. Dies gelte um so mehr, als sie ja Beiträge erhalte. Die Auffassung des LSG, daß es sich bei dem Nachentrichtungsrecht um eine systemfremde Regelung handele, gehe fehl. Auf der anderen Seite ständen aber erhebliche langfristig wirksame Interessen der Klägerin.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil und ist im übrigen der Auffassung, daß Nachsicht nur dann in Betracht komme, wenn ein Antrag tatsächlich, wenn auch durch Postverzögerung verspätet, bei der Beklagten eingegangen sei. Das Risiko, daß eine Postsendung überhaupt bei der Beklagten ankomme, trage allein der Absender.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) entschieden wird.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß sie nicht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 2 § 49a AnVNG berechtigt ist; denn es ist nicht feststellbar, daß sie die am 31. Dezember 1975 abgelaufene gesetzliche Ausschlußfrist eingehalten hat. Es gibt im vorliegenden Fall auch keine Möglichkeit, ihr gegen die Versäumung der Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder Nachsicht zu gewähren.
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht, weil es sich bei der versäumten Frist um eine Ausschlußfrist des materiellen Rechts handelt, für die das hier noch anzuwendende frühere Recht Wiedereinsetzungsmöglichkeiten nicht vorsah. Eine Anwendung von § 27 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - vom 18. August 1980 (SGB 10) scheidet aus, weil diese Vorschrift erst 1981 in Kraft getreten ist. Sie ist auch nicht nur als eine gesetzliche Konkretisierung schon vorher anerkannter Rechtsgrundsätze anzusehen; vielmehr handelt es sich ebenso wie bei § 32 des Verwaltungsverfahrensgesetzes und § 110 der Abgabenordnung 1977 - um eine Neuregelung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die - soweit sie materiell-rechtliche Ausschlußfristen betreffen sollte - nicht lediglich eine gefestigte Rechtsauffassung festschreibt, sondern eine bisher überwiegend anders beantwortete Rechtsfrage neu und abweichend regelt (vgl. dazu Urteil des erkennenden Senats vom 1. Februar 1979 - 12 RK 33/77 - BSGE 48, 12, 16).
Auch ein Herstellungsanspruch, so behandelt zu werden, als hätte sie die Frist nicht versäumt, steht der Klägerin nicht zu, weil dies voraussetzen würde, daß die Beklagte selbst zur Fristversäumnis beigetragen hätte. Dafür besteht aber kein Anhalt.
Das LSG hat schließlich noch geprüft, ob der Klägerin Nachsicht unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben gewährt werden könnte, hat aber auch dies verneint. Ob seinen Erwägungen in allen Punkten zu folgen ist, läßt der Senat offen, weil jedenfalls die zeitlichen Grenzen, innerhalb derer eine solche Nachsichtgewährung in Betracht kommen könnte, überschritten sind. Auch eine Nachsichtgewährung unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben ist nämlich regelmäßig nur möglich, wenn die versäumte Rechtshandlung innerhalb eines Jahres nachgeholt worden ist.
Der Gesetzgeber hat in einer Reihe von Vorschriften zu erkennen gegeben, daß bei einer Abwägung zwischen dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit, das in gesetzlichen Fristen zum Ausdruck kommt, und dem Individualinteresse, dessen angemessene Berücksichtigung im Einzelfall eine Durchbrechung dieser Fristen erfordern kann, im allgemeinen eine Grenze von einem Jahr gilt. Hinzuweisen ist hier auf die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 234 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung, § 60 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-, § 67 Abs. 3 SGG, § 56 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung, § 26 Abs. 4 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz, § 32 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, § 27 SGB 10, § 110 Abs. 3 der Abgabenordnung 1977) und die Vorschriften über die Verlängerung von Verfahrensfristen bei unterbliebener oder falscher Rechtsmittelbelehrung (z.B. § 66 Abs. 2 SGG, § 58 Abs. 2 VwGO). Aus allen diesen Vorschriften ergibt sich, daß die Möglichkeit, eine versäumte Handlung nachzuholen, von Ausnahmen abgesehen (so z.B. in Fällen höherer Gewalt und allgemein insbesondere im Strafrecht und im Ordnungswidrigkeitenrecht: s. § 44 der Strafprozeßordnung und § 52 des Ordnungswidrigkeitengesetzes), auf ein Jahr begrenzt ist. Wenn der Gesetzgeber aber so deutlich in einer Vielzahl von Vorschriften eine zeitliche Grenze von einem Jahr für die Nachholung einer versäumten Handlung gezogen hat, so hat er damit zugleich einen Hinweis gegeben, welches Gewicht dem Ablauf eines Jahres bei der Abwägung zwischen Rechtssicherheit einerseits und Individualinteresse andererseits beizumessen ist; dieser Hinweis kann auch im Rahmen einer Nachsichtgewährung nach Treu und Glauben nicht unbeachtet bleiben. Mit einer solchen zeitlichen Grenzziehung werden, jedenfalls in Fällen wie dem hier zu entscheidenden, auch die Schwierigkeiten, denen sich der Bürger im Umgang mit dem Recht und mit der Verwaltung häufig ausgesetzt sieht, ausreichend berücksichtigt; denn im Laufe eines Jahres besteht in aller Regel die Möglichkeit, die Hindernisse zu beseitigen, die eine Fristversäumnis bewirkt haben. Auch einem rechtsunkundigen Bürger wird es im allgemeinen durchaus möglich und zumutbar sein, innerhalb eines Jahres sich darum zu kümmern, warum sein Antrag bisher nicht entschieden worden ist und ob er überhaupt bei der Behörde angekommen ist. Besondere Behinderungen oder Interessen der Klägerin, die so schwer wiegen, daß ihretwegen hier das Bedürfnis nach Rechtssicherheit ausnahmsweise noch weiter zurückzustellen wäre, sind hier nicht ersichtlich.
Zu dem gleichen Ergebnis würde man übrigens auch dann gelangen, wenn der Auffassung der Klägerin zu folgen wäre, daß § 27 SGB 10 rückwirkend auf die vor seinem Inkrafttreten eingetretenen Fristversäumnisse angewendet werden müßte; denn § 27 SGB 10 begrenzt die Wiedereinsetzung ebenfalls, abgesehen von Fällen höherer Gewalt, auf ein Jahr.
Die Klägerin hat - was unstreitig ist - nicht innerhalb eines Jahres den versäumten Antrag nachgeholt. Sie hat nicht schon im Jahre 1976, sondern erst im Januar 1977 bei der Beklagten nachgefragt. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, daß sie durch höhere Gewalt gehindert gewesen wäre, sich vorher um den Verbleib ihres Antrags zu kümmern und zu klären, warum sie bis zu ihrer Nachfrage im Jahre 1977 keine Antwort erhalten hatte.
Die Revision konnte deshalb keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen