Leitsatz (amtlich)
Die Berufsfähigkeit eines selbständigen Handwerkers in einem höchstens mittelgroßem Betrieb ist danach zu beurteilen, ob er "sein Handwerk" in der diesem eigentümlichen Kopplung von handwerklichen, technischen, organisatorischen und kaufmännischen Tätigkeiten noch so ausüben kann, daß seine Leistung der Hälfte der Leistung eines vergleichbaren gesunden Handwerkers entspricht. Es kommt nicht darauf an, ob der Handwerker wegen seiner kaufmännischen und organisatorischen Fähigkeiten noch Unternehmer eines Betriebes sein kann und wie hoch dessen Ertrag ist.
Normenkette
AVG § 27 Fassung: 1934-05-17; HwAVG § 1 Fassung: 1938-12-21
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. Juni 1959 wird aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 11. Januar 1957 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger (geboren 1905) die Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten (AnV) mit Recht entzogen hat.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts ist der Kläger seit dem Jahre 1933 selbständiger Schreinermeister; er hat einen mittelgroßen durchschnittlich ausgestatteten Betrieb, in dem mehrere Gehilfen beschäftigt werden (1956 waren es nach seinen Angaben fünf Gesellen und zwei Lehrlinge, 1958/59 noch drei Gesellen). In dem Betrieb werden vorwiegend Bauschreinerarbeiten ausgeführt. Vom 1. November 1948 an erhielt der Kläger, der Beiträge zur AnV auf Grund des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk (HVG) vom 21. Dezember 1938 (RGBl I, 1900) entrichtet hat, die Rente aus der AnV wegen vorübergehender Berufsunfähigkeit, nachdem er im Jahre 1947 einen Arbeitsunfall erlitten hatte, der zum Verlust der linken Hand geführt hatte. Der Rentenbewilligung lag ein ärztliches Gutachten zugrunde, nach dem beim Kläger (1948) außer dem Verlust des Endgliedes des rechten Zeigefingers und starkem Stottern ein Zustand nach Krukenberg-Plastik des linken Unterarms mit noch ziemlich ungenügender Bewegungs- und Zugreifmöglichkeit vorlag.
Mit der Begründung, es sei eine weitgehende Gewöhnung und Anpassung an den Teilverlust des linken Unterarms eingetreten, entzog die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats Februar 1956 (Bescheid vom 28. Januar 1956).
Das Sozialgericht Dortmund hob den Entziehungsbescheid auf und verurteilte die Beklagte zur Weiterzahlung der Rente: Der Kläger könne die für sein Handwerk wesentlichen körperlichen Arbeiten nicht mehr verrichten; dieses Unvermögen könne auch nicht durch die ihm verbliebene Fähigkeit zu leitender und kaufmännischer Tätigkeit ausgeglichen werden (Urteil vom 11.Januar 1957).
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hob das Urteil des Sozialgerichts auf und wies die Klage ab; es ließ in seinem Urteil die Revision zu, weil über die Frage der Berufsunfähigkeit eines Handwerkers abweichend von der Entscheidung in BSG 2, 91 entschieden worden sei. Die Entziehung der Rente sei nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in Verbindung mit § 1293 Abs. 1 und Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (beide Gesetze in der bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Fassung) gerechtfertigt. Nach den Gutachten der berufskundigen und medizinischen Sachverständigen sei der Kläger zwar zu einer Reihe von körperlichen, für die Ausübung seines Bauschreinerhandwerks wesentlichen Arbeitsverrichtungen nicht mehr hinreichend imstande, doch sei er deshalb nicht berufsunfähig, seine körperliche Versehrtheit sei, von der Gesamtsituation her gesehen, für seine Tätigkeit als Handwerksmeister nicht "wesentlich"; Arbeits- und Einkommensformen von Arbeitnehmern und von selbständigen Handwerkern unterschieden sich derart, daß die Inhaltsbestimmung des Begriffs der Berufsunfähigkeit davon nicht unberührt bleiben könne; obwohl der Handwerker und nicht sein Betrieb versichert sei, könne das unternehmerische Element bei der Rentenversicherung selbständiger Handwerker nicht außer Betracht bleiben; dem Selbständigen gelänge es eher durch ein erhöhtes Maß von Gedankenarbeit, durch planvolle Organisation und Betriebsgestaltung die körperlichen Schwächen und Schäden, die seiner Person anhaften, zu überbrücken; das sei auch beim Kläger so, er habe sich auf den Ausfall seiner linken Hand eingestellt und sich insgesamt an die veränderte Situation aktiv angepaßt; dies bezeuge der tatsächlich anhaltende Erfolg, den er mit seinem Handwerksbetrieb erziele (Urteil vom 30. Juni 1959).
Der Kläger legte gegen das ihm am 3. August 1959 zugestellte Urteil am 1. September 1959 Revision ein mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Er begründete die Revision (nach Verlängerung der Frist hierfür bis zum 3. November 1959) am 2. November 1959: Das Landessozialgericht habe den Begriff der Berufsunfähigkeit bei Handwerkern unrichtig ausgelegt. Auch heute noch überwiege im Handwerksbetrieb die körperliche Initiative und Tätigkeit, der Ausfall körperlicher Funktionen könne nicht durch geistige Fähigkeiten kompensiert werden; selbst wenn dies möglich sei, bliebe er berufsunfähig, weil er auch in seinen geistig-kaufmännischen Fähigkeiten beeinträchtigt sei; zu diesem Punkt habe das Landessozialgericht überhaupt jede sachliche Aufklärung unterlassen.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet; die Beklagte durfte dem Kläger die Rente aus der AnV nicht entziehen.
Der Bescheid der Beklagten ist im Januar 1956 ergangen. Die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung ist deshalb noch nach dem damals geltenden Recht (§ 1 Abs. 1 Satz 2 HVG in Verbindung mit §§ 42, 27 AVG, 1293 RVO aF) zu beurteilen. Das zum 1. Januar 1957 in Kraft getretene Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) hat insoweit an der Rechtslage nichts geändert (vgl. BSG im SozR Bl. Aa 4 Nr. 5 zu § 1293 RVO). Ebensowenig wird der vorliegende Rechtsstreit von den Vorschriften des zum 1. Januar 1962 in Kraft getretenen Handwerkerversicherungsgesetzes vom 8. September 1960 (BGBl I, 737) berührt. Von dieser Rechtslage ist auch das Landessozialgericht ausgegangen. Es hat zutreffend angenommen, daß die Beklagte bei der Entziehung der Rente sowohl von § 1293 Abs. 1 wie auch von § 1293 Abs. 2 RVO aF in Verbindung mit § 42 AVG aF Gebrauch machen könne und daß sie zu dieser Maßnahme befugt sei, wenn der Kläger zur Zeit der Entziehung nicht berufsunfähig im Sinne von § 27 AVG aF sei. Die weitere Annahme des Landessozialgerichts, daß dieser Tatbestand verwirklicht sei, trifft aber nicht zu.
Nach der Rechtsprechung des Senats ist ein Handwerker berufsunfähig, wenn er in seinem Handwerk die wesentlichen körperlichen und geistigen Tätigkeiten oder auch nur eine dieser Tätigkeiten nicht mehr oder nicht mehr in hinreichendem Umfang, insbesondere nicht ohne Zuziehung von Hilfspersonen ausüben kann (BSG 2, 91). Nach den Feststellungen, die das Landessozialgericht nach Anhörung berufskundiger und medizinischer Sachverständiger getroffen hat, kann der Kläger wegen des Verlustes der linken Hand trotz Versorgung mit einer Krukenberg-Plastik eine Reihe von körperlichen, für die Ausübung des Bauschreinerhandwerks wesentlichen Arbeitsverrichtungen nicht mehr hinreichend ausüben; es fehlen ihm, wie das Landessozialgericht ausdrücklich sagt, gerade die für sein Handwerk entscheidenden Handfertigkeiten. Danach sind die Voraussetzungen gegeben, die nach der Rechtsprechung des Senats bei einem selbständigen Handwerker zur Bejahung der Berufsunfähigkeit führen. Dies verkennt das Landessozialgericht nicht; es meint jedoch, den Begriff der Berufsunfähigkeit beim Kläger anders auslegen zu müssen, weil die körperliche Versehrtheit eines Handwerkers sich auf seinen Betrieb nicht immer nachteilig auswirke und von der Gesamtsituation her gesehen für seine Tätigkeit nicht entscheidend sei.
Der Senat sieht auch bei Würdigung der im Urteil des Landessozialgerichts gegebenen Begründung keinen Anlaß, seine bisherige Rechtsprechung aufzugeben oder zu ändern. Der teilweise Wegfall oder das Nachlassen der körperlichen Leistungskraft und Handfertigkeit hat zwar bei einem selbständigen Handwerker nicht immer die gleiche Bedeutung für die weitere Berufsausübung wie etwa bei einem unselbständigen Gehilfen sogar desselben Handwerks, doch kommt es auch nicht nur darauf an, "ob der Handwerker sich aus und mit seinem Betrieb noch selbst hinlänglich versorgen kann". Der selbständige Handwerker ist zwar auch Unternehmer eines Betriebes; er ist es aber als Handwerker, d.h. als Angehöriger eines Berufsstandes, zu dem nur solche Personen Zugang erhalten, die über ein besonders hohes Maß körperlicher Geschicklichkeit und Leistungsfähigkeit verfügen. Selbständig ausüben darf das Handwerk nur, wer in die Handwerksrolle eingetragen ist, wofür im Regelfall die Ablegung der Meisterprüfung vorausgesetzt wird (§§ 1, 7 und 41 der Handwerksordnung vom 17. September 1953 - BGBl I, 1411 -). Die Eintragung in die Handwerksrolle ist auch Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Handwerkerversorgung (§ 1 Abs. 2 HVG). Für die Frage der Berufsfähigkeit ist deshalb darauf abzustellen, ob der ... Handwerker die nach den handwerklichen Vorschriften für seine Qualifikation erforderlichen Leistungen, darunter auch die zu seinem Handwerk gehörenden körperlichen Arbeiten im wesentlichen noch selbst zu erbringen vermag. Dagegen ist der Gewerbeertrag allein kein Maßstab für die Beurteilung der Berufsfähigkeit eines Handwerkers, denn der Ertrag kann sinken oder steigen, ohne daß dafür die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit des Handwerkers ausschlaggebend wäre, weil der Ertrag von allen Einflüssen der Konjunktur und der jeweiligen Wettbewerbslage abhängig ist.
Es kann dahinstehen, welche Maßstäbe etwa dann anzulegen sind, wenn der Handwerksbetrieb eines selbständigen Meisters sich im Laufe der Zeit zu einem mehr industriellen Betrieb oder zu einem vorwiegend als Handelsbetrieb anzusprechenden Unternehmen entwickelt hat. Denn nach den Feststellungen des Landessozialgerichts erreicht der Bauschreinereibetrieb des Klägers kaum den Umfang mittlerer Betriebe dieses Handwerkszweiges und unterscheidet sich auch in seiner Struktur nicht von solchen Handwerksbetrieben. Für Betriebe dieser Art und Größe ist aber die körperliche Mitarbeit des Meisters kennzeichnend. Ist aber der Meister in den typischen Verrichtungen seines Handwerks in so hohem Maße eingeschränkt, wie es der Kläger nach den Feststellungen des Landessozialgerichts und den diesen Feststellungen zugrunde liegenden ärztlichen und technischen Gutachten ist, dann ist er auch nicht berufsfähig. Es kommt nicht darauf an, ob ein solcher Meister wegen seiner kaufmännischen und organisatorischen Fähigkeiten noch Unternehmer eines Betriebes sein kann, sondern darauf, ob er "sein Handwerk" in der diesem eigentümlichen Koppelung von handwerklichen, technischen, organisatorischen und kaufmännischen Tätigkeiten noch so ausüben kann, daß seine Leistung - nicht ihr Ertrag - der Hälfte der Leistung eines vergleichbaren voll gesunden Handwerkmeisters entspricht. Das ist beim Kläger aber nicht der Fall.
Einer Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht zu weiteren Ermittlungen darüber, ob der Kläger etwa auf andere Tätigkeiten innerhalb seiner Berufsgruppe verwiesen werden kann, bedarf es nicht. Der Senat kann nach Lage des Falles davon ausgehen, daß der Kläger auch in einem benachbarten handwerklichen Beruf - insbesondere wegen des Verlustes der linken Hand - nicht leistungsfähiger ist als in seinem bisherigen Handwerk. Auch eine Verweisung etwa auf die Tätigkeit eines Werkmeisters oder auf eine ähnliche gehobene Angestelltentätigkeit kommt - wenn überhaupt auf eine unselbständige Arbeit verwiesen werden kann - nicht in Betracht. Der Kläger ist nicht nur durch den Verlust der linken Hand und der rechten Zeigefingerkuppe beeinträchtigt, er leidet auch an einem erheblichen Sprachfehler (starkes Stottern). Unter Berücksichtigung auch dieses Gebrechens kommt er für eine Tätigkeit in einem fremden Betrieb, bei der er andere Arbeitnehmer zu überwachen und anzuweisen hätte, nicht in Betracht.
Das Urteil des Landessozialgerichts muß deshalb aufgehoben und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen