Leitsatz (amtlich)
Zur Nachprüfbarkeit der Auslegung von Willenserklärungen durch das Revisionsgericht.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 163 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. April 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob der im Juni 1901 geborenen Klägerin trotz einer im Jahre 1939 abgegebenen Verzichtserklärung vor Vollendung ihres 65. Lebensjahres eine Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung (ArV) ihres verstorbenen Ehemannes (Versicherten) zustand.
Der Versicherte starb im Juni 1938 durch Arbeitsunfall. Die Klägerin erhielt daraufhin zunächst eine Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung von der Hannoverschen Baugewerks-Berufsgenossenschaft (BG). Im Jahre 1939 schloß sie mit der Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (Beigeladenen), bei der der Schädiger haftpflichtversichert war, einen Kapitalabfindungsvergleich. Die Beigeladene verpflichtete sich zur Zahlung von 12500.- RM; die Klägerin verzichtete dafür auf ihre Ansprüche gegen die BG. Weiter gab sie am 4. Dezember 1939 vor dem Notar Dr. T die folgende Erklärung ab:
In der Unfallsache meines verstorbenen Ehemannes habe ich bereits am 13. Oktober 1939 der Landesversicherungsanstalt Westfalen gegenüber eine Verzichterklärung dahin abgegeben, daß ich auf eine etwaige mir im Fall späterer Invalidität zustehende Witwenrente bis zur Erreichung meines 65. Lebensjahres verzichte. Auf Wunsch der Landesversicherungsanstalt bzw. der Magdeburger Feuerversicherungsgesellschaft verpflichte ich mich diesen beiden Genannten gegenüber nochmals ausdrücklich dazu, bei der Landesversicherungsanstalt Westfalen in M niemals einen Antrag auf Zubilligung einer Witwenrente bis zur Erreichung meines 65. Lebensjahres im Falle etwaiger späterer Invalidität zu stellen.
Beklagte und BG verzichteten - im Rahmen des Vergleichs - auf eventuelle Rückgriffsansprüche gegenüber der Beigeladenen.
Die BG gewährte der Klägerin im Jahre 1960 die Witwenrente antragsgemäß wieder: Im Hinblick auf die Gesamtumstände des Falles werde die Klägerin durch den Rentenverzicht in ungerechtfertigter Weise benachteiligt, zumal die Abfindungssumme nur in Höhe von etwa 6000.- RM gezahlt worden sei. Es sei daher berechtigt, die Rentenzahlung wieder aufzunehmen. Die Beklagte lehnte dagegen unter Hinweis auf die Verzichtserklärung den im März 1960 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung von Witwenrente aus der ArV ab (Bescheid vom 25. April 1960).
Auf die Klage hin ist die Beklagte zur Rentenzahlung vom 1. März 1960 an verurteilt worden (Urteil des Sozialgerichts - SG - Detmold vom 11. Juli 1961). Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Nordrhein-Westfalen vom 24. April 1963). Nach der Auffassung des LSG hat die Klägerin 1939 lediglich auf die - nach der damaligen Sach- und Rechtslage - im Falle von Invalidität in Betracht kommende Witwenrente verzichtet, nicht dagegen auf eine - durch spätere Gesetzesänderungen eingeführte - unbedingte Witwenrente. Für eine solche Auslegung spreche der Wortlaut der Verzichtserklärung. Im übrigen sei die Erlangung einer Witwenrente vor dem 65. Lebensjahr zur Zeit des Abschlusses des Vergleichs für die Klägerin völlig unsicher gewesen; auf eine solche Rente habe sie daher verzichten können, ohne ein besonderes Risiko einzugehen. Dem entspreche auch die relativ geringfügige Abfindung, welche die Klägerin erhalten habe. Diese sei als Gegenleistung für einen Verzicht auf eine schon mit 45 Jahren (3. Änderungsgesetz zum Sozialversicherungsanpassungsgesetz - SVAG - idF vom 21. Januar 1956) oder sogar ohne jede altersmäßige Begrenzung zu gewährende Witwenrente nicht als angemessen zu bezeichnen. Es beständen auch Bedenken gegen die Rechtswirksamkeit eines Verzichts in dem von der Beklagten unterstellten Umfang. Jedoch bedürfe dies keiner Entscheidung. Weil kein Verzicht für die Zeit von der Antragstellung an vorliege und sonstige Gründe, die den Rentenanspruch ausschließen könnten, nicht ersichtlich seien, müsse der Klägerin die Rente gewährt werden (§ 1264 der Reichsversicherungsordnung - RVO - nF, Art. 2 § 18 letzter Halbsatz und Art. 2 § 17 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -). - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt; sie rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts durch das Berufungsgericht: Das LSG habe gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) verstoßen. Es habe seine Entscheidung mit auf die Akten der BG gestützt. Diese Beiakten seien ihr aber nicht zugänglich gemacht worden, sie habe sich deshalb dazu nicht äußern können. Das LSG habe auch den Sachverhalt nicht ausreichend erforscht und damit § 103 SGG verletzt. Die Beurteilung des Rechtsstreits hänge davon ab, von welchen Voraussetzungen die Beteiligten bei der Abgabe der Verzichtserklärungen im Jahre 1939 ausgegangen seien. Sie - die Beklagte - sei zu dem Verzicht auf Regreßansprüche gegenüber der Beigeladenen nur unter der Bedingung bereit gewesen, daß sie vor Erreichung des 65. Lebensjahres der Klägerin keine Rentenzahlung zu erbringen brauchte. Dies habe auch die Klägerin erkennen können. Falls insoweit Zweifel bestanden hätten, wäre die Vernehmung der Rechtsanwälte Dr. L und Dr. T erforderlich gewesen. Diese Zeugen hätten bekunden können, daß die Beklagte dem Vergleich nur beitreten wollte, wenn die Klägerin uneingeschränkt auf den Bezug von Witwenrente bis zur Vollendung ihres 65. Lebensjahres verzichtete. - Abgesehen hiervon liege eine fehlerhafte Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) vor. Die Auslegung der Verzichtserklärung berücksichtige nur die Interessen der Klägerin. Das LSG habe übersehen, daß der Erklärungswert gegenüber dem Empfänger maßgebend sei. Die Beklagte habe aber die Verzichtserklärung so auffassen müssen, daß die Klägerin auf jeglichen Anspruch auf Witwenrente bis zu einem Lebensalter von 65 Jahren verzichte.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beigeladene und die Klägerin sind im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist unbegründet. Die Entscheidung der Vorinstanz, welche die Beklagte zur Zahlung der Witwenrente verpflichtet, ist nicht zu beanstanden. Soweit das angefochtene Urteil überhaupt der Überprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt, hat diese nicht ergeben, daß die Beklagte zu Unrecht verurteilt worden ist.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat von den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen auszugehen (§ 163 SGG). Zwar hat die Beklagte gegen diese Feststellungen Verfahrensrügen erhoben; diese greifen jedoch nicht durch.
Die Beklagte rügt, das LSG habe ihr das rechtliche Gehör versagt. Diesen Verfahrensfehler sieht sie darin, daß in dem angefochtenen Urteil Einzelheiten aus den Akten der BG erwähnt seien, zu denen sie ohne Akteneinsicht nicht habe Stellung nehmen können. Sie hat jedoch unbeachtet gelassen, daß das LSG ihr durch Verfügung vom 15. November 1962 von der Beiziehung dieser Akten Kenntnis gegeben hat.
Die dadurch erlangte Möglichkeit, Akteneinsicht zu nehmen, hat sie jedoch nicht wahrgenommen. Ein Verstoß des LSG gegen §§ 62, 128 SGG muß deshalb verneint werden.
Entgegen der Auffassung der Beklagten hat das LSG auch seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, nicht verletzt. Es sind keine Gründe zu erkennen, durch die das LSG sich hätte veranlaßt sehen müssen, die beiden - von der Beklagten erstmalig in der Revisionsbegründungsschrift benannten - Zeugen über Einzelheiten beim Abschluß des Vergleichs zu vernehmen. Das Berufungsgericht durfte davon ausgehen, daß die von den Beteiligten damals abgegebenen Erklärungen vollständig waren. Es bestand kein Anhalt für die Annahme, die Beteiligten hätten zusätzlich Äußerungen getan, denen eine Bedeutung für die Auslegung des Vergleichs zukommen könnte. Die Beteiligten selbst - also auch die Beklagte - haben bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG nichts derartiges vorgetragen. Das Berufungsgericht konnte davon ausgehen, daß keine den Prozeßzweck fördernde Beweisaufnahme mehr notwendig sei.
Die Entscheidung hängt somit davon ab, ob die Auslegung der Willenserklärungen der am Vergleich Beteiligten, so wie das LSG sie vorgenommen hat, beanstandet werden kann. Diese Frage ist zu verneinen. Der erkennende Senat geht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer oberer Bundesgerichte sowie schon des Reichsgerichts davon aus, daß die Auslegung von Willenserklärungen der vorliegenden Art durch den Tatsachenrichter nicht der freien Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt (vgl. hierzu u.a. RGZ 123, 357; 133, 19; 161, 293; BGHZ 24, 19; BAG in NJW 1956, S. 1732, 1733). Die Überprüfung kann sich vielmehr nur darauf erstrecken, ob gegen Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen worden ist oder gesetzliche Vorschriften nicht beachtet worden sind. Die Ausführungen des LSG zur Auslegung der streitigen Willenserklärungen sind jedoch frei von solchen Fehlern. Die Revision erblickt zwar in der vom Berufungsgericht vorgenommenen Auslegung eine Verletzung des § 133 BGB. Die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils ergeben jedoch, daß nicht nur der Wortlaut der Erklärungen, sondern - entgegen der Meinung der Beklagten - auch der wirkliche Wille der Beteiligten, soweit er erkennbar ist, berücksichtigt wurde. Es ist nicht zu beanstanden, daß das LSG bei seiner Rechtsfindung von dem Wortlaut der damals abgegebenen Verzichtserklärung ausgegangen ist und in ihm ein Indiz dafür gesehen hat, daß die Klägerin nicht auf eine unbedingte Witwenrente habe verzichten wollen. Sie hat nämlich erklärt, "im Falle etwaiger späterer Invalidität" keinen Antrag auf Zubilligung einer Witwenrente stellen zu wollen. Zu der damaligen Zeit war nicht voraussehbar, daß später einmal durch eine Änderung der gesetzlichen Voraussetzungen ein Anspruch auf eine unbedingte Witwenrente entstehen würde. Deshalb ist die Schlußfolgerung des LSG nicht angreifbar, daß auch die Klägerin und die Beklagte nicht an einen solchen - nicht voraussehbaren - Anspruch gedacht und somit die Verzichtserklärung nicht auf ihn bezogen hätten. Dem LSG ist schließlich darin beizupflichten, daß für den Fall eines soweit gehenden Verzichts die Gegenleistung der Beigeladenen verhältnismäßig unbedeutend gewesen wäre. Rechtlich unerheblich ist es, daß die Beklagte nach der Entgegennahme der Verzichtserklärung geglaubt haben mag, nunmehr von einer Rentenzahlung bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres der Klägerin befreit zu sein. Diese Vorstellung beruhte auf der damaligen gesetzlichen Regelung, sie findet jedoch in der Verzichtserklärung der Klägerin keine Stütze. Hiernach läßt die Auslegung des Vergleichs durch das Berufungsgericht - selbst wenn eine abweichende Auslegung denkbar sein sollte - keine Rechtsfehler erkennen. Soweit sie auf dem Gebiet der tatsächlichen Feststellung liegt, ist sie für das BSG bindend. Hieraus folgt, daß die Klägerin keinen Verzicht auf die unbedingte Witwenrente ausgesprochen hat. Sonstige Gründe, die dem Anspruch der Klägerin entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Die Revision muß daher zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen