Leitsatz (redaktionell)
Die bei den Kinderzuschüssen aus der gesetzlichen Rentenversicherung getroffene Ausnahmeregelung (Härteklausel) des KGG § 3 S 2 kann in ergänzender Rechtsfindung für die Kinderzulagen bei einem 1. (einzigen) Kind der gesetzlichen Unfallversicherung ebenfalls angewendet werden.
Normenkette
RVO § 559b Abs. 2 S. 1 Fassung: 1961-07-18; KGG § 3 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1959-03-16; KGKG § 38 Fassung: 1961-07-18
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Juli 1963 wird zurückgewiesen.
Auf die Revision der Klägerin wird dieses Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin ist Mutter von drei unehelichen Kindern: W (geb. 1943), A (geb. 1947) und M (geb. 1953). Am 21. August 1961 beantragte sie Zweitkindergeld (ZKG) aufgrund des Kindergeldkassengesetzes (KGKG) vom 18. Juli 1961). Da W das 18. Lebensjahr vollendet hatte und nicht in Berufsausbildung stand, führte sie im Antrag nur die beiden Kinder A und M auf. Vater des Kindes M ist der Landwirt J B in B, in dessen Haushalt und Betrieb die Klägerin seit 1949 tätig ist. B bezieht von der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft S wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. mit einer Kinderzulage für das Kind Monika von damals (ab 1. Januar 1961) 8.60 DM.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf ZKG gemäß § 3 Abs. 2 KGKG iVm § 3 Abs. 2 Nr. 7 des Kindergeldgesetzes (KGG) ab, weil der Kindesvater für das Kind M eine Kinderzulage zur Unfallrente erhält (Bescheid vom 4. September 1961). Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 1961). Auf Klage erklärte das Sozialgericht (SG) die Beklagte für verpflichtet, der Klägerin das Kindergeld in Höhe von monatlich 25.- DM vom 1. Juni 1961 an bis auf weiteres zu zahlen (Urteil vom 12. März 1962). Auf die Berufung der Beklagten änderte das Bayerische Landessozialgericht (LSG) - Urteil vom 17. Juli 1963 - die sozialgerichtliche Entscheidung insoweit ab, als es die Beklagte nunmehr verurteilte, der Klägerin vom 1. Juni 1961 an das Zweitkindergeld abzüglich der für das Kind M an den Vater gewährten Kinderzulage aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) zu zahlen. Zur Begründung führte es aus: Zwar sei der Anspruch der Klägerin auf ZKG für M nach § 3 Abs. 3 KGKG iVm § 3 Abs. 2 Nr. 7 KGG ausgeschlossen, weil der Vater dieses Kindes einen Kinderzuschlag zu seiner Rente aus der gesetzlichen UV erhalte. Bei der Schaffung dieser Ausnahmeregelung habe der Gesetzgeber aber offensichtlich nicht daran gedacht, daß ein zweites Kind im Sinne der Kindergeldgesetze zugleich nur ein einziges Kind im Sinne der UV sein könne und infolgedessen die Kinderzulage geringer als das ZKG ausfalle. Die dadurch bedingte gesetzliche Lücke sei in entsprechender Anwendung des rechtsähnlichen Tatbestands in § 3 Abs. 3 Satz 2 KGG zu schließen. Deshalb sei der Anspruch der Klägerin auf ZKG in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem ZKG und der Kinderzulage aus der gesetzlichen UV begründet und die Beklagte insoweit zur Zahlung zu verurteilen.
Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Augsburg vom 12. März 1962 die Klage abzuweisen.
Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR KGKG § 35 Aa 1 Nr. 1) vertritt sie in ihrer Revisionsbegründung im wesentlichen die Auffassung, der Anspruch der Klägerin auf das ZKG werde nicht nur teilweise, sondern auf Grund des Wortlauts von § 3 Abs. 3 KGKG iVm § 3 Abs. 2 Nr. 7 KGG völlig ausgeschlossen. Eine Gesetzeslücke bestehe nicht; also sei es nicht gerechtfertigt, auch eine vermeintliche Gesetzeslücke nach den Grundsätzen, die das BSG für eine berichtigende, abändernde oder ergänzende Rechtsfindung entwickelt habe (SozR AVAVG § 87 Ba 10 Nr. 10), zu schließen. Schließlich könne für den Anspruch der Klägerin die Härteregelung des § 3 Abs. 3 Satz 2 KGG nicht angewendet werden. Werde der Ausschluß des ZKG für verfassungswidrig gehalten, so müsse das Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 100 des Grundgesetzes (GG) eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingeholt werden.
Die Klägerin hat - nach Bewilligung des Armenrechts - mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ebenfalls Revision eingelegt und sinngemäß beantragt,
die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen, ferner das Urteil des LSG vom 17. Juli 1963 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 12. März 1962 zurückzuweisen.
Sie hat in ihrer Revisionsbegründung im wesentlichen ausgeführt: Als allein Sorgeberechtigte habe sie nach § 7 KGKG iVm § 3 Abs. 1 Nr. 1 KGG den vollen Anspruch auf das ZKG für ihr Kind Monika. Die Kinderzulage zur Rente aus der gesetzlichen UV - mit einem Monatsbetrag von nur 8,60 DM - sei keine dem ZKG vergleichbare Leistung. Der Gesetzgeber habe offensichtlich übersehen, daß ein zweites Kind im Sinne der Kindergeldgesetze zugleich das einzige Kind im Sinne der UV sein könne. Daher habe er es unterlassen, eine besondere Härteregelung, wie etwa bei der Leistung des Kinderzuschusses aus der Rentenversicherung (§ 3 Abs. 3 Satz 2 KGG), zu schaffen. Diese sei allerdings eigens auf die gesetzliche Rentenversicherung zugeschnitten und deswegen nicht entsprechend anwendbar. Verliere jemand einen höheren Anspruch gegen die öffentliche Hand nur deshalb, weil er "als Ausgleich" einen geringeren Anspruch gegen diese bereits habe, so liege darin eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes. Nur die Gewährung des vollen ZKG an die Klägerin entspreche den Grundsätzen des Lastenausgleichs für Kinder.
Die Beklagte hat beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassene Revision ist sowohl von der Klägerin, der antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war (§ 67 SGG), als auch von der Beklagten jeweils form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden.
Im Urteilskopf mußte nunmehr als Beklagte die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung eingesetzt werden; sie nimmt nach Inkrafttreten des Bundeskindergeldgesetzes - BKGG - (§ 33 Abs. 1 BKGG) für den Bund die auf diesen übergegangenen Rechte und Pflichten wahr.
Die Revision der Beklagten konnte keinen Erfolg haben.
In Übereinstimmung mit dem LSG ist davon auszugehen, daß die positiven Anspruchsvoraussetzungen des § 1 KGKG bei der Klägerin außer Frage stehen. Daneben müssen aber auch die negativen des § 3 KGKG erfüllt sein (siehe BSG SozR KGKG § 35 Nr. 1 mit Nachweisen). Sie müssen ebenfalls als echte Voraussetzungen des ZKG-Anspruchs für den Zeitraum vorliegen, für den die Klägerin ZKG fordert. § 3 KGKG vom 18. Juli 1961 (BGBl I 1001), der die Ausnahmen von der Anspruchsberechtigung enthält, geht - ebenso wie schon § 3 Abs. 2 KGG vom 13. November 1954 (BGBl I 333) - von der Tatsache aus, daß den dort genannten Personengruppen andere nach Art und Umfang dem ZKG vergleichbare Leistungen gewährt werden. Zu derartigen Leistungen, für die das Gesetz den Anspruch auf ZKG ausschließt, gehören nach § 3 Abs. 3 KGKG iVm § 3 Abs. 2 Nr. 7 KGG auch die Kinderzulagen zu den Renten aus der gesetzlichen UV (vgl. Amtliche Begründung zu § 3 KGKG, BT-Drucks. III/2648, 1961, S. 14). Daher führt das LSG in seiner Urteilsbegründung zunächst zutreffend aus, daß nach Wortlaut und Zielsetzung von § 3 KGKG und § 3 KGG der Anspruch auf das ZKG auch dann nicht gerechtfertigt ist, wenn der Anspruchsberechtigte für das Kindergeld und der Empfänger der Kinderzulage nicht dieselben Personen sind. Diese Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt (vgl. NJW 1967, 2003 sowie BSG SozR GG Art. 3 Nr. 63 = ZKG für "Stiefväter von Beamtenkindern").
Das LSG hat weiterhin aber auch zu Recht angenommen, der Gesetzgeber sei bei den Empfängern von Kinderzulagen aus der gesetzlichen UV von der Vorstellung ausgegangen, daß ihnen anstelle des ZKG eine Kinderzulage annähernd in Höhe des Kindergelds gewährt wird, wie es § 38 KGKG in Änderung und Ergänzung des § 559 b Abs. 2 RVO (jetzt § 583 Abs. 2 RVO) bewirkte. Diese Neufassung hat allerdings in der gesetzlichen UV nur eine Angleichung der Zulagen für das zweite und für weitere Kinder an das ZKG sichergestellt. Die Tatsache, daß ein zweites Kind im Sinne der Kindergeldgesetze zugleich das einzige Kind im Sinne der UV sein könne, hatte der Gesetzgeber offensichtlich nicht berücksichtigt (Motivirrtum). Mit den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaates erscheint es aber nicht vereinbar, daß für ein solches Kind alsdann allein die im allgemeinen weit unter dem Betrag des ZKG liegende Kinderzulage (10 v. H. der Stammrente des Verletzten) gezahlt wird. Hier weist das positive Recht eine echte Lücke auf, weil die erforderliche Angleichung der Kinderzulage an das ZKG planwidrig nicht geschaffen wurde Mithin ist das Gericht zu einer ergänzenden Rechtsfindung für die Kinderzulagen bei einem ersten (einzigen) Kind aus der gesetzlichen UV befugt. Dafür bot sich die bei den Kinderzuschüssen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen getroffene Ausnahmeregelung (Härteklausel) des § 3 Abs. 3 Satz 2 KGG als nächstverwandt und geeignet an. Diese vermeidet, worauf das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat, einmal unzulässige Doppelleistungen, zum anderen schließt sie eine dem Gleichheitsgrundsatz zuwiderlaufende Benachteiligung aus. Deshalb erscheint es gerechtfertigt, der Klägerin jedenfalls das um den Betrag der Kinderzulage aus der gesetzlichen UV verminderte ZKG (Unterschiedsbetrag) zuzubilligen. Eine solche Lückenfüllung durch ergänzende richterliche Rechtsfindung entspricht offenbar dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers; mit Inkrafttreten des BKGG (1. Juli 1964) hat der Gesetzgeber selbst nämlich ausdrücklich Ausnahmen von den negativen Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld vorgesehen (vgl. § 8 Abs. 2 und 4 BKGG), um Härten zu vermeiden.
Der Klägerin ist somit, weil das LSG zutreffend entschieden hat, jedenfalls das ZKG anteilig zu gewähren. Folglich war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Über die darüber hinausgehende Revision der Klägerin, die das ZKG in voller Höhe bereits mit ihrer Klage beansprucht hat, kann der erkennende Senat jedoch mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
Die Klägerin hat darauf hingewiesen, daß § 3 Abs. 3 KGKG iVm § 3 Abs. 2 Nr. 7 KGG möglicherweise gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt und daher nichtig sei, weil die uneheliche Mutter dadurch benachteiligt werde, daß der Vater des Kindes Rente aus der gesetzlichen UV bezieht. Zu dem ähnlichen Ausschlußtatbestand in § 3 Abs. 1 Nr. 1 KGKG hat das Bundesverfassungsgericht (vgl. SozR zu GG Art. 3 Nr. 63; NJW 1967, 2003) inzwischen entschieden, daß diese Vorschrift insoweit nichtig ist, "als sie den Anspruch des Stiefvaters auf ZKG für ein in seinem Haushalt aufgenommenes uneheliches Kind seiner Ehefrau ausschloß, dessen Vater aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnisses Bezüge unter Anwendung besoldungsrechtlicher Vorschriften über Kinderzuschläge erhält". Als Kernpunkt für die Entscheidung der Frage, ob beim Auseinanderfallen der Berechtigten auf das Kindergeld und auf die Kinderzulage der Ausschluß des ZKG verfassungswidrig ist, stellt das Bundesverfassungsgericht (aaO unter C 2 c) dabei den fehlenden gemeinsamen Haushalt zwischen den beiden berechtigten Personen (und dem Kind) heraus; denn nur in einem gemeinsamen Haushalt werde der Zweck eines dem Kindergeld vergleichbaren Kinderzuschlags, nämlich die Entlastung der dieses und andere Kinder betreuenden Familie, erreicht. Fehlt der gemeinsame Haushalt, so besteht wie bei den unehelichen Stiefkindern "nicht einmal die Chance einer mittelbaren Begünstigung" (vgl. Bundesverfassungsgericht aaO). Daher stellt sich die Frage nach der Verfassungswidrigkeit nur, wenn die berechtigten Personen nicht in einem gemeinsamen Haushalt leben. Ob die Klägerin mit dem (unehelichen) Vater des Kindes Monika in einem gemeinsamen Haushalt lebt oder ob sie einen eigenen Haushalt (zusammen mit ihren drei Kindern) führt, ist aus den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht mit Sicherheit zu entnehmen. Das LSG hat nur ausgeführt: "Der Vater des Kindes M (Zweitkind) ist der Landwirt J B, in dessen Haushalt und Betrieb die Klägerin seit 1949 tätig ist". Diese Feststellung allein reicht nicht aus, um die Haushaltsführung der Beteiligten als gemeinsam oder als nicht gemeinsam zu bewerten. Die von der Klägerin und von J B gebrauchte Formulierung "Lohn für eine Beschäftigung" deuten auf einen getrennten Haushalt hin. Die räumlichen und zeitlichen Umstände des Zusammenlebens sonst lassen indessen an einen gemeinsamen Haushalt denken. Zur Klärung, ob ein gemeinsamer Haushalt tatsächlich vorliegt oder nicht, sind weitere tatsächliche Feststellungen geboten. Als solche kommen etwa in Betracht: das Bestehen eines echten Beschäftigungsverhältnisses gegen Entgelt unter Leistung von Sozialversicherungsbeiträgen, die Einzelheiten der Arbeitsverrichtungen und der Führung des Haushalts durch die Klägerin, die Art des Zusammenlebens (auch unter Einbeziehung der Kinder), die Verteilung der Wohnräume u. a.
Da das Revisionsgericht diese Feststellungen selbst nicht treffen kann, mußte insoweit das Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Gelangt das LSG aufgrund der noch zu treffenden tatsächlichen Feststellungen zu dem Ergebnis, daß ein gemeinsamer Haushalt vorliegt - die Frage nach der Verfassungswidrigkeit stellt sich dann nicht -, so ist der weitergehende Anspruch der Klägerin unbegründet. Andernfalls wäre unter Berücksichtigung der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts (aaO) zu erwägen, ob dessen Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 3 KGKG iVm § 3 Abs. 2 Nr. 7 KGG einzuholen ist (Art. 100 Abs. 1 GG). Das Revisionsgericht konnte mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen über die etwaige erforderliche Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nicht befinden.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen