Entscheidungsstichwort (Thema)
Witwerrente. überwiegender Unterhalt
Orientierungssatz
Eine durch Arbeitsunfall verstorbene Ehefrau hat den Unterhalt der Familie iS des RVO § 593 dann überwiegend bestritten, wenn ihr Anteil am Unterhalt größer war als die Hälfte des Gesamtunterhalts.
Normenkette
RVO § 593 Abs 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 29.08.1978; Aktenzeichen I UBf 7/78) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 16.12.1977; Aktenzeichen 24 U 541/75) |
Tatbestand
I.
Die Ehefrau des Klägers ist am 11. Mai 1975 an den Folgen eines am 6. Mai 1975 erlittenen Arbeitsunfalls gestorben. Den Antrag des Klägers, ihm aus Anlaß des Todes seiner Ehefrau Witwerrente zu gewähren, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 25. September 1975 unter Hinweis auf den Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Mai 1969 - GS 2/67 - (BSGE 29, 225) ab, weil der Beitrag seiner Ehefrau zum gemeinsamen Unterhalt nach Abzug der Hälfte des gemeinsamen Unterhalts nicht größer gewesen sei als sein eigener Beitrag. Seine Ehefrau habe daher nicht den überwiegenden Unterhalt iSd § 593 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestritten. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 27. November 1975 zurück.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hamburg abgewiesen (Urteil vom 16. Dezember 1977). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg die Beklagte verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Todes seiner Ehefrau am 11. Mai 1975 Witwerrente nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren (Urteil vom 29. August 1978). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Die Beklagte und das SG hätten ihren Berechnungen zu Unrecht den Beschluß des Großen Senats des BSG vom 21. Mai 1969 (aaO) zugrunde gelegt. Jene Entscheidung sei nicht zur Frage des Familienunterhalts ergangen, sondern zu der Frage des Unterhalts eines Familienangehörigen für die Berechnung des Übergangsgeldes nach § 1241 Abs 2 RVO aF. Beim überwiegenden Familienunterhalt iSd § 593 RVO komme es darauf an, ob die verstorbene Ehefrau des Klägers zum Unterhalt mehr als die Hälfte beigetragen habe. Das sei hier der Fall. Das für den Familienunterhalt zu berücksichtigende Einkommen beider Ehegatten habe zusammen monatlich 2.329,80 DM betragen. Davon habe die Ehefrau des Klägers mit monatlich 1.356,08 DM mehr als die Hälfte des Gesamteinkommens (1.164,90 DM) bestritten.
Es bestehe auch kein Anhalt dafür, daß die Ehefrau des Klägers den überwiegenden Unterhalt des Klägers nicht auch weiterhin bestritten haben würde.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Die Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 21. Mai 1969 beschränke sich nach ihrem Sinn und Zweck sowie nach ihren ausdrücklichen Ausführungen nicht lediglich auf den Vorlagefall aus § 18 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF bzw § 1241 Abs 2 RVO aF, sondern schlechthin auf das Problem, in welcher Weise und in welcher Höhe in einem kinderlosen Ehegattenhaushalt der Unterhaltsbeitrag jedes Ehegatten auf seinen eigenen Unterhalt anzurechnen sei. Dieses Problem könne für alle Zweige der Sozialversicherung nur einheitlich entschieden werden. Daher müsse sich auch die Gewährung von Witwerrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 593 RVO) nach dem Beschluß des Großen Senats des BSG ausrichten.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des Urteils des LSG Hamburg vom 29. August 1978 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hamburg vom 16. Dezember 1977 zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er trägt vor, die Beklagte stütze sich zu Unrecht auf den Beschluß des Großen Senats des BSG vom 21. Mai 1969. Dies habe inzwischen auch der 8. Senat des BSG durch Urteil vom 25. Januar 1979 (8 RU 26/78) entschieden.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, dem Kläger Witwerrente zu gewähren.
Bei Tod durch Arbeitsunfall ist nach § 989 Abs 1 Nr 3 RVO vom Todestage an den Hinterbliebenen eine Rente zu gewähren. Während die Witwe eines durch Arbeitsunfall verstorbenen Versicherten nach § 590 Abs 1 RVO ohne weiteres Witwenrente von drei Zehnteln des Jahresarbeitsverdienstes bis zu ihrem Tod oder ihrer Wiederverheiratung erhält, ist die Gewährung einer Witwerrente nach § 593 RVO zusätzlich davon abhängig, daß die durch Arbeitsunfall verstorbene Ehefrau den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat; die Rente wird auch nur so lange gewährt, wie die Ehefrau den Unterhalt bestritten haben würde. Diese Vorschrift ist der Entscheidung des Rechtsstreits zugrunde zu legen. Es bleibt abzuwarten, welche Folgerungen der Gesetzgeber aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1975 (BVerfGE 39, 169) ziehen wird.
Das LSG ist in rechtlicher Hinsicht zutreffend davon ausgegangen, daß eine durch Arbeitsunfall verstorbene Ehefrau den Unterhalt der Familie iSd § 593 RVO dann überwiegend bestritten hat, wenn ihr Anteil am Unterhalt größer war als die Hälfte des Gesamtunterhalts. Die Anwendung der Grundsätze des Beschlusses des Großen Senats des BSG vom 21. Mai 1969 (aaO) hat das LSG zu Recht abgelehnt. Diese Entscheidung ist zu § 18 Abs 2 AVG aF (= § 1241 Abs 2 RVO aF) ergangen. Danach war die Höhe des bei Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit zu zahlenden Übergangsgeldes durch übereinstimmende Beschlüsse der Organe der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (des Trägers der Rentenversicherung) unter Berücksichtigung "der Zahl der von dem Betreuten vor Beginn der Maßnahmen überwiegend unterhaltenen Familienangehörigen" festzusetzen. Der Große Senat hat in seinem Beschluß ausdrücklich auf den Unterschied im Wortlaut des § 18 Abs 2 AVG aF einerseits und der §§ 593 und 1266 RVO andererseits hingewiesen. In dem einen Fall handelt es sich um den "Unterhalt eines Familienangehörigen", in den anderen Fällen um den "Unterhalt der Familie". Diese beiden Begriffe seien weder dem Wortsinn noch dem Sachsinn nach austauschbar. Die Rechtsprechung des BSG hat daher den für die Gewährung von Witwerrente in der Rentenversicherung und in der Unfallversicherung gleichermaßen vorausgesetzten überwiegenden Unterhalt der Familie durch die verstorbene Ehefrau auch nach der Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 21. Mai 1969 so definiert wie früher (BSG SozR 2200 § 593 Nr 1 mit Nachweisen; Urteil vom 27. Februar 1980 - 1 RJ 44/79 -). Die Revision bietet keinen Anlaß, hiervon abzuweichen, zumal da Wortlaut, Entstehung des Rechtsinstituts der Witwerrente in der gesetzlichen Unfallversicherung und der Gesetzeszweck diese Auslegung rechtfertigen (vgl Mehrtens BG 1979, 46; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Auflage, S 588, 686 t und u; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Auflage § 593 Anm 5 b; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Auflage Kennzahl 590; aA Bereiter-Hahn/Schieke, Unfallversicherung, § 593 Anm 3). Dem steht auch nicht das Urteil des erkennenden Senats vom 25. Mai 1961 (BSGE 14, 203) entgegen. Damals war die Gewährung einer Rente an den Witwer nach § 589 RVO idF des Zweiten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 (RGBl I 97) ua davon abhängig, daß die durch Arbeitsunfall getötete Ehefrau ihren Ehemann wegen seiner Erwerbsunfähigkeit ganz oder überwiegend aus ihrem Arbeitsverdienst unterhalten hat. Nach der Meinung des Senats lag eine überwiegende Unterhaltsleistung nur vor, wenn die Ehefrau mehr als die Hälfte zum Unterhalt ihres Ehemannes beigetragen hatte. Diese Entscheidung kann jedoch nicht zur Auslegung des § 593 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I 241) herangezogen werden, der an die entsprechenden Vorschriften der Rentenversicherung angepaßt wurde (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 4. Wahlperiode, 62. Sitzung, S 2820 ff, 2841), so daß jetzt auch in der Unfallversicherung die Gewährung einer Rente an den Witwer davon abhängt, daß die verstorbene Ehefrau den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat. Diese Änderung war für den Großen Senat des BSG Anlaß, in seinem Beschluß vom 21. Mai 1969 darauf hinzuweisen, daß in § 593 RVO - anders als noch in § 589 RVO aF - vom Unterhalt der Familie, dagegen in § 18 Abs 2 AVG aF vom "Unterhalt eines Familienangehörigen" gesprochen werde.
Auch die Tatsache, daß in der Rentenversicherung (§ 1266 RVO, § 43 AVG, § 66 des Reichsknappschaftsgesetzes -RKG-) und in der Unfallversicherung (§ 593 RVO) der Witwerrentenanspruch von dem überwiegenden Unterhalt der Familie durch die verstorbene Ehefrau abhängt, dagegen in der Kriegsopferversorgung (§ 43 des Bundesversorgungsgesetzes -BVG-) und im Wiedergutmachungsrecht (§ 17 Abs 1 Nr 2 Bundesentschädigungsgesetz -BEG-) vom überwiegenden Unterhalt des Mannes durch seine Ehefrau, führt nicht zu einer anderen Auslegung des § 593 RVO. Es ist Sache des Gesetzgebers, insoweit eine Angleichung vorzunehmen, falls er dies für erforderlich hält.
Schließlich hat das BSG auch bereits entschieden, daß Familienunterhalt auch geleistet wird, wenn die Familie nur aus Mann und Frau besteht (SozR Nr 4 zu § 1266 RVO), da der Begriff des Familienunterhalts in § 1306a des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) umschrieben ist und das bürgerliche Unterhaltsrecht auch im Sozialversicherungsrecht anzuwenden ist (BSGE 20, 148, 152).
Da die vom LSG festgestellten Einkommensverhältnisse des Klägers und seiner verstorbenen Ehefrau sowie die vermutliche Fortdauer der überwiegenden Unterhaltsleistung von der Revision nicht angegriffen sind, hat das Rechtsmittel keinen Erfolg und mußte zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen