Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärung. Beweiswürdigung Rentenentziehung. Arbeitsunfall
Orientierungssatz
1. Billigt das LSG die Entziehung einer Unfallrente mit der Begründung, die MdE sei auf 10 vH abgesunken und eine Stütz-MdE aus anderen Unfällen liege nicht vor, obwohl gerichtsaktenkundig ist, daß der Verletzte einen weiteren Unfall erlitten hat, so liegt eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht und ein Verstoß gegen die richterliche Beweiswürdigung vor.
2. Daß sich ein Unfall später als der Unfall, dessen Folgen nach Ansicht des LSG nur noch eine MdE des Klägers von 10 vH bedingen, ereignet hat, hindert nicht, ihn als einen anderen Unfall im Sinne des § 559a Abs 3 S 1 RVO anzusehen (vgl BSG 1960-04-05 2 RU 129/58 = BSGE 12, 58).
Normenkette
SGG §§ 103, 128; RVO § 559a Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 27.09.1961) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. September 1961 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger hatte sich am 8. September 1952 durch Arbeitsunfall eine Kniegelenksschädigung (Distorsion des linken Kniegelenks mit Bandschaden) zugezogen. Er erhielt für die Folgen dieses Unfalls von der Beklagten Rente, und zwar zuletzt vom 1. Januar 1955 an eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. Diese Rente entzog ihm die Beklagte durch Bescheid vom 22. August 1956 mit Ablauf des Monats September 1956, weil nach ärztlichem Gutachten seit Feststellung der bisherigen Rente eine so wesentliche Besserung eingetreten sei, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Folgen des Unfalls nur noch um 10 v. H. gemindert sei; die Umfangmaße des linken Beines seien wieder völlig normalisiert, die ärztlicherseits im Mai 1955 festgestellte Beuge- und Streckbehinderung im linken Kniegelenk sei nicht mehr vorhanden und die minimale Lockerung der Bandverbindungen des linken Kniegelenks verursache nur noch eine Beschränkung der Erwerbsfähigkeit um 10 v. H.
Die Klage hiergegen ist durch Urteil des Sozialgerichts München vom 3. Oktober 1958 abgewiesen worden.
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Am 24. Januar 1959 - während des Berufungsverfahrens - wurde er von einem weiteren Arbeitsunfall betroffen. Dabei verletzte er sich an der linken Hand durch Bruch des 3. Mittelhandknochens. Die Beklagte gewährte ihm für diese Verletzungsfolgen eine vorläufige Teilrente von zunächst 30 v. H. und vom 1. März 1960 an von 20 v. H. der Vollrente; vom 12. Juli 1960 bis 3. August 1960 hatte er zwischendurch nach Heilanstaltspflege die Vollrente erhalten; durch Bescheid vom 27. Juli 1961 wurde die vorläufige Rente von 20 v. H. als Dauerrente festgestellt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 27. September 1961 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Die Unfallfolgen, die zur Feststellung der Dauerrente führten, seien von Ende September 1956 an nicht mehr vorhanden gewesen. Auf Grund der neuerlichen ärztlichen Befunde habe sich ergeben, daß außer den unfallunabhängigen arthrotischen Veränderungen keine besonderen Gesundheitsstörungen in beiden Kniegelenken vorgelegen hätten. Die übereinstimmende Bewertung der MdE in den der Rentenentziehung zugrunde liegenden Gutachten, nach denen sie nur noch 10 v. H. betrage, sei zutreffend. Danach sei durch den Wegfall verschiedener objektiv vorhanden gewesener Verletzungserscheinungen von Ende September 1956 an eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erwiesen. Diese erreiche auch eine Besserung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. Sie sei danach so wesentlich, daß, nachdem die gesamte unfallbedingte MdE nur noch 10 v. H. betrage, die Beklagte von diesem Zeitpunkt an die Rente zu Recht entzogen habe, zumal da eine Stütz-MdE aus anderen Unfällen und durch Kriegsschadensfolgen nicht vorliege.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 9. November 1961 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 8. Dezember 1961 Revision eingelegt und sie gleichzeitig begründet. Er rügt, das LSG habe gegen §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Berufungsurteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für verfahrensmäßig einwandfrei zustande gekommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von dieser Entscheidungsmöglichkeit Gebrauch gemacht (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft, da die gerügten Mängel des Berufungsverfahrens vorliegen (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Die Auffassung des LSG, die Beklagte habe dem Kläger die Teilrente von 20 v. H. der Vollrente mit Ablauf des Monats September 1956 zu Recht entzogen, beruht auf den Feststellungen, daß sich nach den im Verfahren erstatteten ärztlichen Gutachten der Verletzungsbefund, welcher der Gewährung dieser Rente an den Kläger zugrunde liegt, wesentlich gebessert habe und nur noch die Annahme einer durch die Folgen des Unfalls vom 8. September 1952 bedingten MdE von 10 v. H. rechtfertige, ferner daß kein anderer Arbeitsunfall vorliege, durch dessen Folgen der Kläger zusätzlich so geschädigt worden sei, daß er in seiner Erwerbsfähigkeit insgesamt um mindestens 20 v. H. gemindert sei. Hiergegen macht die Revision zutreffend geltend, das LSG habe zu Unrecht nicht berücksichtigt, daß dem Kläger aus Anlaß eines weiteren Unfalls, der ihn am 24. Januar 1959 betroffen habe, eine Teilrente von 20 v. H. zustehe und daß ihm demzufolge nach § 559 a Abs. 3 Satz 1 RVO die Beklagte auch wegen des ersten Arbeitsunfalls die Rente nach der verbliebenen MdE von 10 v. H. zu gewähren habe. Aus den Berufungsakten war ersichtlich, daß der Kläger den von der Revision behaupteten zweiten Arbeitsunfall erlitten hatte; die Beklagte hatte in ihrem von der Revision angeführten Schriftsatz an das LSG vom 16. August 1961 (Bl. 25 der Berufungsakten) ausdrücklich auf das Vorliegen des weiteren Arbeitsunfalls vom 24. Januar 1959 hingewiesen. Aus der mit diesem Schriftsatz übersandten Fotokopie eines Ersuchensschreibens der Beklagten an den Facharzt für Orthopädie Dr. G vom 24. Februar 1961 ergab sich, daß für diesen Fall eine meßbare MdE des Klägers in Betracht kam. Trotzdem hat das LSG diesen Unfall weder im Tatbestand noch in den Gründen seines Urteils erwähnt. Dafür, daß es ihn, wie die Beklagte meint, deshalb nicht berücksichtigt habe, weil er sich erst nach der Entziehung der hier streitigen Rente ereignet habe und daher vom Berufungsgericht nicht als ein anderer Unfall im Sinne des § 559 a Abs. 3 Satz 1 RVO angesehen worden sei, ist kein Anhalt gegeben. Wäre diese rechtliche Erwägung für das LSG maßgebend gewesen, hätte es nahegelegen, sie im Urteil zum Ausdruck zu bringen, jedenfalls hätte kein Anlaß bestanden, dort auszuführen, die Beklagte habe die Rente wegen der auf 10 v. H. abgesunkenen MdE des Klägers zu Recht entzogen, weil "eine Stütz-MdE aus anderen Unfällen und durch Kriegsschadensfolgen nicht vorliegt". Dies kann nur bedeuten, daß das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus den Arbeitsunfall vom 24. Januar 1959 als "Stütze" für die Gewährung der Rente von 10 v. H. aus Anlaß des früheren Unfalls anerkannt hätte, wenn es den aus den Aktenunterlagen im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung ersichtlichen Sachverhalt vollständig berücksichtigt hätte. Da seine Entscheidung von der tatsächlichen Frage abhing, ob der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit durch Folgen des angeführten späteren Unfalls in meßbarem Grade - also mindestens um 10 v. H. - gemindert war, hätte ihr das LSG nachgehen und den Sachverhalt in dieser Hinsicht vollständig klären müssen. Dieser Pflicht ist es nicht nachgekommen. Daher hat es gegen § 103 SGG verstoßen. Außerdem hat es bei seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht berücksichtigt (§ 128 Abs. 1 SGG), da es entgegen dem klaren Inhalt der Berufungsakten festgestellt hat, daß eine "Stütz-MdE" nicht vorliege.
Die Revision ist somit zulässig. Sie ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG bei einem in dem dargelegten Sinne fehlerfreien Verfahren zu einer für den Kläger günstigen Entscheidung gelangt wäre. Daß sich der unberücksichtigt gebliebene Unfall vom 24. Januar 1959 später als der Unfall, dessen Folgen nach Ansicht des LSG nur noch eine MdE des Klägers von 10 v. H. bedingen, ereignet hat, hindert nicht, ihn als einen anderen Unfall im Sinne des § 559 a Abs. 3 Satz 1 RVO anzusehen (BSG 12, 58, 64).
Das Revisionsgericht konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, da es zunächst der nach den vorstehenden Ausführungen fehlenden Feststellungen hinsichtlich der tatsächlichen Voraussetzungen für die Anwendung des § 559 a Abs. 3 Satz 1 RVO durch das Berufungsgericht bedarf. Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen