Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei Verletzung durch einen Wespenstich beim Trinken aus einer Bierflasche
Orientierungssatz
Ist aufgrund von Zeugenaussagen davon auszugehen, daß eine besonders große Wespenstichgefahr am Arbeitsplatz nicht bestand, dann ist für die Frage, ob ein Arbeitnehmer, der beim Trinken aus einer Bierflasche von einer Wespe gestochen wird, versichert ist, die Rechtsprechung von Bedeutung, wonach Essen und Trinken bei der Arbeit nur ausnahmsweise versichert sind, nämlich dann, wenn besondere Umstände das "Moment der Eigenwirtschaftlichkeit" beim Essen und Trinken als unwesentlich zurücktreten lassen (vgl BSG 1976-06-22 8 RU 146/75 = SozR 2200 § 548 Nr 20). Das könnte der Fall sein, wenn die Arbeit so anstrengend und durstmachend ist, daß das Trinken erforderlich ist, um die Arbeiten weiterverrichten zu können.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 07.05.1980; Aktenzeichen L 8 U 294/78) |
SG Würzburg (Entscheidung vom 07.09.1978; Aktenzeichen S 1 U 111/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) den Klägerinnen Hinterbliebenenrente zu zahlen hat.
Der Ehemann und Vater der Klägerinnen O.B. war bis zu seinem Tode bei einer Futtermittelfabrik in K. als Hilfsarbeiter beschäftigt. Am 31. Oktober 1977 half er vom Arbeitsbeginn bis zur Frühstückspause beim Füllen eines Silos. Anschließend fuhr er zusammen mit dem Arbeitskollegen B. in einem VW-Bus zu dem drei Kilometer entfernten Privatgrundstück des Arbeitgebers in G., um dort auftragsgemäß kleine Obstbäume zu setzen und Gras zu mähen. B. hatte bereits am Vortage die Löcher zur Aufnahme der Obstbäume gegraben. Beide hatten vom Betriebsautomaten je eine mit Kronenkorken verschlossene Flasche Bier mitgenommen, aus welcher sie während der Arbeit - O.B. hielt lediglich die Bäumchen beim Einsetzen und rechte das abgemähte Gras zusammen - tranken. In den Morgenstunden betrug die Temperatur 5 Grad Celsius, bis mittags stieg sie auf 16 Grad Celsius an. Kurz vor der Rückfahrt zum Betrieb gegen 11.50 Uhr tranken sie die Flaschen leer, wobei O.B. äußerte, er habe wohl eine Fliege verschluckt. Unterwegs hielt O.B. seine linke Wange und gab auf Befragen an, er habe ein "dummes komisches Gefühl" im Gesicht. Nach der Ankunft im Betrieb ging O.B. zum Mittagessen in den Aufenthaltsraum, während B. Behälter mit Wasser füllte, um nach der Mittagspause die gepflanzten Bäume anzugießen. O.B. klagte nach Einnahme von etwas Suppe über Atemnot. Er wurde zu seinem Hausarzt Dr. P. gefahren. Dieser gab ihm nach Schilderung des Vorgefallenen eine Spritze. Kurz darauf verstarb O.B.. Die Sektion ergab als Grundkrankheit "essentielle Hypertonie, Wespenstich" und als Todesursache "Glottisödem (Kehlkopfschwellung), Asphyxie (Erstickung)"; im Magen wurde eine tote Wespe gefunden.
Die Beklagte lehnte es ab, die Klägerinnen als Hinterbliebene des O.B. zu entschädigen, weil Essen und Trinken dem persönlichen unversicherten Lebensbereich zuzurechnen sei, und zwar selbst dann, wenn die Einnahme in einer Arbeitspause unmittelbar an der Arbeitsstätte erfolge (Bescheid vom 23. März 1978).
Während das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 7. September 1978), hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, den Klägerinnen Witwen- und Waisenrente zu zahlen (Urteil vom 7. Mai 1980).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 548 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung
gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerinnen beantragten
die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des SG zurückzuweisen. Den Klägerinnen sind keine Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu zahlen, weil O.B. beim Trinken nicht versichert gewesen ist.
Der angefochtene, die Hinterbliebenenentschädigung verneinende Bescheid der Beklagten ist entgegen der Auffassung des LSG nicht rechtswidrig. Die Klägerinnen haben gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Witwen- und Waisenrenten (§§ 547, 589, 590, 595 RVO; § 22 Abs 1 Nr 4 SGB 1) wegen des Todes ihres Ehemannes und Vaters. Der Tod des O.B. war nämlich nicht die Folge eines Arbeitsunfalls nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Dieser - freilich unscharfe - Begriff des Arbeitsunfalls müßte, wie der Senat bereits mehrfach ausgesprochen hat (BSGE 48, 224, 225 f = SozR 2200 § 548 Nr 45; aaO, Nr 53), sachlich zutreffender als "Unfall, den ein Versicherter infolge einer nach §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit (§ 7 SGB 4) erleidet und der zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tode führt" definiert werden. Der so zu definierende Begriff des Arbeitsunfalls verlangt als erstes Merkmal einen Unfall und als zweites Merkmal, daß jemand nach §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert ist. O.B. konnte als Hilfsarbeiter während der Arbeiten auf dem Grundstück seines Arbeitgebers am 31. Oktober 1977 allein nach § 539 Abs 1 Satz 1 RVO versichert sein.
Das LSG hat O.B. für versichert gehalten, als er beim Austrinken des Bierrestes von einer Wespe gestochen wurde. Es hat darauf abgehoben, daß der Unfallversicherungsschutz sich nicht nur auf betriebsbedingte Gefahren erstreckt, sondern auch auf die Gefahren des täglichen Lebens, denen der Versicherte durch die versicherte Beschäftigung ausgesetzt war. Das Berufungsgericht hat festgestellt, O.B. sei der Gefahr, von einer Wespe gestochen zu werden, "durch seine betriebliche Tätigkeit ... in erhöhtem Maße ausgesetzt" gewesen, und es daher für gerechtfertigt gehalten, auch einen Unfall, selbst wenn er sich während des Trinkens ereigne, in den Unfallversicherungsschutz einzubeziehen.
Für seine tatsächliche Feststellung, daß die Gefahr eines Wespenstichs für O.B. an seinem damaligen Arbeitsplatz, dem Privatgrundstück seines Arbeitgebers, "besonders groß" gewesen sei, hat es sich auf die Angaben des Zeugen B. gestützt, auf diesem Grundstück befänden sich Zwergobstbäume, zB Zwetschgenbäume, Apfelbäume, Johannisbeersträucher und vor allem Sauerkirschbäume; am 31. Oktober 1977 hätten Früchte dieser Bäume auf dem Boden gelegen; auf der einen Seite des Grundstücks befänden sich Weinberge; am 31. Oktober 1977 seien in den Weinbergen um G. die in dieser Gegend überwiegend späten Sorten noch nicht abgeerntet gewesen; solange die Trauben noch reiften, befänden sich in den Weinbergen um G. viele Wespen. Das LSG hat dem die Feststellung hinzugefügt, erfahrungsgemäß würden "aber auch Wespen durch auf dem Boden herumliegendes verfaulendes Obst - wie Zwetschgen und Äpfel auf dem Privatgrundstück des Firmenchefs - angelockt". Diese auf der Beweiswürdigung des LSG beruhende Feststellung hält indes einer Überprüfung nicht stand. Die Beklagte hat mit ihrer Revision nämlich die Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) zutreffend mit einer Verfahrensrüge angegriffen, indem sie auf folgende Aussage des Zeugen B. verweist: "Als wir uns am Vormittag des 1977-10-31 auf dem Grundstück ... befanden, habe ich dort herumfliegende Wespen nicht festgestellt". Das LSG habe die von ihm zu beachtenden Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten, indem es aus dieser das Vorhandensein von Wespen verneinenden Bekundung des Zeugen B. gefolgert habe, die Gefahr eines Wespenstichs sei auf dem Privatgrundstück des Arbeitgebers "besonders groß" gewesen. Nach der Zeugenaussage bestand indes eine solche Gefahr gerade nicht. Wenn auch dem Berufungsgericht zugegeben werden kann, daß erfahrungsgemäß Wespen durch auf dem Boden herumliegendes verfaulendes Obst angelockt zu werden pflegen, so ist dieser vom LSG seiner Feststellung zugrunde gelegte Erfahrungssatz hier aber deshalb unbeachtlich, weil der Zeuge B. seiner Aussage zufolge an dem Vormittag des Unfalltages keine Wespen auf dem Privatgrundstück des Arbeitgebers bemerkt hat und somit der Erfahrungssatz keine Anwendung zu finden hat. In tatsächlicher Hinsicht ist demnach festzuhalten, daß die vom LSG angenommene besonders große Wespenstichgefahr am 31. Oktober 1977 auf dem genannten Grundstück nicht bestand.
Damit ist der Entscheidung des Berufungsgerichts der Boden entzogen. Es hätte demnach richtigerweise seiner Entscheidung die Feststellung zugrunde legen müssen, daß O.B. Bier getrunken hat, als er auf dem Grundstück seines Arbeitgebers arbeitete und ihn hierbei eine Wespe gestochen hat.
Für die Frage, ob eine solche Verrichtung versichert ist, ist die Rechtsprechung von Bedeutung, wonach Essen und Trinken bei der Arbeit nur ausnahmsweise versichert sind (BSG SozR 2200 § 548 Nr 20 mwN), nämlich dann, wenn besondere Umstände das "Moment der Eigenwirtschaftlichkeit" beim Essen und Trinken als unwesentlich zurücktreten lassen (BSG SozR Nrn 40, 41 zu § 542 RVO aF; SozR 2200 § 548 Nr 20). Das könnte der Fall gewesen sein, wenn die Arbeit so anstrengend und durstmachend gewesen wäre, daß das Trinken erforderlich war, um die Arbeiten weiterverrichten zu können. Davon kann aber hier nicht die Rede sein.
Da O.B., als er die Bierflasche leerte, nicht nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO versichert war, war der zum Tode führende Unfall kein Arbeitsunfall. Deshalb erübrigt es sich, ferner zu prüfen, ob O.B. einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen