Leitsatz (redaktionell)
Wer, obwohl bereits am Zielbahnhof angekommen, erneut in den Zug einsteigt, um eine vergessene Aktentasche mit Geschäftspapieren zu holen, befindet sich noch auf dem unfallversicherten Heimweg.
Das Abspringen von einem anfahrenden Zug ist nicht unbedingt in einem so hohen Grade vernunftswidrig, daß dadurch der Versicherungsschutz in der Unfallversicherung entfällt.
Orientierungssatz
Zu der Frage, ob das Abspringen von einem noch langsam fahrenden Zug in so hohem Grade vernunftswidrig ist, daß der Unfallversicherungsschutz unter dem Gesichtspunkt der "selbstgeschaffenen Gefahr" zu verneinen ist.
Normenkette
RVO § 550 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. April 1966 und des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. Januar 1963 sowie der Bescheid der Beklagten vom 8. Dezember 1959 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger für die Folgen des Unfalls vom 12. Mai 1959 Entschädigung zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlicher Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen von Verletzungen, die er am 12. Mai 1959 bei einem Abspringen von einem fahrenden Personenzug erlitten hat.
Der Kläger war damals auf einer Baustelle in B beschäftigt und benutzte nach Schluß der Arbeit den fahrplanmäßigen Personenzug zur Rückfahrt nach seinem Wohnort H. Hinsichtlich der Vorgänge, die zur Verletzung des Klägers geführt haben, enthält das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 25. April 1966 folgende Feststellungen:
Die ursprüngliche Darstellung des Klägers, daß er eingeschlafen gewesen und erst wieder erwacht sei, als der Zug H wieder verlassen habe, habe sich als unrichtig herausgestellt. Der Kläger habe vielmehr in H den Zug verlassen und ihn kurz vor der Abfahrt erneut bestiegen. Es sei auch unzutreffend, daß er infolge seiner Schlaftrunkenheit nicht gewußt habe, wo er sich befinde. Anlaß für die Rückkehr zum Zug sei vielmehr gewesen, daß der Kläger seine Aktentasche vergessen habe, in der sich neben Arbeitskleidung ein Rapportbuch und "Beschriebe" der in B zu verrichtenden Arbeit befunden hätten. Nachdem der Kläger die Tasche gefunden hatte, sei er noch im Gelände des Bahnhofs H, aber außerhalb des Bahnsteigs abgesprungen und habe sich dabei Verletzungen zugezogen, die eine sofortige Überführung in das Kreiskrankenhaus H notwendig gemacht hätten.
Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche des Klägers durch Bescheid vom 8. Dezember 1959 ab und begründete das damit, daß der Kläger durch das Wiederbesteigen des Zuges den Zusammenhang mit dem Betrieb unterbrochen habe, da er über das Ziel, die Bahnstation H, hinausgefahren sei. Der Kläger habe sich auch dadurch in eine selbst geschaffene Gefahr begeben, daß er von dem bereits wieder mit beträchtlicher Geschwindigkeit fahrenden Zug abgesprungen sei.
Gegen diesen Bescheid haben sowohl die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) S, deren Ersatzanspruch die Beklagte abgelehnt hatte, als auch der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben. Die AOK hat ihre Klage wieder zurückgenommen. Die Klage des Klägers ist vom SG durch Urteil vom 17. Januar 1963 als unbegründet abgewiesen worden.
Zur Begründung hat das SG u.a. ausgeführt, der Kläger habe sich im Zeitpunkt des Unfalls auf einem Abweg befunden, da er sich nach dem Wiederbesteigen des Zuges von seinem Wegziel, der Wohnung in H, wieder entfernt habe. Ein Versicherungsschutz ergebe sich auch nicht aus § 543 Abs.2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF, denn die Aktentasche sei kein Arbeitsgerät im Sinne dieser Vorschrift.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt. Das LSG hat die AOK S zum Verfahren beigeladen und nach weiteren Beweiserhebungen durch Urteil vom 25. April 1966 (Breithaupt 1967, 378) die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Revision ist vom LSG zugelassen worden. Zur Begründung hat das LSG u.a. ausgeführt: Da sich in der Aktentasche betriebliche Unterlagen befunden hätten, die der Kläger für die Arbeit am nächsten Tage benötigte, falle die Aktentasche unter den Begriff Arbeitsgerät. Das nochmalige Betreten des Zuges zur Sicherstellung der vergessenen Aktentasche sei also betriebsbedingt gewesen und habe der "Verwahrung des Arbeitsgerätes" im weiteren Sinne gedient. Diese Tätigkeit sei aber beendet gewesen, als der Kläger die Aktentasche wiedergefunden hatte. Vernünftigerweise hätte er, da der Zug inzwischen abgefahren gewesen sei, bis zur nächsten Station mitfahren und dann zurückfahren müssen. Auf diesem Umweg hätte er weiterhin unter Versicherungsschutz gestanden. Er sei statt dessen während der Fahrt aus dem Zug gesprungen. Durch dieses in hohem Maße vernunftwidrige Verhalten, das einen besonderen, selbständigen Entschluß erfordert habe, habe der Kläger den Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit gelöst und sich in eine selbst geschaffene Gefahr begeben. Die zum Abspringen von der Straßenbahn ergangenen Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes (RVA) (EuM 12, 106 Großer Senat; EuM 20, 83) stünden dem nicht entgegen. Die Entscheidung des Großen Senats betreffe einen Betriebsweg und nicht einen Weg im Sinne des § 543 Abs. 1 RVO aF. Die Vorschrift des § 542 Abs. 2 RVO aF beziehe sich nach ihrer systematischen Eingliederung nur auf Arbeitsunfälle, nicht aber auf Unfälle im Sinne des § 543 RVO aF. Die andere Entscheidung beziehe sich auf das Aufspringen auf einen fahrenden Zug. Doch könne dies im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, da unabhängig von einer Verbotswidrigkeit des Handelns stets der ursächliche Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit zu prüfen sei. Das Abspringen sei wesentlich strenger zu beurteilen als das Aufspringen. Es erfordere einen viel selteneren und ferner liegenden Entschluß, bei dem sich der vernünftige Mensch im allgemeinen nicht nur der Verbotswidrigkeit, sondern auch der damit verbundenen Gefahr bewußt sei. Es spiele auch keine Rolle, daß der Zug sich noch im Bahnhofsgelände befunden und die freie Strecke noch nicht erreicht habe. Der Kläger habe wissen müssen, daß der offene Bahnkörper mit seinem groben Schotterbett und dem großen Abstand vom Trittbrett zur Sohle des Gleisbettes auch bei einer Geschwindigkeit von nur 30 km/Std. eine ungeheuer große Gefahr bedeute. Die äußeren Bedingungen seien wesentlich schwerwiegender als das Besteigen eines gerade anfahrenden Fahrzeuges von einer entsprechend hohen befestigten Stelle aus. Der Kläger habe deshalb in hohem Grade leichtsinnig gehandelt und habe nach der allgemeinen Lebenserfahrung unbedingt mit einem Unfall rechnen müssen, für den er dann nicht mehr seine betriebliche Tätigkeit verantwortlich machen könne.
Das Urteil des LSG ist am 22. Juni 1960 mittels eingeschriebenen Briefes an den Kläger zur Post gegeben worden. Der Kläger hat durch seinen Prozeßbevollmächtigten am 14. Juli 1966 Revision eingelegt mit dem Antrag,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, ihren Bescheid vom 8. Dezember 1959 aufzuheben und das Unfallereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen und Entschädigung zu gewähren,
und sie zugleich begründet.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat keine Anträge gestellt.
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist zulässig.
Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, stand der Kläger während der Bahnfahrt von dem Ort der versicherten Tätigkeit B nach seinem Wohnort H nach § 543 Abs. 1 RVO aF (jetzt § 550 RVO nF) unter Versicherungsschutz. Der Senat stimmt mit dem LSG auch darin überein, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Heimwegs und der versicherten Arbeitstätigkeit dadurch nicht unterbrochen worden ist, daß der Kläger, nachdem er den Zug bereits verlassen hatte, nochmals umgekehrt und wieder in den Zug - kurz vor dessen Abfahrt - eingestiegen ist. Die Veranlassung hierzu stand mit der versicherten Tätigkeit insofern in unmittelbarem Zusammenhang, als die Aktentasche, die der Kläger im Zuge liegengelassen hatte, Papiere enthielt, die am nächsten Tag auf der Arbeitsstätte benötigt wurden (vgl. z.B. SozR 11 zu § 543 RVO aF). Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob sich für das Wiederbeschaffen der vergessenen Tasche ein Versicherungsschutz aus § 543 Abs. 2 RVO aF (jetzt § 549 RVO nF) ergibt. Der Zusammenhang zwischen der Rückkehr zum Zug und der versicherten Tätigkeit hat auch nach Auffassung des erkennenden Senats die Folge, daß der Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 RVO aF nicht unterbrochen wurde, obwohl der Zug inzwischen abgefahren war und der Kläger sich mit ihm vom Ziel seiner Fahrt zum Wohnort H entfernte (vgl. SozR Nr. 23 zu § 543 RVO aF).
Auch das Verlassen des bereits fahrenden Zuges hatte nicht schon deshalb einen Verlust des Versicherungsschutzes zur Folge, weil der Kläger damit gegen ein Verbot verstieß. § 542 Abs. 2 RVO gilt - entgegen der Auffassung des LSG - auch für das nach § 543 Abs. 1 RVO aF versicherte Zurücklegen des Heimwegs von der Arbeit, da der Gesetzgeber die Unfälle auf einem solchen Weg ohne Einschränkung den Arbeitsunfällen gleichgestellt hat (vgl. SozR Nr. 10 zu § 543 RVO aF).
Nach den Feststellungen des LSG (vgl. § 163 SGG) besteht auch kein Anhalt dafür, daß der Kläger mit dem Abspringen vom fahrenden Zug einen anderen Zweck verfolgte als nunmehr nach dem Wiedererlangen der Aktentasche den Weg zu seiner Wohnung unmittelbar über den Bahnhof H fortsetzen zu können und die Weiterfahrt bis zum nächsten Bahnhof sowie die Rückfahrt von dort aus nach H zu vermeiden. Der Entschluß des Klägers zum Abspringen stand somit in unmittelbarem Zusammenhang mit dem versicherten Zurücklegen des Heimwegs von der Arbeitsstätte.
Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ist der Unfall jedoch durch eine Gefahr verursacht, der sich der Kläger durch eigenen Entschluß ausgesetzt und die er in diesem Sinne selbst "geschaffen" hat. Das LSG hat deshalb mit Recht geprüft, welche Folgerungen hieraus bei der rechtlichen Wertung der für den Unfall ursächlichen Bedingungen zu ziehen sind. Auch nach der Auffassung des erkennenden Senats kann ein in hohem Maße vernunftwidriges Verhalten die Folge haben, daß die dadurch "geschaffene" Gefahr als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls zu werten ist und die ursächlichen Verknüpfungen des Unfallgeschehens mit der versicherten Tätigkeit als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund treten. Wie der Senat wiederholt betont hat, ist der Begriff der "selbstgeschaffenen Gefahr" jedoch mit größter Vorsicht anzuwenden (vgl. BSG 6, 164, 169; 11, 156, 157; 14, 64, 67; SozR Nrn. 53, 55, 77 zu RVO § 542 aF, Nr. 5 zu RVO § 550 nF; Urteil des erkennenden Senats vom 14. Dezember 1965 - 2 RU 8/64 -, veröffentlicht in Breithaupt 1966, 834). Nach der Auffassung des erkennenden Senats hat das LSG dem hiernach gebotenen strengen Maßstab nicht ausreichend Rechnung getragen und den Rahmen für die Anwendung des Begriffs der "selbstgeschaffenen Gefahr" zu weit gezogen. Das LSG hat zwar zutreffend ausgeführt, daß im vorliegenden Fall die mit dem Abspringen von einem fahrenden Zug in jedem Fall verbundene Gefahr insofern erhöht war, als der Zug sich zwar noch im Bereich des Bahnhofs, aber bereits außerhalb der befestigten Bahnsteige befand und der Kläger infolgedessen aus dem Abstand des Trittbretts von der Sohle des Gleisbetts auf das Schotterbett des offenen Bahnkörpers abspringen mußte. Andererseits ist aber zu berücksichtigen, daß der Zug nach den Feststellungen des LSG im Zeitpunkt des Absprungs mit einer Geschwindigkeit von 30 km/Std. fuhr. Auch haben sich die Vorgänge bis zum Abspringen so schnell abgespielt, daß dem Kläger kaum Zeit zu etwaigen Überlegungen geblieben sein dürfte. Der Senat vermag insbesondere auch den Ausführungen nicht zu folgen, mit denen das LSG seine Auffassung begründet hat, daß mit dem Abspringen von einem bereits in Bewegung befindlichen Zug höhere Gefahren als mit dem Aufspringen verbunden seien und das Abspringen deshalb schärfer verurteilt werden müßte (vgl. zum Abspringen von einem fahrenden Zug RVA in AN 1930, 118 Nr. 50).
Nach der Auffassung des erkennenden Senats war der Entschluß des Klägers zum Abspringen zwar leichtsinnig, jedoch nicht in so hohem Grade vernunftwidrig, daß es gerechtfertigt ist, ihn als die rechtlich allein wesentliche Ursache für das Unfallereignis zu werten, der gegenüber der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Abspringen und dem Zurücklegen des Heimwegs als rechtlich unwesentlich unberücksichtigt bleiben könnte.
Da hiernach der Kläger auch im Zeitpunkt des Unfalls unter Versicherungsschutz stand, ist die Beklagte verpflichtet, ihm für die Folgen des Unfalles Entschädigung zu gewähren. Der Senat hat deshalb die Urteile des LSG und des SG sowie den ablehnenden Bescheid der Beklagten aufgehoben. Da es nach den Feststellungen des LSG hinreichend wahrscheinlich ist, daß ein Entschädigungsanspruch des Klägers wenigstens in einer Mindesthöhe gegeben ist, hat der Senat die Beklagte dem Grunde nach zur Entschädigungsleistung verurteilt (§§ 130, 153, 165 SGG; SozR Nr. 3 zu SGG § 130).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen