Leitsatz (redaktionell)
Unfallversicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 2:
Führt ein Arbeitnehmer (Dachdeckergeselle) in seiner Freizeit bei einem anderen Unternehmer Dachdeckerarbeiten aus, so wird er auch dann wie ein Versicherter iS des RVO § 539 Abs 1 und nicht aufgrund eines Werkvertrages tätig,
wenn der Unternehmer in seinem Betrieb normalerweise keine Dachdecker zu beschäftigen pflegt.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30, Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Juli 1971 wird zurückgewiesen.
Aufwendungen haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Gemeindeunfallversicherungsverband R (Beklagter) verpflichtet ist, der Allgemeinen Ortskrankenkasse L (Klägerin) die von dieser für den Dachdeckergesellen Manfred R (R.) erbrachten Krankenversicherungsleistungen in Höhe von 2.194,60 DM zu ersetzen.
Die Gemeinde Salz/Oberwesterwald hatte R. beauftragt, jeweilig nach Feierabend zu einem vereinbarten Stundenlohn von 4,50 DM auf dem Feuerwehrgerätehaus Eternit-Well-Platten zu verlegen. Bei diesen Arbeiten, die etwa 30 bis 40 Stunden beansprucht hätten, verletzte er sich am 31. Oktober 1966 durch Sturz aus etwa 3 m Höhe erheblich. Der Beklagte lehnte einen Entschädigungsanspruch des R. durch Bescheid vom 24. Februar 1967 ab, da er als gelernter Dachdecker in einem ständigen Beschäftigungsverhältnis bei dem Dachdeckermeister H in F, nicht aber bei der Gemeinde S in einem Beschäftigungsverhältnis stehe. Er sei vielmehr aufgrund eines zwischen ihm und der Gemeinde zustande gekommenen Werkvertrages tätig geworden, der es ausschließe, § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO anzuwenden; eine Tätigkeit gemäß § 539 Abs. 2 RVO scheide aus, da R. im Rahmen des Werkvertrages nicht wie ein Beschäftigter tätig geworden sei; auch § 657 Abs. 1 RVO könne nicht angewendet werden, da diese Vorschrift voraussetze, daß der Verletzte nach § 539 Abs. 1 oder Abs. 2 RVO gegen Arbeitsunfall versichert sei. Der ablehnende Bescheid wurde R. gegenüber bindend.
Auf die Klage der Klägerin, die eine Ausfertigung des Bescheides erhalten hatte, hat das Sozialgericht (SG) den Beklagten verurteilt, der Klägerin den geforderten Betrag zu zahlen (Urteil vom 18. September 1968). Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision zugelassen. Es hat die Auffassung vertreten, R. sei wie ein nach § 539 Abs. 1 RVO Versicherter tätig geworden und daher nach § 539 Abs. 2 RVO gegen Arbeitsunfall versichert gewesen; R. sei nicht als Unternehmer tätig geworden, vielmehr sei er nach seinem Berufsbild eindeutig Arbeitnehmer; er habe keinerlei Unternehmerrisiko getragen; die mit der Gemeinde S vereinbarten Geldleistungen seien als Vergütung für seine dem Gemeinwohl dienende arbeitnehmerähnliche Tätigkeit anzusehen (Urteil vom 21. Juli 1971).
Der Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt, mit der er Verletzung des § 539 Abs. 2 RVO und des § 75 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) rügt. Für ihn war die von R. verrichtete Arbeit Schwarzarbeit, die nach BSG 29, 159 keinen Versicherungsschutz genieße. Er bekämpft die Auffassung des Berufungsgerichts, R. habe sich rechtlich in derselben Lage befunden wie die Einwohner einer Gemeinde, die zur Verrichtung von Notdiensten oder Hand- und Spanndiensten im Sinne des § 22 der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) verpflichtet würden. Zudem meint der Beklagte, das SG habe den verletzten R. nicht als Zeugen vernehmen dürfen; dieser sei nach § 75 Abs. 2 SGG beizuladen gewesen, zumal die Klägerin das Verfahren nach § 1511 RVO betrieben habe.
Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Juli 1971 und des Sozialgerichts Wiesbaden vom 18. September 1968 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Juli 1971 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Das BSG-Urteil in BSG 29, 159 betreffe einen anderen Fall. Eine Schwarzarbeit liege nicht vor, sondern ein Arbeitsvertrag.
II
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Beklagten ist unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen.
Mit Recht hat das LSG entschieden, daß der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin deren Aufwendungen aus Anlaß des Unfalls des R. zu ersetzen. Denn in der Tat war dieser Unfall ein Arbeitsunfall (§ 548 Abs. 1 Satz 1 RVO). R. hat ihn nämlich, wie das Berufungsgericht zutreffend festgestellt hat, bei einer der in § 539 Abs. 2 RVO genannten versicherten Tätigkeiten erlitten, als er sich durch Sturz bei den Verlegearbeiten von Eternit-Well-Platten erheblich verletzte. R. war daher bei dieser Arbeit entgegen der Meinung der Revision versichert, und zwar gemäß § 539 Abs. 2 RVO. Nach dieser Vorschrift sind gegen Arbeitsunfall "Personen versichert, die wie ein nach Absatz 1 Versicherter tätig werden". Die hier gemeinte Tätigkeit muß ernstlich sein, dem in Betracht kommenden Unternehmen dienen, dem mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechen, der vorgestellte Erfolg der Tätigkeit müßte den Unternehmenszweck irgendwie gefördert haben, wenn der Erfolg eingetreten wäre (BSG 5, 168, 171, 172), die Tätigkeit muß ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden, die zu dem Unternehmen in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit stehen - ohne daß bei § 539 Abs. 2 RVO (früher § 537 Nr. 10 RVO) eine solche Abhängigkeit vorliegen muß (BSG 5, 168) - und schließlich muß sie unter solchen Umständen geleistet werden, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses der in § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO bezeichneten Art ähnelt und so ein innerer ursächlicher Zusammenhang mit dem unterstützten Unternehmen hergestellt wird (BSG 5, 174; 31, 277). Das LSG hat diese Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 539 Abs. 2 RVO für die Tätigkeit des R. bejaht. Das ist im Ergebnis nicht zu beanstanden, ohne daß es auf die Erwägungen des LSG zu § 22 HGO ankäme.
Der Beklagte möchte dieses Ergebnis dadurch ausräumen, daß er die Tätigkeit als unversicherte, weil unversicherbare Schwarzarbeit gewertet wissen möchte. Dem ist nicht zu folgen. R. hatte nach den von der Revision nicht angefochtenen und das Revisionsgericht daher bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) mit der Gemeinde Salz vereinbart, nach Feierabend in etwa 30 - 40 Stunden auf dem Feuerwehrgerätehaus Eternit-Well-Platten zu einer Stundenvergütung von 4,50 DM zu verlegen. Bei dieser Sachlage handelt es sich um eine ernstliche, dem Willen der Gemeinde entsprechende und ihren Zwecken dienende Tätigkeit. Es steht ferner nichts entgegen, diese Vereinbarung wenn nicht als Arbeitsvertrag, so doch zumindest als arbeitsvertragsähnliche Vereinbarung zu verstehen, womit zugleich die Annahme ausscheidet, was das Berufungsgericht ebenfalls zutreffend erkannt hat, daß es sich bei der Vereinbarung um einen Werkvertrag gehandelt habe. Zu Unrecht beruft sich der Beklagte für seine Auffassung auf die BSG-Entscheidung in BSG 29, 159, in der jemand als Bastler bei der Besorgung des erforderlichen Materials einen Unfall erlitten hatte. Dieser Fall ist mit dem vorliegenden nicht vergleichbar. Der Umstand, daß die Gemeinde Salz in ihrem Unternehmen normalerweise keine Dachdecker zu beschäftigen pflegt, steht dem Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 RVO nicht entgegen. Denn diese Vorschrift setzt nicht voraus, daß der Unfall bei Arbeiten auftrat, die "üblicherweise von im Betrieb des betreffenden Gewerbezweiges beschäftigten Personen verrichtet werden", wie der 2. Senat des BSG im Urteil vom 27.7.1972 - 2 RU 71/70 - zutreffend entschieden hat.
Nach alledem besteht der - in der Höhe unbestrittene - Ersatzanspruch der Klägerin, der sich mangels eines bestimmten Auftrags des Beklagten zwar nicht aus § 1510 Abs. 2 RVO, wohl aber aus § 1501 RVO in Verbindung mit den RVA-Bestimmungen vom 19. Juni 1936 (AN 1936, 195) - § 11 - ergibt, zu Recht.
Soweit der Beklagte als Verletzung des § 75 Abs. 2 SGG einen wesentlichen Verfahrensmangel dahin rügt, R. habe vom SG nicht als Zeuge vernommen werden dürfen, sondern sei notwendig beizuladen gewesen, weil die Klägerin nicht nur einen Ersatzstreit gemäß § 1510 RVO, sondern letztlich auch die Feststellung der Unfallentschädigung für R. gemäß § 1511 RVO betreibe, kann sie auch mit dieser Rüge nicht durchdringen. Es trifft nicht zu, daß die Klägerin "letztlich auch" ein Verfahren gemäß § 1511 RVO durchführt. Die Klägerin hat in den drei Rechtszügen derartiges weder erklärt, noch kann ihrem Vorbringen oder ihren Anträgen entnommen werden, daß sie etwa nur auf Leistung an den Verletzten klage. Vielmehr ging und geht es ihr allein darum, von dem Beklagten Ersatz für ihre Aufwendungen, die sie gegenüber R. erbracht hat, zu erlangen (vgl. BSG in SozR Nr. 2 zu § 1504 RVO, Blatt Aa2). Der Ersatzstreit betraf nur die Klägerin und den Beklagten als Beteiligte. R. war an dem streitigen Rechtsverhältnis, dem Ersatzverhältnis, nicht, wie dies die allein in Betracht kommende 1. Alternative des § 75 Abs. 2 Satz 1 SGG erfordert, derart beteiligt, daß die Entscheidung auch R. gegenüber nur einheitlich hätte ergehen können.
Die Entscheidung über die Aufwendungen folgt aus § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen