Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung. Verfahrensmangel anzuwendendes Recht bei Wiedereinsetzungsgesuch
Orientierungssatz
1. Ein Verfahrensmangel liegt vor, wenn ein Wiedereinsetzungsgesuch vom Gericht für begründet erachtet wird, es jedoch nicht in der Sache entscheidet, sondern die Berufung aus formellen Gründen wegen Fristversäumung zurückweist.
2. Ein Wiedereinsetzungsgesuch ist nach dem Verfahrensrecht zu beurteilen, das im Zeitpunkt der Fristversäumung und des Wegfalls des Hindernisses gilt.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, § 67
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 07.01.1955) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Januar 1955 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin begehrte mit Antrag vom 7. September 1950 Hinterbliebenenversorgung nach ihrem am 30. April 1943 durch Herzschlag verstorbenen Ehemann. Dieser ist als Oberstleutnant am 30. September 1942 auf Grund § 24 Abs. 3 des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 aus dem aktiven Wehrdienst ausgeschieden und erhielt Ruhegehalt nach dem Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetz (WFVG). Nach seinem Tode erhielt die Klägerin mit Bescheid des Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamts Berlin vom 5. Juni 1943 Witwengeld in Höhe von 60 v.H. des Ruhegehalts nach dem WFVG. Im Anschluß an die Berechnung der monatlichen Beträge des Witwergeldes ist auf dem Bescheidformblatt u.a. ein Absatz vorgedruckt:
Der Tod Ihres Ehemannes ist - nicht - die Folge einer Wehrdienstbeschädigung. Die Versorgung mit Witwen- und Waisenrente kommt - deshalb - nicht - in Frage -, weil sie - ungünstiger, günstiger - ist, - hierfür gilt der besondere Bescheid.
In diesem Absatz ist das erste Wort "nicht" gestrichen.
Mit Bescheid vom 29. Juni 1951 lehnte das Versorgungsamt Berlin Versorgung ab: der Tod sei nicht Schädigungsfolge im Sinne der §§ 1 des Berliner Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24.7.1950 (KVG) und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Das Herzleiden sei altersbedingt gewesen. Das Ruhegehalt des Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamts habe eine reine Dienstzeitversorgung unabhängig von einer Wehrdienstbeschädigung (WDB.) dargestellt. Der Bescheid wurde am 9. Juli 1951 zur Post gegeben.
Am 13. Mai 1952 legte die Klägerin Einspruch ein. Zur Begründung der Verspätung führte sie aus, sie habe, als sie seinerzeit den ablehnenden Bescheid erhielt, sogleich bei dem zuständigen Sachbearbeiter des Versorgungsamts vorgesprochen, um sich zu erkundigen, ob und welche Schritte sie gegen die Ablehnung unternehmen dürfe. Es sei ihr bedeutet worden, daß ein Einspruch zwecklos wäre. Damit habe sie sich damals zufriedengegeben. Sie sei jedoch jetzt zu der Auffassung gekommen, daß das Leiden ihres Mannes, an dessen Folgen er verstorben sei, als Dienstbeschädigung angesehen werden müsse. Sie bitte, in eine Überprüfung der Angelegenheit einzutreten.
Das Landesversorgungsamt wies den Einspruch mit Entscheidung vom 18. März 1953 als verspätet zurück. Die Klägerin habe keine stichhaltigen Gründe vorgetragen, die die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen könnten.
Hierauf erhob die Klägerin Klage zum Versorgungsgericht. Sie begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und wies darauf hin, daß in dem Bescheid vom 5. Juni 1943 der Tod ihres Ehemannes als WDB-Folge anerkannt worden sei.
Die Klage blieb ebenso wie die dagegen eingelegte Berufung erfolglos.
Das Landessozialgericht hat in dem Urteil vom 7. Januar 1955 ausgeführt, der Einspruch beim Landesversorgungsamt sei verspätet. Die Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand richte sich nach dem Recht, das zur Zeit des Laufs der Einspruchsfrist galt. Das Landessozialgericht hat dabei § 54 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 27. September 1938 zur Entscheidung herangezogen. Die Auskunft des Beamten, die Durchführung eines Einspruchsverfahrens sei zwecklos, stelle keine Verhinderung durch Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle dar. Die Klägerin hätte, ebenso wie sie es später im Mai 1952 getan habe, den Einspruch auch schon innerhalb der vorgesehenen Frist einlegen können. In der Berufung des Beklagten auf die Fristversäumnis liege kein Verstoß gegen Treu und Glauben. Aus der Rechtsmittelbelehrung in dem Bescheid vom 29. Juni 1951 habe die Klägerin entnehmen können, daß sie sich innerhalb der dort bezeichneten Frist entscheiden müsse, ob sie ihre vermeintlichen Ansprüche weiterverfolgen wolle, gleichviel ob und inwieweit sie ihre Entscheidung von dem Rat eines anderen abhängig mache.
Revision ist nicht zugelassen worden.
Gegen das Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt und beantragt:
Das Urteil des Landessozialgerichts vom 7. Januar 1955 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Entscheidung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie rügt, 1.) das Landesversorgungsamt habe den Einspruch nur aus formellen Gründen wegen Fristversäumung abgelehnt und nicht materiell-rechtlich geprüft. Daher liege keine rechtskräftige Entscheidung im Sinne des Gesetzes vor. Sie weist auf einen Aufsatz von Wilke in "Kriegsopferversorgung" Berlin 1952 S. 75 hin. In dem Bescheid des Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamts vom 5. Juni 1943 sei WDB. rechtskräftig ausgesprochen, 2.) die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand müsse nach § 67 SGG beurteilt werden, 3.) der Beklagte habe gegen Treu und Glauben verstoßen, 4.) der Tod des Ehemannes der Klägerin sei Folge der WDB. durch Überarbeitung und Überbeanspruchung im Dienste der Wehrmacht.
Der Beklagte hat Verwerfung der Revision beantragt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist jedoch nicht zulässig.
Da sie nicht zugelassen ist, findet sie nach § 162 Abs. 1 SGG nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Landessozialgerichts gerügt wird und vorliegt (BSG 1 S. 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Tod des Ehemannes und einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes das Gesetz verletzt ist (BSG. 1 S. 254).
Das erste Revisionsvorbringen kann dahin gedeutet werden, das Landesversorgungsamt habe den Anspruch der Klägerin zu Unrecht nicht sachlich geprüft. Es kann damit als Rüge nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG (wesentlicher Verfahrensmangel) betrachtet werden. Die Unterlassung einer Sachentscheidung würde einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellen, wenn eine solche hätte getroffen werden müssen (vgl. BSG. 1 S. 283). Hier wird dieser Verfahrensmangel in erster Linie dem Landesversorgungsamt vorgeworfen, bei § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG muß es sich dagegen um einen Verfahrensmangel des Landessozialgerichts handeln. Das Landessozialgericht hatte zu prüfen, ob das Landesversorgungsamt und das Sozialgericht zu Recht eine Sachentscheidung abgelehnt haben, ob also deren Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Der Angriff gegen die Beurteilung von Verfahrensmängeln der Vorinstanzen durch das Landessozialgericht betrifft an sich den Inhalt seines Urteils. Hier würde jedoch damit auch ein Verfahrensmangel des Landessozialgerichts geltend gemacht werden; denn hätte das Landessozialgericht, so kann das Vorbringen gedeutet werden, die von der Klägerin beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist für begründet erachtet, so hätte es selbst sachlich entscheiden müssen und nicht aus formalen Gründen wegen Fristversäumung die Berufung zurückweisen dürfen. Es hätte das Urteil des Sozialgerichts aufheben und über den Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung selbst entscheiden oder die Sache nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG an das Sozialgericht zurückverweisen müssen (BSG. Urteil vom 15.12.1955 - 4 RJ 108/54 - in SozR. SGG § 162 Da 8 Nr. 40; Urteil vom 20.12.1956 - 3 RJ 88/54 - in SozR. SGG § 162 Da 16 Nr. 66). Ein solcher Verfahrensmangel des Landessozialgerichts liegt jedoch nicht vor, denn es hat mit Recht eine Sachentscheidung abgelehnt, weil es die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt hat.
Zu dem weiteren Vorbringen, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Einspruchsfrist richte sich nach § 67 SGG, hat das Bundessozialgericht bereits entschieden, daß das Verfahrensrecht anzuwenden ist, das im Zeitpunkt des Ablaufs der Verfahrensfrist und des Wegfalls des Hindernisses gegolten hat (BSG. 1 S. 44 und S. 227). Das Landessozialgericht hat die Begründetheit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist des § 41 Abs. 1 Berliner KVG vom 24. Juli 1950 in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 22. Dezember 1952 (GVBl. S 1184) deshalb zu Recht nach dem vor Inkrafttreten des § 67 SGG geltenden Recht beurteilt.
Es kann hier dahingestellt bleiben, ob diese Frage in entsprechender Anwendung des § 233 Zivilprozeßordnung (ZPO), des § 54 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 27. September 1938 oder nach § 131 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu entscheiden war (§ 49 Berliner KVG vom 24. Juli 1950, aufgehoben zum 1.10.1950 durch Artikel 4 Abs. 2 des Berliner KVG vom 12.4.1951); denn sämtliche heranziehbaren Bestimmungen sehen eine Wiedereinsetzung nur bei Verhinderung durch Naturereignisse und unabwendbare Zufälle vor.
Das Landessozialgericht hat das Gesetz nicht verletzt, wenn es in der Auskunft des Beamten des Versorgungsamts, die mit dem Inhalt des Bescheides vom 29. Juni 1951 übereinstimmte, keinen unabwendbaren Zufall gesehen hat. Die Revision ist daher insoweit nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht statthaft.
Die dritte Revisionsrüge richtet sich gegen den Inhalt des Urteils des Landessozialgerichts, denn es ist keine Frage seines Verfahrens, wie es das Verhalten des Beklagten wertet, ganz abgesehen davon, daß die Einspruchsfrist des § 41 Berliner KVG vom 24. Juli 1950 eine gesetzliche Verfahrensfrist ist, deren Einhaltung das Gericht in jeder Instanz von Amts wegen zu prüfen hat, und deren Beachtung oder Nichtbeachtung nicht im Ermessen der Beteiligten steht. Auch diese Rüge ist nicht geeignet, die Revision als statthaft erscheinen zu lassen.
Das weitere Revisionsvorbringen betrifft den ursächlichen Zusammenhang des Todes des Ehemannes mit Einwirkungen des Wehrdienstes. Das Landessozialgericht hat über einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Tod und Wehrdienst überhaupt nicht entschieden, da es die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist als Voraussetzung einer Sachentscheidung in nicht zu beanstandender Weise nicht für begründet erachtet hat. Diese Revisionsrüge greift also ebenfalls nicht durch.
Da die Revision danach nicht zulässig ist, war sie gemäß § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen