Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage der Unterbrechung des Versicherungsschutzes für einen Heimweg von der Arbeitsstätte, wenn der Versicherte, der für den Heimweg seinen Kraftwagen benutzt, den Wagen verläßt, auf der anderen Straßenseite eine Schuhmacherwerkstatt (oder ein Ladengeschäft) aufsucht und auf dem Rückweg zum Kraftwagen beim Überqueren der Straße verunglückt.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1963 und des Sozialgerichts Schleswig vom 23. Mai 1962 sowie der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 1962 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen seines Arbeitsunfalls vom 9. September 1961 die gesetzlichen Entschädigungsleistungen zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger ist selbständiger Malermeister und bei der Beklagten unfallversichert. Er wurde am 9. September 1961 von einem Radfahrer angefahren und erlitt hierbei erhebliche Verletzungen. Darüber, wie es zu diesem Unfall kam, hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) folgendes festgestellt:
Am 9. September 1961 fuhr der Kläger mit seinem Pkw gegen 13 Uhr nach Beendigung der Arbeit von seiner in Flensburg, ...straße .. , gelegenen Malerwerkstatt zum Mittagessen in seine in dem ... Weg .. gelegene Privatwohnung. Auf diesem von ihm täglich benutzten, in etwa höchstens 10 Minuten zurückzulegenden Heimweg hielt er vor dem Grundstück ...straße .. , um die auf der gegenüberliegenden Seite befindliche Schuhmacherwerkstatt aufzusuchen. Dort wollte er nach einer Reparaturmöglichkeit für seine Arbeitsschuhe fragen und bei dieser Gelegenheit eventuell gleich die Schuhe seiner Ehefrau abholen. Auf dem Rückweg von der Werkstatt, die er geschlossen antraf, verunglückte der Kläger beim Überqueren des Fahrdammes.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 26. Januar 1962 den Entschädigungsanspruch des Klägers ab. Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat die hiergegen erhobene Klage durch Urteil vom 23. Mai 1962 abgewiesen.
Das LSG hat durch Urteil vom 21. Mai 1963 die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Der Kläger benötige - wie er eingeräumt habe - für seine Malerarbeiten auf Gerüsten keine Spezialschuhe; allgemeine Arbeitskleidung eines Beschäftigten gehöre aber zu seinen privaten Gebrauchsgegenständen, könne daher nicht als Arbeitsgerät gelten; folglich komme für den Unfall des Klägers der Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF nicht in Betracht. Den nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF versicherten Heimweg habe der Kläger unterbrochen, als er seinen Kraftwagen verließ, um nach einer Reparaturmöglichkeit für seine Arbeitsschuhe zu fragen, mithin eine in seinen privaten Bereich fallende unversicherte Angelegenheit besorgen sollte. Die Unterbrechung einer Autofahrt stelle zwangsläufig ein einschneidenderes Ereignis dar als die Besorgung, die ein Fußgänger im Straßenbereich vornehme. Von ausschlaggebender Bedeutung für den zeitweisen Wegfall des Versicherungsschutzes sei aber hier insbesondere, daß der Kläger von Anbeginn beabsichtigt habe, eine auf der anderen Straßenseite gelegene Werkstatt aufzusuchen, also seine eigenwirtschaftliche Besorgung nicht "im Vorbeigehen" habe erledigen können, sondern genötigt gewesen sei, den Straßenraum völlig zu verlassen und ein Gebäude zu betreten. In einem solchen Fall könne nicht mehr von einer geringfügigen Unterbrechung gesprochen werden, selbst wenn die Erledigung der Besorgung nur sehr kurze Zeit beanspruche, und auch selbst dann, wenn dem Versicherten die beabsichtigte Betätigung nicht möglich sei, weil er - wie der Kläger - die Für verschlossen vorfinde oder den Unfall bereits auf dem Weg zum Gebäude erleide; entscheidend bleibe stets, was der Versicherte im Zeitpunkt des Beginns der Unterbrechung zu tun beabsichtige. Für die Zeit der beabsichtigten eigenwirtschaftlichen Besorgung sei der Kläger daher nicht versichert gewesen; der Versicherungsschutz würde erst mit dem Besteigen des Kraftfahrzeugs wiederaufgelebt sein.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 20. Juli 1963 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16. August 1963 Revision eingelegt und sie am 7. September 1963 wie folgt begründet: Das Aufsuchen der Schuhmacherwerkstatt müsse als Betriebsweg anerkannt werden, da im Malergewerbe die Beschaffung und Instandsetzung von Arbeitsschuhen betriebsnotwendig sei. Im übrigen habe der Kläger durch das Aufsuchen der verschlossenen Werkstatt seiner versicherten Heimweg nur geringfügig unterbrochen. Nach der Verkehrsanschauung stelle sich die vom LSG angenommene Zäsur als gekünstelt dar. Der Kläger beantragt,
in Änderung der angefochtenen Urteile die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides zur Entschädigungsleistung für die Folgen des Unfalls vom 9. September 1961 zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie hält das Berufungsurteil für zutreffend.
II
Die Revision ist zulässig und begründet.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG diente die Tätigkeit des Klägers im Augenblick des Unfalls nicht unmittelbar dem Zurücklegen des Heimwegs von der Arbeitsstätte. Vielmehr hatte der Kläger in diesem Zeitpunkt eine Verrichtung - Anhalten des Pkw vor dem Grundstück ...straße .. , Aussteigen, Hinübergehen zur Schuhmacherwerkstatt, Zurückgehen über den Fahrdamm zum Pkw - eingeschoben, welche nicht das Erreichen der Wohnung bezweckte, sondern Zurücklegen des Heimwegs örtlich und der Zweckbestimmung nach abgrenzbar war. Das LSG meint, diese eingeschobene Verrichtung habe eine Unterbrechung des bis zum Verlassen des Pkw bestehenden Versicherungsschutzes aus § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF bewirkt, der ganze Vorgang könne nicht mehr als geringfügige Betätigung "im Vorbeigehen" bezeichnet werden; dabei vertritt das LSG allgemein den Standpunkt, solche Besorgungen stellten, wenn sie von einem ausgestiegenen Autofahrer verrichtet würden, eine einschneidendere Zäsur bei der Zurücklegung des Heimwegs dar, als wenn sie ein Fußgänger im Straßenbereich vornehme. Diesen Erwägungen ist der erkennende Senat in seiner neueren Rechtsprechung nicht gefolgt.
Wie der Senat in seinem Urteil vom 28. Februar 1964 (BSG 20, 219) des näheren dargelegt hat, ist nicht jedes Einschieben einer dem Zurücklegen des Heimwegs nicht unmittelbar dienenden Tätigkeit rechtlich als eine Unterbrechung des Heimwegs zu werten, welche auch die Unterbrechung des Versicherungsschutzes zur Folge hat. In jenem damals entschiedenen, mit dem hier zu beurteilenden Sachverhalt weitgehend übereinstimmenden Fall hat der Senat es nicht als gerechtfertigt erachtet, der Tatsache entscheidende Bedeutung beizumessen, daß ein Fußgänger zur Fortbewegung beliebig die Gehwege auf beiden Straßenseiten benutzen kann, während ein Kraftfahrer, um in einer Verkaufsstelle auf der in seiner Fahrtrichtung linken Straßenseite etwas zu erledigen, auf der rechten Fahrbahnseite anhalten, den Wagen verlassen und die Fahrbahn zu Fuß hin und wieder zurück überqueren muß. Diese eingeschobene Betätigung eines auf dem Heimweg befindlichen Kraftfahrers ist grundsätzlich nicht anders zu bewerten als das Hinüberwechseln eines Fußgängers von einer Straßenseite zur anderen. Wenn der erkennende Senat schließlich in dem genannten Urteil zu dem Ergebnis gelangt ist, daß ein zweimaliges Überqueren der Fahrbahn nicht als eine wesentliche Unterbrechung des versicherten Heimwegs anzusehen sei, so ist in dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit eine solche Unterbrechung um so mehr auszuschließen, als der Kläger die verschlossene Schuhmacherwerkstatt überhaupt nicht betreten hat und der kurzen Zeitspanne vom Halten des Wagens bis zum Unfall also den Bereich der Straße nicht verlassen hat. Die Bestätigung des Klägers im Augenblick des Unfalls vorbeigehen muß also der versicherten Zurücklegung des Heimwegs von der Arbeitsstätte zugerechnet werden. Auf die Behauptung des Klägers, die Reparatur seiner Arbeitsschuhe habe - entgegen der Ansicht des LSG - mit der Betriebstätigkeit wesentlich zusammengehangen, kommt es unter diesen Umständen nicht an; der Senat sieht demnach keinen Anlaß, zum Revisionsvorbringen insoweit Stellung zu nehmen.
Der festgestellte Sachverhalt reicht aus, um den Klageanspruch zu rechtfertigen. Die Feststellungen der Vorinstanzen zum Ausmaß der Unfallfolgen erlauben die Annahme einer begründeten Wahrscheinlichkeit, daß der Leistungsanspruch in einer Mindesthöhe gegeben ist, der erkennende Senat kann somit in der Sache selbst durch Grundurteil entscheiden (§§ 170 Abs. 2 Satz 1, 130 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - vgk. SozR SGG § 130 Nr. 4).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen