Leitsatz (amtlich)

Das Jahr der ununterbrochenen Arbeitslosigkeit als Anspruchsvoraussetzung für das vorzeitige Altersruhegeld nach RVO § 1248 Abs 2 kann nicht mit einer Zeit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit beginnen.

 

Normenkette

RVO § 1248 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. März 1963 wird aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die in der Rentenversicherung der Arbeiter versicherte Klägerin ist am 11. Juli 1961 60 Jahre alt geworden; sie hatte damals die Wartezeit von 180 Kalendermonaten erfüllt. Zu Beginn ihres 60. Lebensjahres war sie arbeitsunfähig krank; die Krankheit hatte zu dieser Zeit schon zwei Monate bestanden und anschließend noch etwa vier Monate angedauert. Danach stand die Klägerin - wie bereits seit November 1959 - nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis.

Durch Bescheid vom 15. Februar 1962 bewilligte die Beklagte der Klägerin vorzeitiges Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vom 1. November 1961 an; sie lehnte es ab, die Leistung bereits - wie beantragt - vom 1. Juli 1961 an zu gewähren, weil sie die Klägerin während deren Krankheit nicht als arbeitslos im Sinne des Gesetzes ansah.

Mit der auf Zahlung des Altersruhegeldes auch für die Monate Juli bis Oktober 1961 gerichteten Klage hat die Klägerin im ersten Rechtszuge Erfolg gehabt. Das Sozialgericht (SG)Berlin hat in seinem Urteil vom 26. März 1963 ausgeführt: Die Klägerin sei bereits während ihrer Krankheit im Sommer und Herbst 1960 und somit mindestens ein Jahr vor der Vollendung ihres 60. Lebensjahres ununterbrochen arbeitslos im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO gewesen. Für die Auslegung des Begriffs "arbeitslos" komme es allerdings nicht allein auf § 75 Abs. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) an; es müßten auch die Voraussetzungen des § 76 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 dieses Gesetzes gegeben sein. Dagegen schließe das auf Krankheit beruhende Fehlen des Leistungsvermögens (§ 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG) die Arbeitslosigkeit nur dann aus, wenn die Krankheit Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zur Folge habe. Dies entspreche dem Sinn und Zweck des § 1248 Abs. 2 RVO, der den Folgen unverschuldeter Arbeitslosigkeit der älteren Arbeitnehmer steuern wolle, die wegen ihres Alters keine Arbeit mehr fänden. Der vom Gesetz geforderte Beweis der Vermittlungsunfähigkeit könne auch auf andere Weise als durch vergebliches Anbieten der Arbeitskraft geführt werden. Zeige der Arbeitsmarkt schon im allgemeinen kaum Bereitschaft, Beschäftigungswünschen von über 60-jährigen Arbeitnehmern nachzugeben, so gelte dies erst recht für Bewerber, bei denen noch eine die Arbeitsunfähigkeit bedingende Krankheit hinzutrete.

Das SG hat die Berufung zugelassen.

Die Beklagte hat unter Beifügung einer schriftlichen Einwilligungserklärung der Klägerin Sprungrevision eingelegt.

Zur Begründung des Rechtsmittels führt sie aus: Bei der Auslegung des Begriffs "arbeitslos" sei auf § 75 und auf § 76 Abs. 1 AVAVG in vollem Umfang, also auch auf Abs. 1 Nr. 2, zurückzugreifen. Arbeitslos sei nur, wer der Arbeitsvermittlung subjektiv und objektiv zur Verfügung stehe. Während einer Zeit der Arbeitsunfähigkeit sei man nicht vermittlungsfähig und deshalb auch nicht arbeitslos. Allerdings dürfe der Begriff der ununterbrochenen Arbeitslosigkeit nicht zu eng ausgelegt werden. Nach der Verwaltungsübung der Landesversicherungsanstalten des Bundesgebiets gelte eine Arbeitslosigkeit nicht als unterbrochen, wenn die Arbeitsunfähigkeit nicht länger als drei Monate dauere. Diese Grenze werde jedoch im vorliegenden Streitfalle überschritten.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.

Die Sprungrevision ist zulässig (§ 161 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG); sie ist auch begründet.

Der Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 2 RVO hängt u. a. davon ab, daß der Versicherte seit mindestens einem Jahr ununterbrochen arbeitslos ist. Die Merkmale, die den - im geschriebenen Recht der Rentenversicherung nicht definierten - Begriff der Arbeitslosigkeit kennzeichnen, sind, wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 11. August 1965 (BSG 23, 235) näher ausgeführt hat, anlehnungsweise sowohl aus § 75 als auch aus § 76 AVAVG zu entnehmen.

Aus § 75 AVAVG ergibt sich das Erfordernis der Arbeitnehmereigenschaft; danach kann arbeitslos nur sein, wer berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt, aber vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht und nicht im Betriebe eines Angehörigen mithilft. Die so umschriebene Arbeitnehmereigenschaft war bei der Klägerin - darüber besteht auch unter den Beteiligten kein Streit - unbedenklich vorhanden. Dem steht nicht entgegen, daß zu der Zeit, als das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin endete, möglicherweise schon vorauszusehen war, daß der Zustand der Beschäftigungslosigkeit wahrscheinlich nicht nur ein vorübergehender, sondern ein solcher von Dauer sein werde. Es ist geradezu der Sinn und Zweck des § 1248 Abs. 2 RVO, Fälle dieser Art zu erfassen; dem muß bei der Heranziehung des Begriffs der vorübergehenden Beschäftigungslosigkeit im Rahmen der Anspruchsvoraussetzungen des vorzeitigen Altersruhegeldes Rechnung getragen werden (vgl. BSG in SozR RVO § 1248 Nr. 39).

Aus § 76 AVAVG hat das Bundessozialgericht (BSG) in jetzt gefestigter Rechtsprechung hergeleitet, daß arbeitslos im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO nur sein kann, wer der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, d. h. wer ernstlich bereit, nach seinem Leistungsvermögen imstande und nicht durch sonstige Umstände gehindert ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben, und nach der im Arbeitsleben herrschenden Verkehrsauffassung für eine Vermittlung als Arbeitnehmer in Betracht kommt (BSG 10, 113, 115; 18, 287, 288, 292; 20, 190, 192, 196; 21, 24; 23, 235, 236; SozR RVO § 1248, Nrn. 21, 22 und 39). An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Senat fest.

Aus dem Vorstehenden folgt, daß ein Versicherter, der wegen Krankheit der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung steht, während dieser Zeit grundsätzlich nicht arbeitslos im Sinne der Anspruchsvoraussetzung des § 1248 Abs. 2 RVO sein kann, daß also eine auf Krankheit beruhende Arbeitsunfähigkeit während des maßgeblichen Jahreszeitraums - von einer Milderung des Grundsatzes abgesehen - die Arbeitslosigkeit unterbricht. Auch diese Schlußfolgerung wird in mehreren Entscheidungen des BSG gezogen (BSG 21, 24; SozR RVO § 1248 Nrn. 21 und 39; 11/1 RA 4/63 vom 4. November 1964); der erkennende Senat trägt keine Bedenken, sich dieser Auffassung anzuschließen. Wollte man - wie es das SG will - auch den arbeitsunfähig Kranken als arbeitslos im Sinne dieses Gesetzes ansehen, so könnte zB ein Versicherter, der bis zu seinem 59. Lebensjahr ständig gearbeitet hat und dann für ein Jahr erkrankt, in den Genuß des vorzeitigen Altersruhegeldes kommen, ohne jemals Arbeitsuchender gewesen zu sein. Das widerspräche dem Sinn der gesetzlichen Regelung, die anerkanntermaßen ältere Versicherte, die wegen ihres Alters keinen Arbeitsplatz mehr finden können, begünstigen will.

Der Grundsatz, daß auch eine auf Krankheit beruhende Arbeitsunfähigkeit die Arbeitslosigkeit im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO unterbricht, bedarf jedoch einer Milderung in zeitlicher Hinsicht. Trotz des Wortlauts "ununterbrochen arbeitslos" verlangt das Gesetz nicht, daß jeder der 365 Tage des Jahres ein Tag echter Arbeitslosigkeit ist. Dies ergibt sich aus Satz 4 der auszulegenden Vorschrift, wonach eine Beschäftigung oder Tätigkeit, die über eine gelegentliche Aushilfe nicht hinausgeht, außer Betracht bleibt, d. h. der Annahme von Arbeitslosigkeit nicht entgegensteht. Der angeführte Satz 4 gilt nicht nur für den Wegfall und die Wiedergewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes (Sätze 2 und 3 des § 1248 Abs. 2 RVO), sondern sinngemäß auch für die erstmalige Gewährung der Rentenleistung (BSG 23, 222, 223 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BSG). Die zeitliche Grenze, innerhalb deren eine "gelegentliche Aushilfe" anzunehmen ist, hat das BSG bei drei Monaten gezogen (BSG SozR RVO Nrn. 26 und 36). Daß in ähnlicher Weise bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit eine Milderung des oben gebilligten Grundsatzes, nach dem Arbeitsunfähigkeit die Arbeitslosigkeit ausschließt, vertretbar und geboten erscheint, ist in der Rechtsprechung des BSG ebenfalls wiederholt zum Ausdruck gekommen (BSG 21, 24, 26; 11/1 RA 4/62 vom 4. November 1964; SozR RVO § 1248 Nr. 39), ohne daß allerdings eine Veranlassung gesehen worden ist, die zeitliche Grenze des Unbeachtlichen genau festzulegen. Der 11. Senat hat Zeiträume von fünf Monaten und sieben Monaten nicht als geringfügig gelten lassen (BSG 21, 24, 26; 11/1 RA 4/62), während der 1. Senat eine Krankheit von sieben Wochen aus dem Gesichtspunkt der Geringfügigkeit außer Betracht gelassen hat (SozR RVO § 1248 Nr. 39). Der erkennende Senat ist - damit hält er sich im Rahmen der vorerwähnten Entscheidungen des BSG - zu dem Ergebnis gelangt, daß für die Unbeachtlichkeit einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit die zeitliche Grenze jedenfalls nicht höher angenommen werden darf als bei einer gelegentlichen Aushilfe im Sinne des § 1248 Abs. 2 Satz 4 RVO; zu einer genaueren Abgrenzung zwingt auch der hier zu entscheidende Streitfall nicht. Daraus folgt, daß der dem Klagevorbringen zugrunde liegende Jahreszeitraum von Juli 1960 bis Juli 1961 die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für das vorzeitige Altersruhegeld nicht erfüllen konnte, weil die Klägerin während der ersten vier Monate des Jahres arbeitsunfähig krank und deshalb nicht arbeitslos im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO war.

Kann die Klägerin das vorzeitige Altersruhegeld somit schon aus dem dargelegten Grunde nicht vom 1. Juli 1961 an verlangen, so steht ihr ein Anspruch auch nicht für einen der folgenden, vor dem November 1961 liegenden Monate zu. Läßt man den maßgeblichen Jahreszeitraum erst mit August, September oder Oktober 1961 beginnen, so verringert sich der in den Jahreszeitraum fallende Anteil der Krankheitsdauer allerdings auf drei Monate bis zu einem Monat und liegt damit möglicherweise innerhalb des Bereichs der Unbeachtlichkeit. Gleichwohl ist auch bei einer solchen Betrachtungsweise der angefochtene Bescheid der Beklagten nicht zu beanstanden. Ein Versicherter kann nämlich das vom Gesetz geforderte Jahr der Arbeitslosigkeit nur mit einer echten Arbeitslosigkeit beginnen, d. h. er muß - neben den sonstigen Voraussetzungen - am ersten Tage des maßgeblichen Jahreszeitraums der Arbeitsvermittlung in dem oben dargelegten Sinne zur Verfügung stehen. Die in der Rechtsprechung anerkannten zeitlichen Milderungen des Grundsatzes sind nur für Unterbrechungen einer einmal eingetretenen Arbeitslosigkeit vertretbar; es bedarf solcher Milderungen, weil die Erfahrung lehrt, daß von einem Menschen kaum zu erwarten ist, er könne 365 Tage ununterbrochen gesund und arbeitsfähig sein. Bei einer dem Wortlaut streng angepaßten Gesetzesanwendung würde jede - wenn auch kurzfristige - Krankheit die Arbeitslosigkeit unterbrechen und einen neuen Jahreszeitraum in Lauf setzen. Dies würde bedeuten, daß die Erfordernisse des Gesetzes praktisch kaum erfüllbar wären. Sieht man dagegen nur zu Beginn des Jahreszeitraums jeden geringfügigen Ausfall an echter Arbeitslosigkeit als schädlich an, so geht keine einmal "erdiente" Arbeitslosigkeit verloren, vielmehr wird nur die Vollendung des Jahres entsprechend der Dauer der anfänglichen Krankheit hinausgeschoben. In einem solchen Falle besteht kein dringendes Bedürfnis, den gesetzlichen Grundsatz aufzulockern, daß der Versicherte erst dann das vorzeitige Altersruhegeld zu beanspruchen hat, wenn er ein volles Jahr lang ohne Unterbrechung zu einer Beschäftigung bereit war, aber keinen Arbeitsplatz finden konnte.

Hiernach hat die Klägerin keinen weitergehenden Rentenanspruch als ihn die Beklagte ihr zugebilligt hat.

Das auf einer abweichenden Auffassung beruhende Urteil des SG muß aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2387407

BSGE, 105

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