Leitsatz (amtlich)
Ein selbständiger Handwerker, der bisher ohne Gehilfen - im sogenannten Einmannbetrieb - gearbeitet hat, ist berufsunfähig, wenn er die körperlichen Arbeiten, die zu seinem Handwerk gehören, nur noch unter Mithilfe eines Gesellen oder Gehilfen verrichten kann.
Normenkette
HwAVG § 1; AVG § 27 Fassung: 1934-05-17
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Juni 1954 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger, 54 Jahre alt, ist Ofensetzer. Er hat als selbständiger Handwerksmeister Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet und im Januar 1951 Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit beantragt. Die Landesversicherungsanstalt Ober- und Mittelfranken, die damals die Aufgaben der Angestelltenversicherung wahrnahm, lehnte den Antrag durch Bescheid vom 17.April 1951 ab, weil die beim Kläger festgestellte "Neurasthenie mit neurotiertem Überlagerungszustand nach Blinddarm- und Bruchoperation" keine Berufsunfähigkeit bedinge.
Das Oberversicherungsamt Nürnberg hat die dagegen eingelegte Berufung des Klägers durch Urteil vom 4.Februar 1953 zurückgewiesen.
Das Bayerische Landessozialgericht hat die "Beschwerde" des Klägers gegen dieses Urteil als Berufung aufgefaßt und sie durch Urteil vom 15.Juni 1954, das dem Kläger am 21.Oktober 1954 zugestellt wurde, zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, ein Handwerker sei erst dann berufsunfähig, wenn er entweder seinen Betrieb nicht mehr leiten könne oder sein Gesundheitszustand ihm die körperliche Mitarbeit verwehre, so daß er nicht mehr Lehrlinge auszubilden und mit Gehilfen zu arbeiten vermöge. Die erstgenannte Fähigkeit, nämlich den Betrieb leiten zu können, habe der Kläger noch. Fraglich sei es, ob er wegen seines Gesundheitszustandes, der vorwiegend durch ein Herzleiden, Verwachsungsfolgen und Rheuma erkennbar angegriffen sei, auch noch die anfallenden körperlichen Arbeiten verrichten könne. Die Tätigkeit als Ofensetzer, die mit Heben und Tragen schwerer Gegenstände verbunden sei, könne der Kläger auf die Dauer in zumutbarer Weise kaum mehr allein verrichten. Dies bedinge aber noch keine Berufsunfähigkeit. Auszugehen sei nicht vom sog. "Einmannbetrieb", obschon in Bayern die Ofensetzer zu mehr als 50 v.H. ohne Gehilfen arbeiteten, sondern von einer Ofensetzertätigkeit, wie sie üblicherweise in größeren Gemeinden ausgeübt werde. Dort arbeite der Meister nicht überwiegend allein. Es bestünden auch Ausweichmöglichkeiten auf ähnlich geartete Tätigkeiten der gleichen Berufsart. In Frage kämen insbesondere das Legen von Anschlüssen, das Einrichten von Elektrokachelöfen und von Warmluftheizungen sowie Reparaturen und Reinigungsarbeiten aller Art. Innerhalb dieses Rahmens sei der Kläger nicht als berufsunfähig anzusehen, weil er diese Arbeiten, gegebenenfalls unter Mithilfe von Gesellen, ausüben könne. Eine derartige Verweisung setze den Erwerb neuer Kenntnisse nicht notwendig voraus. Auch die als Handwerker Versicherten müßten sich wie die versicherten Unselbständigen auf andere gleichartige Tätigkeiten verweisen lassen. Sie wären nicht schon deshalb berufsunfähig, weil der Gesundheitszustand die Weiterführung eines Einmannbetriebes nicht mehr gestatte.
Das Landessozialgericht ließ die Revision zu. Der Kläger hat am 19.November 1954 Revision eingelegt, sie am 20.Dezember 1954 begründet und die Verletzung der §§ 27 AVG und 1254 RVO gerügt: Der Hinweis auf eine Ofensetzer-Tätigkeit mit einem Gehilfen und auf leichtere Arbeiten in der gleichen Berufsart berücksichtige nicht die besonderen persönlichen und örtlichen Verhältnisse. Sein Geschäft werfe nicht so viel ab, um einen Gehilfen entlohnen zu können. Einen Lehrling könne er nicht ausbilden, weil er nicht in der Lage sei, ihm die Arbeiten vorzuzeigen. Sein Wohnort sei eine Kreisstadt von 2.500 Einwohnern und liege in dem armen Gebiet des Steigerwaldes. Ausweichmöglichkeiten beständen nicht. Auch gäbe es bei einem Ofensetzer keine verwandten Tätigkeiten. Die Verweisung eines Handwerkers auf eine unselbständige Tätigkeit stelle eine unbillige Härte dar. Er beantrage, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und der Klage stattzugeben, hilfsweise, die Urteile aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Sozialgericht Nürnberg zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Die Gründe des angefochtenen Urteils überzeugten. Wenn es in der Heimatgemeinde des Klägers nicht die Ausweicharbeiten gäbe, die der Kläger nach den Feststellungen des Landessozialgerichts noch verrichten könne, dann müßte er einen Ortswechsel vornehmen. Ein solcher Wechsel sei heute wieder, nachdem die Zuzugsbeschränkungen weggefallen seien, zumutbar.
Die Revision ist statthaft und frist- und formgerecht eingelegt worden. Sie ist teilweise begründet.
Die Gewährung von Ruhegeld an den Kläger hängt, weil die Wartezeit in der Angestelltenversicherung erfüllt und seine Anwartschaft erhalten ist, allein davon ab, ob er berufsunfähig ist (§ 1 HVG, § 26 AVG). Dies wäre er - mangels einer besonderen Vorschrift über die Berufsunfähigkeit selbständiger Handwerker -, wenn seine Arbeitsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken wäre (§ 1 HVG, § 27 AVG). Das Landessozialgericht hat hierzu in seinem Urteil festgestellt, der Kläger könne seinen Handwerksbetrieb noch leiten und leichtere körperliche Arbeiten ausführen. Die für einen Ofensetzer anfallenden schweren körperlichen Arbeiten seien ihm aber infolge seiner Leiden nicht mehr allein zuzumuten. Diese Arbeiten und die genannten leichteren Ausweicharbeiten könne er aber zusammen mit einem Gehilfen verrichten.
Diese Feststellungen reichen nicht aus, um daraus auf die Berufsfähigkeit des Klägers schließen zu können.
Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit eines Handwerkers gilt das Recht der Angestelltenversicherung entsprechend. Bei einer nur entsprechenden Anwendung dieses Rechts ist zu beachten, daß die Handwerkerversicherung eine berufsständische Versicherung besonderer Art ist. Sie unterstellt den Handwerker nicht als Erwerbstätigen irgendeiner Art der Versicherung, sondern gerade in seiner Eigenschaft als Handwerker. Die Eigenart selbständiger handwerklicher Berufsausübung muß deshalb berücksichtigt werden. Sie besteht darin, daß im Handwerk Kapital und Arbeit eine organische Einheit bilden. Die Erzeugungsmittel sind in der Regel Eigentum des Meisters. Seine Tätigkeit übt er im wesentlichen mit der Hand unter Benutzung von Werkzeugen und Gerätschaften aus. Im Handwerk ist die individuelle Handanfertigung im Gegensatz zur industriellen Massenerzeugung kennzeichnend geblieben. Zum Handwerksbetrieb gehört heute neben dem Bearbeitungs- und Verarbeitungsgewerbe regelmäßig auch Umsatzgewerbe. Auch der Kläger betreibt einen kleinen Ofenhandel. Aus dieser Verbindung folgt, daß der selbständige Handwerker sowohl leitende und kaufmännische Tätigkeiten als auch körperliche Arbeiten verrichten muß. Ob im Einzelfall die eine oder die andere Tätigkeit tatsächlich überwiegt oder - je nach dem Umfang des Betriebs, ob handwerklicher Großbetrieb oder wie beim Kläger Einmannbetrieb - vielleicht sogar praktisch entfällt, ist unerheblich. Der Handwerker muß in jedem Fall die Fähigkeiten besitzen, beide Arten von Tätigkeiten ausüben zu können. Das bedeutet für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit, daß bei den selbständigen Handwerkern sowohl die körperliche als auch die geistige Leistungsfähigkeit entscheidend sind. Diese Handwerker sind deshalb berufsunfähig, wenn sie in ihrem Handwerk die wesentlichen körperlichen und geistigen oder auch nur eine dieser Tätigkeiten nicht mehr oder nicht mehr in hinreichendem Umfang ausüben können (so auch das Bayerische Landesversicherungsamt in den Entscheidungen vom 24.2. und 9.11.1950, Breithaupt 1950 S.558 und 1951 S.196; im Ergebnis wohl auch das Oberversicherungsamt Düsseldorf in der Entscheidung vom 10.11.1949, Breithaupt 1950 S.561). Danach ist die Fähigkeit des Klägers, seinen Betrieb noch leiten, ohne aber zugleich die wesentlichen körperlichen Arbeiten verrichten zu können, für sich allein nicht geeignet, daraus seine Berufsfähigkeit herzuleiten. Die Berufsfähigkeit darf auch nicht mit der Möglichkeit der Zuziehung eines Gehilfen begründet werden. Eine solche Auffassung wird der Persönlichkeit eines Handwerkers nicht gerecht. Der Handwerker muß in seiner Person die Fähigkeiten zu den genannten geistigen und körperlichen Tätigkeiten besitzen. Er ist versichert, nicht sein Betrieb. Er darf deshalb nicht darauf hingewiesen werden, eine dieser Tätigkeiten durch einen anderen, nämlich einen Gehilfen, ausüben zu lassen. Das bedeutete, daß erst zwei Personen, nämlich der Handwerker und sein Gehilfe, zusammen die Fähigkeiten besäßen, die gerade wesentlich für einen Handwerker, also eine Person, sind. Der Handwerker mag Gehilfen beschäftigen, wenn die Größe seines Betriebs es erlaubt; er darf dazu nicht genötigt werden, um sein Unvermögen zu selbständiger handwerklicher Betätigung zu beheben.
Das Landessozialgericht geht zwar auch von der erwähnten Rechtsprechung des früheren Bayerischen Landesversicherungsamts aus und schließt sich dessen Auffassung an, daß ein selbständiger Handwerker als berufsunfähig angesehen werden müsse, wenn er wegen seines Gesundheitszustandes nicht mehr körperlich mitarbeiten könne. Nach den tatsächlichen Feststellungen im Urteil liegt diese Voraussetzung bei dem Kläger hinsichtlich der Tätigkeit als Ofensetzer vor. Das Landessozialgericht sieht diesen Mangel offenbar aber bereits durch die - theoretische - Möglichkeit der Beschäftigung eines Gehilfen als ausgeglichen an. Damit verkennt es den Begriff der Berufsunfähigkeit in der Handwerkerversicherung.
Die Unfähigkeit des Klägers, die körperlichen Arbeiten eines Ofensetzers ausführen zu können, begründet allein noch nicht seine Berufsunfähigkeit. Bei deren Beurteilung kommt es, wie auch das Landessozialgericht ausgeführt hat, nicht darauf an, ob der Kläger seinen bisherigen Beruf nicht mehr auszuüben vermag, sondern darauf, ob seine Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten seiner Berufsgruppe, d.h. seines Handwerks, herabgesunken ist. Hierzu hat das Landessozialgericht festgestellt, daß der Kläger noch leichtere körperliche Arbeiten verrichten könne und in der Lage sei, Anschlüsse zu legen, Elektrokachelöfen und Warmluftheizungen einzurichten sowie Reparaturen und Reinigungsarbeiten auszuführen, "gegebenenfalls unter Mithilfe von Gesellen". Auch in diesem Zusammenhang liegt in dem Hinweis auf die Möglichkeit der Zuziehung von Gehilfen eine unrichtige Beurteilung der Berufsunfähigkeit eines Handwerkers.
Das Urteil des Landessozialgerichts war aus diesen Erwägungen heraus aufzuheben. Eine endgültige Sachentscheidung schon jetzt ist jedoch nicht möglich, weil noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind (§ 170 Abs.2 SGG). Es ist bisher nicht ausreichend geklärt, zu welcher Berufsgruppe der Kläger als Ofensetzer gehört und welches die wesentlichen Tätigkeiten dieser Berufsgruppe sind. Dies könnte durch Anhören eines Vertreters der Handwerkskammer oder der Innung des Klägers geschehen. Sodann müßte geprüft werden, welche dieser Tätigkeiten der Kläger noch allein, also ohne Zuziehung eines Gesellen, Gehilfen oder Lehrlings verrichten kann. Dabei wird das Gericht zu überlegen haben, ob es nicht angebracht erscheint, ein neues Gutachten über den Gesundheitszustand des Klägers einzuholen.
Die Gutachten, auf die sich das Urteil stützt, beurteilen den Schwerpunkt der Leiden des Klägers unterschiedlich. Sie liegen auch längere Zeit zurück, während die Krankheiten des Klägers möglicherweise fortschreiten. Je nach dem Ausgang dieser Beweiserhebungen muß dann möglicherweise geprüft werden, welche rechtliche Bedeutung dem Vorbringen des Klägers zukommt, Tätigkeiten auf die er verwiesen werden und die er gesundheitlich ausüben könne, gäbe es in seiner Heimatstadt nicht. Erst danach kann über die Berufsfähigkeit des Klägers abschließend entschieden werden.
Der Rechtsstreit geht an das Bayerische Landessozialgericht zurück. Eine Zurückverweisung an das Sozialgericht Nürnberg, wie sie der Kläger beantragt hat, ist nicht zulässig (§ 170 Abs.2 SGG).
Über die Kosten des Rechtsstreits, einschließlich der des Revisionsverfahrens, wird das Landessozialgericht mit entscheiden.
Fundstellen