Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente für abgelaufenen Zeitraum. Unzulässigkeit der Berufung
Leitsatz (amtlich)
Die Umlage iS des AFG § 186a ist ein Beitragsanspruch, mit dem gemäß SGB 1 § 51 Abs 2 aufgerechnet werden kann.
Leitsatz (redaktionell)
Die Winterbau-Umlage (§ 186a AFG) ist ein Beitragsanspruch, mit dem nach § 51 Abs 2 SGB 1 aufgerechnet werden kann. Der Versicherte darf jedoch dadurch nicht sozialhilfebedürftig oder -bedürftiger werden (vgl BSG 1980-12-18 8a RU 12/78 und BSG 1981-09-16 4 RJ 107/78 = DBlR 2705a, SGB 1/§ 51).
Orientierungssatz
1. Um die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume wird auch dann gestritten, wenn nicht die Berechtigung der Rente selbst, sondern nur ihre uneingeschränkte Auszahlung im Streit ist, weil gegen sie mit einer anderen Forderung verrechnet worden ist. Denn auch dann geht es dem Kläger um die Auszahlung dieser Rente (vgl BSG 1957-01-30 1 RA 63/56 = SozR Nr 4 zu § 146 SGG).
2. Sind verschiedene Rentenleistungen für unterschiedliche Zeiträume streitig, so handelt es sich nicht um denselben, sondern um verschiedene Streitgegenstände, für die die Statthaftigkeit der Berufung jeweils getrennt zu beurteilen ist (vgl BSG 1976-09-22 1 RA 107/75 = SozR 1500 § 146 Nr 2, BSG 1981-02-25 5a/5 RKn 11/79).
Normenkette
SGB 1 § 51 Abs. 2 Fassung: 1975-12-11, § 52 Fassung: 1975-12-11; AFG § 186a Fassung: 1972-05-19; SGG § 146 Fassung: 1958-06-25
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger war Bauunternehmer. 1973 wurde über sein Vermögen das Konkursverfahren eröffnet. Die Beklagte bewilligte ihm durch Bescheid vom 19. Februar 1976 für die Zeit ab 1. März 1975 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Der monatliche Rentenzahlbetrag betrug anfänglich 363,40 DM und seit dem 1. Juli 1976 403,40 DM. Als aufgelaufene Rente für die Zeit vom 1. März 1975 bis zum 31. März 1976 stellte die Beklagte den Betrag von 4.724,20 DM fest (13 x 363,40 DM), den sie wegen etwaiger Ansprüche Dritter vorsorglich einbehielt.
Die Beigeladene zu 1) beantragte bei der Beklagten, einen ihr gegen den Kläger zustehenden Anspruch auf rückständige Winterbauumlage nebst Zinsen und Kosten in Höhe von insgesamt 1.912,26 DM mit dem Rentenanspruch des Klägers zu verrechnen. Die Beigeladene zu 2) beantragte wegen rückständiger Gesamtsozialversicherungsbeiträge einschließlich Zinsen und Kosten in Höhe von insgesamt 22.312,91 DM die Verrechnung. Durch Bescheid vom 22. Juni 1976 (Widerspruchsbescheid vom 28. Dezember 1976) entsprach die Beklagte diesen Anträgen, indem sie die Ansprüche der Beigeladenen gegen die dem Kläger zustehenden Geldleistungen verrechnete, und zwar voll gegen den Anspruch auf rückständige Rente des Klägers für die Zeit vom 1. März 1975 bis 31. Dezember 1975, in Höhe von 3 x 181,60 DM gegen den Nachzahlungsanspruch für die Monate Januar bis März 1976 und in Höhe von 201,60 DM monatlich gegen die laufenden Rentenansprüche des Klägers.
Während des Klageverfahrens hat die Beklagte mit Bescheid vom 27. November 1977 die dem Kläger gewährte Rente ab 1. April 1977 in eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit umgewandelt und den mit monatlich 665,10 DM festgestellten Rentenzahlbetrag am 1. Januar 1976 unter Hinweis auf den Verrechnungsbescheid vom 22. Juni 1976 in Höhe von monatlich 332,50 DM mit den Forderungen der Beigeladenen verrechnet.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. August 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die am 6. September 1978 eingelegte Berufung des Klägers das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten vom 22. Juni 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. September 1976 dahin geändert, daß die Verrechnung mit der Rentennachzahlung für den Zeitraum vom 1. März bis 31. Dezember 1975 von ursprünglich 3.634,-- DM auf 1.817,-- DM herabgesetzt wird. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Aufrechnung bzw Verrechnung der Beklagten richte sich, auch soweit es sich um Rentenansprüche des Klägers aus der Zeit vor dem 1. Januar 1976 handele, nach den §§ 51 ff des Sozialgesetzbuches, Allgemeiner Teil (SGB 1) und nicht nach § 1299 Reichsversicherungsordnung (RVO). Entscheidend sei, daß die Aufrechnung nach dem 1. Januar 1976 erklärt worden sei. Doch sei gem § 51 Abs 2 SGB 1 auch hinsichtlich des für die Zeit vor dem 31. Dezember 1975 rückständigen Rentenbetrages die Aufrechnung nur bis zur Hälfte des Rentenbetrages zulässig. Daher sei der Anspruch des Klägers für die Zeit vor dem 31. Dezember 1975 nur in Höhe von 1.817,-- DM untergegangen. Im übrigen seien die Ansprüche des Klägers in der Höhe durch Aufrechnung bzw Verrechnung erloschen, wie die angefochtenen Bescheide der Beklagten es aussprächen.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 51 ff des SGB 1.
Er beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern, das Urteil des
Sozialgerichts Schleswig vom 11. August 1978 sowie
den Bescheid der Beklagten vom 22. Juni 1976 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 1976
aufzuheben, den Bescheid vom 27. November 1977 abzuändern
und die Beklagte zu verurteilen, die aufgrund der Auf- bzw
Verrechnung einbehaltenen Rententeilbeträge an den Kläger
auszuzahlen, soweit über diesen Antrag nicht bereits
durch das angefochtene Urteil zugunsten des Klägers entschieden
worden ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen stellen keine Anträge.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist teilweise begründet. Soweit es sich um die Ansprüche des Klägers auf Erwerbsunfähigkeitsrente ab 1. April 1977 handelt, ist die Zulässigkeit der Verrechnung erneut und unter Feststellung weiterer Tatsachen zu prüfen. Im übrigen ist die Revision zurückzuweisen, da bereits die Berufung unzulässig war.
Gemäß § 96 Abs 1 SGG ist Gegenstand des Verfahrens nicht nur der vom Kläger ursprünglich angefochtene Bescheid der Beklagten vom 22. Juni 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 1976, sondern auch der Bescheid der Beklagten vom 27. November 1977. Denn dieser Bescheid hat die bisherigen Verrechnungsbescheide insofern geändert, als er die gegenüber dem Kläger vorzunehmende Verrechnung der Höhe nach der ab 1. April 1977 an den Kläger zu zahlenden Erwerbsunfähigkeitsrente angepaßt hat.
Hinsichtlich des Anspruchs des Klägers auf Berufsunfähigkeitsrente bis zum 30. März 1977 ist der Urteilsausspruch des LSG, der das Sozialgerichtsurteil teilweise aufhebt und dem Kläger für die Zeit bis 31. Dezember 1975 einen höheren Rentenbetrag zuspricht, unrichtig, weil schon die Berufung gem § 146 SGG unzulässig war. Das Revisionsgericht hat von Amts wegen solche Mängel im Verfahren der Vorinstanz zu berücksichtigen, die das Verfahren als Ganzes betreffen oder nach dem Inhalt der angefallenen Entscheidung in der Revisionsinstanz fortwirken würden; hierzu zählt auch ua die irrige Annahme des Tatsachengerichts, daß die Berufung zulässig gewesen sei (allgemeine Meinung, vgl BSGE 25, 235, 236 und BSG-Urteil vom 23. April 1981 - 1 RA 25/80 - mwN).
Soweit es sich um das Begehren des Klägers handelt, die bis zum 1. April 1977 fällig gewordenen Ansprüche frei von Verrechnung zu halten, handelt es sich um einen Streit, der "nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft" (§ 146 SGG). Um die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume wird auch dann gestritten, wenn nicht die Berechtigung der Rente selbst, sondern nur ihre uneingeschränkte Auszahlung im Streit ist, weil gegen sie mit einer anderen Forderung verrechnet worden ist. Denn auch dann geht es dem Kläger um die Auszahlung dieser Rente (vgl BSG SozR Nrn 3 und 4 zu § 146 SGG: zur Aufrechnung). Bei Einlegung der Berufung am 6. September 1978 betrafen die Ansprüche des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit lediglich zurückliegende Zeiten. Diese Ansprüche wurden auch nicht fortgesetzt durch den Anspruch des Klägers auf Erwerbsunfähigkeitsrente, der ab dem 1. April 1977 an die Stelle der Berufsunfähigkeitsrente trat. Sind verschiedene Rentenleistungen für unterschiedliche Zeiträume streitig, so handelt es sich nicht um denselben, sondern um verschiedene Streitgegenstände, für die die Statthaftigkeit der Berufung jeweils getrennt zu beurteilen ist (vgl hierzu BSG SozR Nr 15 zu § 96 SGG; SozR 1500 § 146 Nr 2; Urteil des Senates vom 25. Februar 1981, 5a/5 RKn 11/79).
Im Hinblick auf die nur vom Kläger eingelegte Revision muß indes das Berufungsurteil insoweit bestehen bleiben, als es dem Kläger - trotz unzulässiger Berufung - für die Zeit bis zum 31. Dezember 1975 eine höhere Berufsunfähigkeitsrente zugebilligt hat (§ 123 SGG).
Hinsichtlich der somit in diesem Rechtsstreit nur noch überprüfbaren Frage, inwieweit gegen die Ansprüche des Klägers auf Erwerbsunfähigkeitsrente ab 1. April 1977 die Verrechnung zulässig ist, sind vom LSG bisher noch nicht berücksichtigte und aufgeklärte Tatsachen einzubeziehen. Für diese Ansprüche des Klägers gelten die - am 1. Januar 1976 in Kraft getretenen - §§ 51 und 52 SGB 1. Hinsichtlich der Aufrechnung oder Verrechnung gegen Versicherungsansprüche ist aber zu beachten, daß die Aufrechnung oder Verrechnung den Versicherten nicht der Sozialhilfe ausliefern oder stärker ausliefern darf, als dies ohne die Aufrechnung oder Verrechnung der Fall wäre. Hierzu wurde im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Januar 1978 (BSGE 45, 271 = SozR 1200 § 51 Nr 3), auf das sich das LSG beruft, zwar eine andere Rechtsauffassung vertreten. Diese ist indes aufgegeben worden, nachdem durch die Ergänzung des § 51 Abs 2 SGB 1 (Art II § 28 Nr 4 SGB 10) vom Gesetzgeber selbst klargestellt worden ist, wie § 51 SGB 1 von Anfang an zu verstehen sein sollte. Danach kann ein Sozialleistungsträger seit dem Inkrafttreten des SGB 1 Beitragsansprüche nur mit laufenden den Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen oder verrechnen, wenn der Leistungsberechtigte dadurch nicht sozialhilfebedürftig oder -bedürftiger wird (vgl BSG-Urteil vom 18. Dezember 1980 - 8a RU 12/78). Hinsichtlich der Ansprüche des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit wird das LSG eine dahingehende Überprüfung nachzuholen haben.
Zu Recht hat das LSG angenommen, daß die §§ 51 und 52 SGB 1 auch die Aufrechnung bzw Verrechnung mit Forderungen aus "Umlagen" iS der §§ 186a ff Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gestatten. Das gilt auch hinsichtlich des § 51 Abs 2 SGB 1, obwohl er von "Beitragsansprüchen" spricht. Der Begriff der Beitragsansprüche in diesem Sinne ist so weit, daß er auch die Umlagen erfaßt. Unter den öffentlich-rechtlichen Geldleistungen, zu denen Private verpflichtet sein können, unterscheidet man Steuern, Gebühren, Beiträge und Sonderabgaben (vgl Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S 31 ff; BVerfG in NJW 1981, 329). Dabei sind Beiträge Leistungen solcher Personen, die am Bestehen einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung ein Sonderinteresse haben, das über das der anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft hinausgeht. Sonderabgaben sind Leistungen, die von jemandem verlangt werden, der zu dem Verwendungszweck des Geldes ein ganz besonderes Verhältnis hat. Die Erhebung der Sonderabgabe ist die erzwungene Selbsthilfe eines homogenen Personenkreises. Bei den "Sozialversicherungsbeiträgen" bestehen Zweifel, inwieweit sie noch unter den Begriff der "Beiträge" zu bringen sind. Bei ihnen kommt der soziale Ausgleich hinzu, der ein für das allgemeine Beitragsrecht fremdes Element darstellt (v Maydell in Gemeinschaftskommentar zum SGB 4, § 20 Anm 1a RdZiff 8). Demgemäß wird man den Sozialversicherungsbeitrag als eine Sonderform der öffentlich-rechtlichen Abgaben ansehen müssen, also als Sonderabgabe (v Maydell aaO § 20 RdZiff 9; Isensee aaO S 41f; so wohl auch BVerfG 14, 312, 318).
Kennzeichnend für die Sonderabgaben ist gerade, daß sie erhoben werden, um gemeinsame Interessen der homogenen Personengruppe zu fördern, von der sie verlangt werden. Der einzelne muß keinen unmittelbaren Vorteil von der Wiederausschüttung der Mittel haben; er muß aber der Gruppe angehören, deren Vorteil verfolgt wird. Die Umlage nach § 186a ff AFG wird anders als die sonstigen Sozialversicherungsbeiträge nicht vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam erhoben, sondern nur von den Arbeitgebern. Das hat darin seinen Grund, daß mit dieser Art des Sozialversicherungsbeitrags Aufgaben finanziert werden, bei denen das Interesse der Abgabenpflichtigen so im Vordergrund steht, daß die Sonderabgabe entsprechend dem Charakter dieser Abgaben von einem engeren Personenkreis zu verlangen ist (vgl BVerfG NJW 1981, 329). Da somit "Sozialversicherungsbeiträge" ohnehin nicht im strengen Sinne unter den Begriff der "Beiträge" zu bringen sind, kann auch in § 51 Abs 2 SGB 1 dieser Begriff nicht eng verstanden werden. Sozialversicherungsbeiträge iS des § 51 Abs 2 SGB 1 sind vielmehr alle Geldleistungspflichten, die Privaten zur Finanzierung der öffentlichen Leistungsträger der Sozialversicherung auferlegt werden. Auch die Umlage nach § 186a AFG stellt deshalb eine Form des "Sozialversicherungsbeitrages" dar (vgl Schönefeld/Kranz/Wanka, Komm zum AFG, § 186a Anm 2 und 3; Robert Schmidt, in BB 1972, 1232, 1235).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen