Leitsatz (amtlich)
Ergibt sich nach Schluß der mündlichen Verhandlung ein triftiger Grund für eine Wiedereröffnung, so hat das Gericht - nicht der Vorsitzende allein - über die Wiedereröffnung zu befinden und bei Ablehnung die angestellten Erwägungen bekanntzugeben.
Normenkette
SGG § 121 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. Februar 1973 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Mit der Klage hat der Kläger den Bescheid vom 1. August 1968 angefochten, durch den die Beklagte seinen Antrag auf Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit abgelehnt hatte. Die Klage ist im ersten und zweiten Rechtszuge ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision nicht zugelassen.
Der Kläger hat gleichwohl das Rechtsmittel eingelegt. Er beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. An dem Verfahren vor dem Berufungsgericht hat er zu beanstanden, daß das LSG nicht aufgrund mündlicher Verhandlung sondern in der Annahme, der Kläger sei im Termin zur Berufungsverhandlung nicht erschienen und auch nicht vertreten, nach Lage der Akten entschieden habe. - Die mündliche Verhandlung war auf den 21. Februar 1973, 9.00 Uhr, anberaumt worden. In der Sitzungsniederschrift ist festgehalten, daß in der Sache des Klägers die Verhandlung um 9.01 Uhr begann und der Vorsitzende um 9.07 Uhr die mündliche Verhandlung für geschlossen erklärte, nachdem weder der Kläger noch sein Prozeßbevollmächtigter sich auf einen wiederholten Aufruf hin gemeldet hatten und der Vertreter der Beklagten Aktenlageentscheidung beantragt hatte. Um 9.08 Uhr traf der Anwalt des Klägers ein. Zu dieser Zeit hatte das Gericht sich bereits zur Beratung zurückgezogen. Nach der Beratung bemängelte der Anwalt, daß ihm nicht eine Wartefrist von 15 Minuten eingeräumt worden sei. Der Vorsitzende verkündete indessen das angefochtene Urteil. - Die Revision meint, bei dieser Sachlage sei der Tatbestand des Nichterscheinens (§ 126 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) nicht verwirklicht gewesen. Ein Termin sei dann nicht versäumt worden, wenn ein Beteiligter nach Abschluß der mündlichen Verhandlung seine Anwesenheit und Verhandlungsbereitschaft bekunde. Jedenfalls aber hätte das Gericht unter den obwaltenden Umständen die mündliche Verhandlung wiedereröffnen müssen.
Die Beklagte hat in diesem Rechtszuge keinen Antrag gestellt.
Die Revision ist zulässig. Mit ihr hat der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel formgerecht geltend gemacht (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Es kann dahingestellt bleiben, was unter dem "Ausbleiben" eines Beteiligten "in einem Termin" (§ 110 Satz 2, § 126 SGG) zu verstehen ist. Das Vorgehen des Berufungsgerichts ist nicht zu billigen, auch dann nicht, wenn es für die Säumnis eines Beteiligten darauf ankommt, daß er bis zu dem - von dem Vorsitzenden bestimmten - Schluß der "Verhandlung dieser Sache" nicht verhandelt hat (Wieczorek, Zivilprozeßordnung, B I zu § 220; Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 19. Aufl. IV 2 zu § 136, II 1 zu § 220; Thomas-Putzo, Zivilprozeßordnung, 6. Aufl., 2 zu § 220). Jedenfalls hätte, wie die Revision zu Recht rügt, das Berufungsgericht die Möglichkeit einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung in Betracht ziehen müssen. Weder das Berufungsurteil noch die Sitzungsniederschrift lassen erkennen, daß das Gericht - also der volle Spruchkörper - einen Beschluß über die Wiederherstellung der Verhandlung gefaßt habe. In den schriftlichen Urteilsausführungen ist bloß vermerkt, es habe aufgrund eines entsprechenden Hinweises in der Terminladung nach Lage der Akten befunden werden können. In dem Protokoll heißt es lediglich, nachdem von der Beanstandung durch den Anwalt des Klägers die Rede war, der Vorsitzende habe die Urteilsformel verlesen und die Urteilsgründe mitgeteilt. § 121 Satz 2 SGG stellt aber den Eröffnungsbeschluß in das Ermessen des "Gerichts". Daß dieses, und nicht nur der Vorsitzende, sich mit dieser Frage befaßt hat, ist nicht dargetan, geschweige denn, daß die Gründe gegen eine erneute Sacherörterung mitgeteilt worden wären. In beiden Unterlassungen ist ein Verstoß gegen das Verfahrensrecht zu erblicken (vgl. BSG SozR Nr. 1 zu SGG § 121).
Wenn ein Beteiligter die Wiedereröffnung auch nur unter bestimmten, hier nicht gegebenen Voraussetzungen erzwingen kann (BGH NJW 1970, 946, 950), so ist das Gericht gleichwohl gehalten, das Für und Wider eines nochmaligen Eintritts in die Verhandlung abzuwägen, wenn für einen solchen Wiedereintritt triftige Gründe bestehen. Daß entsprechende Erwägungen angestellt worden sind, muß zum Ausdruck gebracht werden. Andernfalls läßt sich nicht prüfen, daß das Gericht überhaupt und fehlerfrei von seiner Ermächtigung zur Ausübung des Ermessens Gebrauch gemacht hat. Ein solches Gebrauchmachen kann aber der einzelne verlangen, weil nur so sichergestellt ist, daß sein Recht auf volles Gehör im gerichtlichen Verfahren gewahrt ist.
Im gegenwärtigen Streitfalle bestand um so mehr Anlaß für ein Eingehen auf die Frage der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, weil der Kläger durch einen Rechtsanwalt vertreten war und dieser das Gericht keineswegs ungebührlich lange hatte warten lassen. Von ihm hätte ein vorheriger Hinweis erwartet werden können, wenn die Säumnis beabsichtigt gewesen wäre.
Das Berufungsgericht hat nach den Vorhergesagten einen wesentlichen Prozeßrechtsgrundsatz verletzt. Die Revision ist infolgedessen statthaft. Da das Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht vorweggenommen werden kann, ist die Revision auch begründet. Das angefochtene Urteil ist demgemäß aufzuheben, der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung für das Revisionsverfahren bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen