Entscheidungsstichwort (Thema)
Verminderte bergmännische Berufsfähigkeit. Schulhausmeister. neue Kenntnisse und Fertigkeiten. Einarbeitungszeit. soziale Betroffenheit. Rechtskraft
Orientierungssatz
1. Ein Hauer, der aus gesundheitlichen Gründen die bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit aufgeben mußte, hat mit Aufnahme einer Schulhausmeistertätigkeit neue Kenntnisse und Fertigkeiten iS von § 86 Abs 2 S 1 RKG dann erworben, wenn er eine drei Monate betragende betriebliche Einweisungs- oder Einarbeitungszeit absolviert hat (vgl BSG 2.8.1979 5 RKn 31/77 = SozR 2600 § 86 Nr 7).
2. Allein aus der Höhe des Entgelts für eine Tätigkeit als Schulhausmeister kann unter dem Gesichtspunkt fehlender "sozialer Betroffenheit" ein Rentenanspruch nicht verneint werden (vgl BSG 31.1.1974 5 RKn 25/72 = SozR 2600 § 86 RKG Nr 1).
3. Der gerichtlichen Nachprüfung eines - negativen - Zugunstenbescheides oder Zweitbescheides steht nicht entgegen, daß der frühere Bescheid durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist, jedenfalls dann nicht, wenn sich die Verwaltung nicht auf die Rechtskraft beruft, sondern nach Überprüfung des dem Antrag zugrunde liegenden Sachverhalts, die Ablehnungsgründe wiederholt (vgl BSG 28.1.1975 10 RV 173/74 = SozR 1500 § 141 Nr 2).
Normenkette
SGG § 141 Fassung: 1953-09-03; RKG § 45 Abs. 2, § 86 Abs. 2 S. 1; RVO § 1286
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 09.06.1983; Aktenzeichen L 2 Kn 127/82) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 04.05.1982; Aktenzeichen S 24 Kn 31/80) |
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit nach § 45 Abs 1 Nr 1 und Abs 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG).
Der 1932 geborene Kläger war von Mai 1946 bis 1961 als Berglehrling, Knappe, Gedingeschlepper, Lehrhauer, Hauer und Grubenlokomotivführer im Steinkohlenbergbau tätig. Im Juli 1971 mußte er die seit 1961 ausgeübte Tätigkeit als Hauer in der Gewinnung aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Mit Bescheid vom 23. Dezember 1971 gewährte ihm die Beklagte die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit nach § 45 Abs 1 Nr 1 und Abs 2 RKG. Diese Rente entzog ihm die Beklagte mit Bescheid vom 7. Juni 1973 nach § 86 Abs 2 RKG, als er ab 1. Juli 1972 die Tätigkeit eines Schulhausmeisters aufnahm. Widerspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos.
Im Juni 1979 beantragte der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag unter Berücksichtigung einer Auskunft der Stadt Düsseldorf vom 16. Juli 1979 und eines medizinischen Gutachtens vom 30. August 1979 mit Bescheid vom 12. Oktober 1979 ab und verneinte mit den bereits im Bescheid vom 7. Juni 1973 genannten Gründen auch den Anspruch auf Bergmannsrente. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 3. April 1980). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung der Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsunfähigkeit verurteilt (Urteil vom 14. Mai 1982), weil für die vollwertige Schulhausmeistertätigkeit eine Einarbeitungszeit von sechs Wochen ausreichend sei und der Kläger somit sein Entgelt für diese Tätigkeit nicht auf Grund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten (§ 86 Abs 2 Satz 1 RKG) erziele.
Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 9. Juni 1983 zurückgewiesen. Der Kläger habe die bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit des Hauers in der Gewinnung aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen und keine körperlich schweren Arbeiten unter Tage mehr ausüben können. Auch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten könne er nicht mehr verrichten, da er den Tätigkeiten oberhalb der Lohngruppe 06 über Tage der Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau entweder gesundheitlich oder von seinen Kenntnissen und Fähigkeiten her nicht gewachsen sei. Die Voraussetzungen des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG habe das SG zutreffend verneint. Der Rentenanspruch scheitere auch nicht an der fehlenden "sozialen Betroffenheit". Denn in den die Bergmannsrente abschließend regelnden Vorschriften der §§ 45 und 86 RKG sei diese Anspruchsvoraussetzung nicht enthalten, und die tarifliche Absicherung der außerknappschaftlichen Tätigkeit als Schulhausmeister könne den hier allein für rechtserheblich erklärten knappschaftlichen Tätigkeiten nicht gleichgestellt werden.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 45 Abs 2, 86 Abs 2 Satz 1 RKG. Die Tätigkeit des Schulhausmeisters setze schon wegen der Aufsicht über die Reinigungskräfte, des Führens von Inventarverzeichnissen und der Ausübung des Hausrechts neue Kenntnisse und Fähigkeiten iS des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG voraus. Der Kläger erziele als Schulhausmeister aber auch ein Entgelt, das den Tariflohn aus seiner bisherigen Tätigkeit kraß übersteige. Daher fehle es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), die wegen der Lohnersatzfunktion auch bei der Bergmannsrente zu beachten sei, an der sozialen Betroffenheit.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Juni 1983 sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14. Mai 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Juni 1983 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger hat auf der Grundlage der vom LSG festgestellten, von der Revision nicht angegriffenen und damit für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen Anspruch auf Bergmannsrente nach § 45 Abs 1 Nr 1 und Abs 2 RKG. § 86 Abs 2 Satz 1 RKG hindert die Rentengewährung nach diesen Feststellungen nicht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (SozR 1500 § 141 Nr 2 mwN, Nr 3) steht der gerichtlichen Nachprüfung eines - negativen - Zugunstenbescheides oder Zweitbescheides nicht entgegen, daß der frühere Bescheid durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist, jedenfalls dann nicht, wenn sich die Verwaltung, wie hier, nicht auf die Rechtskraft beruft, sondern nach Überprüfung des dem Antrag zugrunde liegenden Sachverhalts, die Ablehnungsgründe wiederholt. Die rechtskräftige Bestätigung des Rentenentziehungsbescheides vom 7. Juni 1973 hindert somit die Überprüfung des hier angefochtenen Rentenablehnungsbescheides vom 12. Oktober 1979 nicht.
Vermindert bergmännisch berufsfähig ist nach § 45 Abs 2 RKG der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte weder imstande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit auszuüben, noch andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben auszuüben vermag.
Das LSG hat festgestellt, daß die bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit des Klägers iS des § 45 Abs 2 RKG die Tätigkeit eines Hauers in der Gewinnung war, weil er sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte (vgl BSGE 2, 182), und daß er weder die Hauertätigkeit noch andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben ausüben kann. Diese und auch die übrigen tatsächlichen Feststellungen zieht die Beklagte nicht in Zweifel. Sie stützt die Revision vielmehr allein auf die Rechtsauffassung, mit Aufnahme der Schulhausmeistertätigkeit habe der Kläger neue Kenntnisse und Fähigkeiten iS von § 86 RKG erworben, und es fehle bei ihm an der Anspruchsvoraussetzung der sozialen Betroffenheit. Dieser rechtlichen Beurteilung vermag der Senat nicht zuzustimmen.
Der erkennende Senat hat wiederholt entschieden, daß die in § 86 Abs 2 Satz 1 RKG enthaltene, eine Rentenentziehung rechtfertigende negative Fiktion verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit bereits bei der Rentengewährung anzuwenden ist (vgl BSGE 23, 119 = SozR Nr 3 zu § 86 RKG; SozR Nr 4 zu § 86 RKG; SozR 2600 § 45 Nr 20). Dabei sind als "neue Kenntnisse und Fertigkeiten" solche anzusehen, die zur Verrichtung des Hauptberufs des Versicherten nicht erforderlich sind. Deshalb gehören dazu nicht diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten, über die der Versicherte entweder durch die Ausübung seines Hauptberufes verfügt oder die er bereits von Hause aus besitzt (BSG SozR Nrn 4 und 6 zu § 86 RKG; BSGE 47, 190 = SozR 2600 § 86 Nr 6). Zur letztgenannten Kategorie zählen angeborene Wesensmerkmale, Charaktereigenschaften und Talente, die in ihrer naturgegebenen Existenz ausreichen, eine bestimmte Tätigkeit zu verrichten und nicht erst durch ihre Weiterentwicklung und Anpassung an die konkrete Tätigkeit zum Erwerb notwendiger Berufserfahrungen führen müssen (SozR 2600 § 86 RKG Nr 7). Die zur Verrichtung einer anderen als der "bisherigen knappschaftlichen Arbeit" notwendigen "neuen" Kenntnisse und Fähigkeiten müssen also zB durch eine betriebliche Einweisung oder Einarbeitung erworben sein (Urteil vom 21. Januar 1966, vom 21. Juni 1967, aaO). Diese muß nach der ständigen Rechtsprechung des Senats in der Regel drei Monate betragen, weil neue Kenntnisse und Fertigkeiten in geringfügigem Umfange nicht ausreichen, um gewissen qualitativen Mindestansprüchen an die neue Tätigkeit zu genügen. Hierbei kommt es auf die Dauer der an sich notwendigen und nicht auf die tatsächliche Einarbeitungszeit an (SozR Nr 40 zu § 45 RKG; SozR 2600 § 86 Nrn 1, 3 und 7).
Nach diesen von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Anspruchsvoraussetzungen kann ein ehemaliger Hauer für die Tätigkeit als Schulhausmeister durchaus neue Kenntnisse und Fertigkeiten benötigen. Nach den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG hat hier der Kläger aber die Tätigkeit eines Schulhausmeisters bereits nach nur sechs bis acht Wochen der Einweisung, Einarbeitung und entsprechendem Erfahrungszuwachs vollwertig verrichtet. Es fehlt somit an einer für den Erwerb mehr als geringfügiger neuer Kenntnisse und Fähigkeiten wesentlichen Einweisungs- und Einarbeitungszeit von wenigstens drei Monaten.
Allein aus der Höhe des vom LSG festgestellten Entgelts des Klägers für seine Tätigkeit als Schulhausmeister kann unter dem Gesichtspunkt fehlender "sozialer Betroffenheit" sein Rentenanspruch nicht verneint werden. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen die "neuen" Kenntnisse und Fertigkeiten für die Ausübung der Tätigkeit kausal für den Erwerb des Entgelts sein (vgl SozR 2600 § 86 Nr 1). An dieser Kausalität fehlt es jedoch, wenn nach den unbeanstandeten Feststellungen der Tatsacheninstanz rechtlich wesentliche neue Kenntnisse und Fähigkeiten nicht erworben worden sein können. Eine Rentenentziehung oder Rentenablehnung, die nur auf die Höhe des erworbenen Entgelts abstellt, würde dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufen. Denn er hat einen Rentenentzug allein wegen der Höhe des Entgelts aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in § 86 Abs 2 RKG nicht vorgeschrieben, sondern auf den Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten als Basis des Entgelterwerbs abgestellt.
Es mag sein, daß derzeit sozialpolitische Gründe dafür sprechen, die aus den Besonderheiten des knappschaftlichen Berufslebens resultierende Leistung der Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit dann nicht zu gewähren, wenn der Versicherte mit dem Einkommen aus einer anderen Erwerbstätigkeit in Wirklichkeit keinen wesentlichen Einkommensverlust erleidet oder gar ein höheres Einkommen erzielt. Abgesehen von den Bedenken, die hier gegen den vom LSG vorgenommenen Vergleich des Tariflohnes eines Hauers mit dem effektiv vom Kläger erzielten Entgelt aus der Tätigkeit als Schulhausmeister zu erheben wären, ist es den Gerichten aber bei Beachtung des Verfassungsgrundsatzes der Gewaltenteilung verwehrt, zusätzliche Anspruchsvoraussetzungen aus von ihnen für sozialpolitisch notwendig erachteten Gründen herzuleiten und damit in die Kompetenz des Gesetzgebers einzugreifen. Auf der Grundlage des klaren Gesetzeswortlautes hat der Senat daher wiederholt darauf hingewiesen, daß bei Ausübung einer Tätigkeit, die keine neuen Kenntnisse und Fertigkeiten erfordert, die Bergmannsrente selbst dann zu gewähren bzw weiterzuzahlen ist, wenn der Versicherte ein seiner Rentenbemessungsgrundlage entsprechendes oder höheres Entgelt erzielt (vgl SozR 2600 § 86 Nrn 1 und 7). Wenn der Gesetzgeber gleichwohl an der bestehenden Regelung festgehalten hat, besteht erst recht kein Anlaß, die bisherige Rechtsprechung in Zweifel zu ziehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen