Orientierungssatz
Zum Umfang der Ermittlungen bei der Prüfung von Verweisungsmöglichkeiten für einen Friseur.
Normenkette
SGG §§ 103, 128 Abs. 1
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 06.07.1972) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 6. Juli 1972 aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in der Sache selbst darüber, ob dem Kläger, einem gelernten Friseur, Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) zu gewähren ist.
Die Beklagte lehnte es ab, dem am 1. Februar 1918 geborenen Kläger - dieser erlernte 1932 bis 1936 das Friseurhandwerk, legte die Gesellenprüfung ab, war bis 1939 Friseurgehilfe, bestand 1942 die Meisterprüfung als Friseur und war seit 1945 selbständiger Friseurmeister, war von 1957 bis 1967 an Lungentuberkulose erkrankt und deshalb in dieser Zeit nicht berufstätig, arbeitete 1967 drei Wochen lang in einer Kugelschreiberfabrik und danach wieder als selbständiger Friseurmeister - eine von ihm beantragte Versichertenrente zu gewähren (Bescheid vom 3. Juli 1969): Trotz vorhandener Leiden sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken. Der Kläger könne insbesondere noch ganztags leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen, z. B. als Perückenmacher, verrichten; er sei deshalb noch nicht berufsunfähig. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides verurteilt, dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. April 1968 zu gewähren (Urteil vom 13. August 1970). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen (Urteil vom 6. Juli 1972).
Die Beklagte hat gleichwohl Revision eingelegt, mit der sie Verletzung der §§ 103, 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) rügt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 6. Juli 1972 aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheidet.
Entscheidungsgründe
Auf die begründete Revision der Beklagten ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das Berufungsgericht, das den Kläger als gelernten, langjährig erfahrenen Friseur, wenn auch nicht als Friseurmeister, beurteilt hat, hat den Kläger, insbesondere weil er nicht imstande sei, wie dies der Friseurberuf erfordere, zu stehen, wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht mehr für fähig gehalten, auch nur halbtags als Friseur tätig zu sein. Das LSG hat es auch abgelehnt, den Kläger auf Tätigkeiten als Perückenmacher, Maniküre oder in einen anderen Lehr- oder Anlernberuf zu verweisen, und ihn für berufsunfähig erklärt. Zu der vom Berufungsgericht erwogenen Verweisung auf eine Tätigkeit als Perückenmacher hat es ausgeführt, eine derartige Tätigkeit gehöre zwar grundsätzlich zum Beruf des Friseurs, jedoch würden Perücken, wie die Beweisaufnahme ergeben habe, in der Regel fabrikmäßig hergestellt; die Tätigkeit des Friseurs beschränke sich auf das Anpassen und Maßnehmen, also auf Tätigkeiten, die wiederum meist im Stehen ausgeübt werden müßten.
Dem hält die Beklagte mit der Revision entgegen, das LSG habe ungeprüft gelassen, inwieweit der Kläger aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten als Friseur bei der fabrikmäßigen Herstellung von Perücken einsatzfähig sei, weil es sich mit der Feststellung begnügt habe, Perücken würden heute regelmäßig in Fabriken hergestellt und ein Friseur sei in seiner Tätigkeit nur noch auf das Anpassen und Maßnehmen beschränkt. Hier habe aber die Sachaufklärung des Berufungsgerichts einsetzen müssen. Es sei verpflichtet gewesen, festzustellen, ob in derartigen Fabriken Arbeitsplätze für den Kläger vorhanden seien, weil auch bei fabrikmäßiger Herstellung von Perücken immer noch überwiegend handwerkliche Künste für das Anfertigen der einzelnen Perücken erforderlich seien, wobei Perücken und Haarteile auch im Sitzen angefertigt werden könnten. Das LSG hätte sich daher gedrängt sehen müssen, weitere Ermittlungen darüber anzustellen, in welcher Anzahl solche Haar- und Perückenfabriken vorhanden seien und wieviel Friseure dort regelmäßig beschäftigt werden, welche Tätigkeiten dabei zu verrichten sind und ob diese auch im Sitzen ausgeübt werden können.
In der Tat hat das LSG, wie dies die Beklagte mit der Revision zutreffend rügt, seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 103 SGG) nicht voll wahrgenommen. Wenn es, was rechtlich durchaus zu billigen ist, dem Gedanken Raum gegeben hat, den Kläger u. a. auf eine unselbständige Tätigkeit als Perückenmacher zu verweisen, durfte es nicht bei der Sachermittlung des SG stehenbleiben. Denn diese war, wenn man die Auskunft des Obermeisters P der Friseur-Innung-D - Stadt- und Landkreis - vom 6. Juli 1970 (Bl. 26 der SG-Akten) zugrundelegt, ersichtlich von der Vorstellung der Tätigkeit für die Perückenanfertigung in einem Friseurgeschäft, also nicht in einer Fabrik, im Raum Darmstadt - Erbach beherrscht. Das LSG hätte indes von seiner Rechtsauffassung aus - es hat sich zwar dazu nicht ausdrücklich erklärt, jedoch läßt das Fehlen einer räumlichen Einschränkung des Verweisungsgebiets den Schluß zu, daß es von einer Verweisbarkeit im gesamten Bundesgebiet ausgegangen ist - Feststellungen dazu treffen müssen, ob und in welchem Umfang es für Perückenmacher Arbeitsplätze im gesamten Bundesgebiet sowohl in Handwerks- als auch Fabrikbetrieben gibt, ob hierfür die Kenntnisse und Fähigkeiten eines gelernten und berufserfahrenen Friseurs erforderlich sind und ob die Perückenmacherarbeiten auch - sei es uneingeschränkt oder teilweise - im Sitzen ausgeübt werden können. Eine Sachaufklärung in dieser Richtung hätte auch die Frage nach dem Arbeitsentgelt miteinschließen müssen. Da das LSG eine derartige Ermittlung unterlassen hat, hat es seiner Amtsaufklärungspflicht (§ 103 SGG) nicht voll genügt; zugleich hat es aber, indem es seine Beweiswürdigung auf nur unzulängliche Beweise gestützt hat, die Vorschrift des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, wie dies die Revision ebenfalls zutreffend rügt, verletzt.
Da diese von der Revision gerügten Verfahrensfehler vorliegen, ist die Revision der Beklagten begründet und statthaft, ohne daß es erforderlich ist, auf die weiteren Verfahrensrügen der Revision einzugehen.
Da die zur Sachentscheidung erforderlichen Feststellungen zur Verweisungstätigkeit eines Perückenmachers fehlen, kann das Revisionsgericht in der Sache selbst nicht entscheiden; die erforderlichen Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben. Dabei wird es zweckmäßigerweise auch den bisherigen Hinweisen der Beklagten nachgehen. Gegebenenfalls wird ein berufskundlicher Sachverständiger zu Rate zu ziehen sein.
Sollten sich Gründe dafür ergeben, daß die Verweisungstätigkeit eines Perückenmachers dem Kläger versperrt ist, wird das LSG alsdann sein Augenmerk darauf zu richten haben, ob der Kläger unter Beachtung der in dem Urteil des erkennenden Senats vom 30. November 1972 (12 RJ 118/72) enthaltenen Grundsätze auf weitere Tätigkeiten zumutbar verwiesen werden kann. Es kommen dann Tätigkeiten in Betracht, die zwar lediglich eine kürzere betriebliche Einweisung und Einarbeitung auch außerhalb der mit dem bisherigen Beruf verwandten Tätigkeiten erfordern, die sich aber andererseits aus dem allgemeinen Kreis der ungelernten Tätigkeiten besonders hervorheben, z. B. durch ihre Bedeutung und ihr Ansehen im Betrieb oder durch ihre tarifliche Einstufung.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen