Leitsatz (amtlich)
RVO § 1265 S 2 Nr 1 findet auch dann Anwendung, wenn eine nur für den Fall der Berufsunfähigkeit der früheren Ehefrau vorgesehene Unterhaltsverpflichtung des Versicherten bei dessen Tod wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat (Anschluß an und Fortführung von BSG 1980-09-11 5 RJ 60/79 = SozR 2200 § 1265 Nr 50 und BSG 1980-11-05 11 RA 126/79 = SozR 2200 § 1265 Nr 53).
Normenkette
RVO § 1265 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 04.12.1979; Aktenzeichen L 6 Ar 521/78) |
SG München (Entscheidung vom 16.02.1978; Aktenzeichen S 8 Ar 338/76) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenrente nach dem 1975 verstorbenen Versicherten H K.
Die am 19. Juli 1919 geborene Klägerin war mit dem Versicherten seit 1946 verheiratet. Der Ehe entstammen zwei Kinder, von denen das jüngste im Oktober 1952 geboren wurde. Die Ehe wurde 1968 aus Verschulden der Klägerin geschieden und gleichzeitig festgestellt, daß der Versicherte mitschuldig sei und seine Schuld überwiege. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung nahmen beide Eheleute zurück und schlossen gleichzeitig den Vergleich vom 2. Juni 1970, in dem sich der Versicherte verpflichtete, an seine geschiedene Ehefrau, die Klägerin, einen monatlich vorauszahlbaren Unterhaltsbetrag von 150,-- DM von dem Zeitpunkt ab zu zahlen, in welchem die Berufsunfähigkeit der geschiedenen Ehefrau durch einen Rentenbescheid der zuständigen Landesversicherungsanstalt nachgewiesen werde. Die Klägerin war seit 1956 in ungekündigter Stellung beschäftigt. Ihre Nettoeinkünfte schwankten in der Zeit von 1974 bis Januar 1975 zwischen rund 450,-- und rund 800,-- DM.
Am 6. Februar 1975 verstarb der Versicherte. Die Klägerin bezieht seit dem 1. August 1976 von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Am 13. Februar 1975 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Hinterbliebenenrente nach dem Versicherten. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4. Februar 1976 den Antrag ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte mit Urteil vom 16. Februar 1978 verurteilt, an die Klägerin Hinterbliebenenrente ab 1. August 1976 zu gewähren.
Mit Urteil vom 4. Dezember 1979 hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Ein Anspruch aus § 1265 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) bestehe nicht, weil selbst dann, wenn der Versicherte, wie die Klägerin vortrage, monatlich 80,-- bis 100,-- DM gezahlt habe, 25 vH des zeitlich und örtlich notwendigen Unterhaltsbedarfs der Klägerin durch den Versicherten nicht gedeckt worden seien. Der Regelsatz der Sozialhilfe habe im Zeitpunkt des Todes des Versicherten am Wohnsitz der Klägerin für den Haushaltsvorstand oder einen Alleinstehenden 245,-- DM betragen. Diesem Betrag seien die Aufwendungen der Klägerin für Unterkunft und Heizung in Höhe von 350,-- DM monatlich hinzuzufügen. Der notwendige Mindestbedarf der Klägerin zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten habe demnach 595,-- DM ausgemacht. Der Versicherte müßte also 148,75 DM monatlich gezahlt haben, wenn seine Aufwendungen als maßgeblicher Unterhalt gewertet werden sollten.
Der Anspruch der Klägerin bestehe auch nicht nach § 1265 Satz 2 RVO. Zwar lägen die in § 1265 Satz 2 Nrn 2 und 3 geforderten Anspruchsvoraussetzungen vor. Die Klägerin habe im Zeitpunkt der Scheidung das 45. Lebensjahr vollendet gehabt und sei seit August 1976 berufsunfähig. Die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO lägen dagegen nicht vor. Die Klägerin habe gegenüber dem Versicherten auf Unterhalt verzichtet, so daß zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten ein Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten nicht wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der Klägerin aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden habe, sondern wegen des Verzichtes, den die Klägerin gegenüber dem Versicherten ausgesprochen habe. Die Klägerin habe zwar nicht unbegrenzt für die Zukunft auf jede Unterhaltszahlung verzichtet, habe aber zur Zeit des Todes des Versicherten keinen entsprechenden Anspruch gegen diesen gehabt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1265 RVO durch das Berufungsgericht.
Sie beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Berufung der Beklagten gegen das Urteil des
Sozialgerichts München vom 16. Februar 1978
zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Klägerin ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG ist zurückzuweisen.
Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 RVO seit dem 1. August 1976 zu. Die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 Nr 2 und 3 RVO liegen zugunsten der Klägerin vor. Witwenrente ist nach dem Versicherten nicht zu gewähren. Die Klägerin hatte zur Zeit der Scheidung das 45. Lebensjahr vollendet. Sie ist seit dem 1. August 1976 berufsunfähig. Die Klägerin hat auch zur Zeit des Todes des Versicherten lediglich wegen ihrer Erträgnisse aus einer Erwerbstätigkeit im Sinne des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO keinen Anspruch gegen den Versicherten auf Unterhalt gehabt.
Bei der Prüfung der Frage, ob nach dieser Vorschrift wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erwerbstätigkeit der früheren Ehefrau eine Unterhaltsverpflichtung nicht bestanden hat, ist die Leistungsfähigkeit des Versicherten zu unterstellen und sind die Einkünfte der früheren Ehefrau aus Erwerbstätigkeit hinwegzudenken. Alsdann ist zu prüfen, ob ein Unterhaltsanspruch der früheren Ehefrau besteht (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 18 RVO). Denkt man die Erwerbseinkünfte der Klägerin hinweg und unterstellt man die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Versicherten, so hat ein Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten bestanden. Der Vergleich der Klägerin mit dem Versicherten vom 2. Juni 1970 steht dem nicht im Wege. Durch diesen Vergleich hatte die Klägerin nicht vorbehaltlos auf ihren Anspruch auf Unterhalt verzichtet. Vielmehr war vereinbart worden, daß die Klägerin einen Unterhaltsbetrag von 150,-- DM von dem Zeitpunkt an beziehen solle, von welchem an ihre Berufsunfähigkeit durch einen Rentenbescheid der zuständigen Landesversicherungsanstalt nachgewiesen sei. Wirtschaftlich bedeutet das, daß die Klägerin darauf angewiesen war, aus eigenen Mitteln - und das bedeutete bei der Klägerin durch Erwerbstätigkeit - ihren Unterhalt bis zu dem Zeitpunkt zu bestreiten, von dem an sie nicht mehr in der Lage sein werde, ihrem Beruf nachzugehen. Wohl hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden (BSGE 40, 155 = SozR 2200 § 1265 Nr 6), daß kein Anspruch nach § 1265 Satz 2 RVO gegeben sei, wenn die Unterhaltspflicht des Versicherten durch einen Unterhaltsverzicht der früheren Ehefrau schlechthin ausgeschlossen sei. Der Senat hat jedoch bereits mit Urteil vom 11. September 1980 (5 RJ 60/79) klargestellt, daß dies nicht gilt, wenn die Ehefrau durch den Unterhaltsvergleich lediglich darauf verwiesen worden ist, sich durch eigene Erwerbstätigkeit ihren Unterhalt zu verdienen, die Unterhaltspflicht des Versicherten also dann eintreten soll, wenn - infolge des Wegfalls des eigenen Verdienstes - ein Notbedarfsfall eingetreten ist. Dabei kann es - wie der erkennende Senat in dem genannten Urteil betont hat - für die Anwendung des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO nicht darauf ankommen, ob der vom Verzicht ausgenommene Fall der Unterhaltspflicht bis zum Tode des Versicherten tatsächlich eingetreten war. Dieser Entscheidung hat sich der 11. Senat des BSG angeschlossen (Urteil vom 5. November 1980, 11 RA 126/79).
Auch im vorliegenden Fall ist in dem anläßlich der Ehescheidung geschlossenen Vergleich eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten nicht vorbehaltlos ausgeschlossen worden. Für einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Satz 2 RVO kann deshalb auch hier nur rechtserheblich sein, ob die frühere Ehefrau durch den Tod des Versicherten eine Einbuße möglicher künftiger Unterhaltsansprüche erleidet. Der Eintritt dieser Möglichkeit ist aber bei einer Unterhaltsvereinbarung für den Fall der Berufsunfähigkeit ebenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, sondern gerade von den Erwerbsmöglichkeiten der früheren Ehefrau abhängig. Diese sollen jedoch im Rahmen des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO in der mit Wirkung vom 1. Januar 1973 in Kraft getretenen Fassung des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) nach dem Willen des Gesetzgebers einen Hinterbliebenenrentenanspruch nicht ausschließen.
Der Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten, der nach dem Vergleich zwischen den früheren Eheleuten vorbehalten war, macht auch "etwa 25 vH" des Betrages aus, den die Klägerin zur Deckung ihres notwendigen Mindestbedarfs benötigte (vgl hierzu Urteile des Senats vom 28. Mai 1980 - 5 RKn 29/78 und 11. September 1980 - 5 RJ 90/79 jeweils mwN). Das ergibt sich aus den für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG.
Der Hinterbliebenenrentenanspruch der Klägerin würde daher lediglich dann entfallen, wenn die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten nicht aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit, sondern aus anderen Gründen gegen den Versicherten keinen Unterhaltsanspruch gehabt hätte. Diese Möglichkeit scheidet nach den für den Senat ebenfalls bindenden Feststellungen des LSG aus. Danach hatte die Klägerin ihren Unterhalt vor dem Tode des Versicherten durch Servieren verdienen müssen.
Ob der Anspruch der Klägerin auch aus § 1265 Satz 1 RVO begründet ist, kann nach alledem dahinstehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen