Verfahrensgang
Tenor
1. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 8. Mai 1998 – 10 S 3182/97 – und das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22. Oktober 1997 – 3 K 1340/97 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Stuttgart zurückverwiesen.
2. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 EUR (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verfassungsmäßigkeit der Entziehung einer Fahrerlaubnis wegen verweigerter Beibringung eines behördlich angeforderten Drogenscreenings nach festgestelltem Besitz einer geringen Menge Haschisch.
I.
1. Im Ausgangsverfahren sind von den Gerichten inzwischen aufgehobene beziehungsweise geänderte Bestimmungen des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und der durch den Bundesminister für Verkehr erlassenen Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) in deren jeweiliger am 8. März 1995 geltenden Fassung angewendet worden. In dieser Fassung sind sie auch für das vorliegende Verfassungsbeschwerde-Verfahren maßgeblich.
2. Dem Beschwerdeführer ist im Jahre 1990 eine Fahrerlaubnis der (nach damaligem Recht) Klassen 3, 4 und 5 erteilt worden.
Im Juni 1994 wurde er anlässlich seiner Teilnahme an einem Rockkonzert einer polizeilichen Personenkontrolle unterzogen. Hierbei wurden bei ihm 1,2 Gramm Haschisch aufgefunden. Das sodann gegen den Beschwerdeführer eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren ist im Oktober 1994 durch die Staatsanwaltschaft eingestellt worden.
Mit Schreiben vom 9. November 1994 teilte die Verkehrsbehörde dem Beschwerdeführer mit, dass wegen des Verdachts auf Drogenkonsum Bedenken hinsichtlich seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bestünden. Zudem forderte sie ihn in Anwendung von § 15 b Abs. 2 StVZO auf, binnen eines halben Jahres ein durch ein medizinisch-psychologisches Institut auf der Grundlage eines Drogenscreenings („Haaranalyse oder drei politoxikologische Urinkontrollen”) erstelltes Teilgutachten vorzulegen. Für den Fall der Weigerung wurde dem Beschwerdeführer die Entziehung seiner Fahrerlaubnis angedroht. Der Beschwerdeführer ist dieser Aufforderung nicht nachgekommen.
Die Verkehrsbehörde entzog ihm daraufhin mit für sofort vollziehbar erklärtem Bescheid vom 11. Mai 1995 die Fahrerlaubnis. Der Vorfall im Juni 1994 gebe Anlass zu Bedenken gegen die Eignung des Beschwerdeführers zum Führen von Kraftfahrzeugen. Seine Weigerung, das von ihm geforderte Gutachten beizubringen, lasse darauf schließen, dass er Eignungsmängel verbergen wolle. Dies wiederum berechtige die Verkehrsbehörde, auf die Nichteignung des Beschwerdeführers zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen.
Der Widerspruch des Beschwerdeführers gegen diesen Bescheid und sein beim Verwaltungsgericht gestellter Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz blieben ohne Erfolg. Die nachfolgend vom Beschwerdeführer erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts vom 22. Oktober 1997 abgewiesen. Seinen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil lehnte der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 8. Mai 1998 ab.
3. Der Beschwerdeführer hat gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 22. Oktober 1997 und den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Mai 1998 Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt, durch die angegriffenen Entscheidungen in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt worden zu sein. Mit der Anforderung des Drogenscreenings sei in unverhältnismäßiger Weise in seine Freiheitsrechte eingegriffen worden. Es lägen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für einen Eignungsmangel in seiner Person vor. Darüber hinaus verstoße die Anforderung des Drogenscreenings auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, da Drogenkonsumenten einer im Vergleich zu Alkoholkonsumenten deutlich strengeren verkehrsbehördlichen Überwachung unterlägen und hinreichende sachliche Gründe für diese Ungleichbehandlung nicht bestünden.
4. Zu der Verfassungsbeschwerde und den im vorliegenden Fall aufgeworfenen Fragen der Wirkungen des Konsums von Cannabis, Alkohol und anderen bewusstseinsverändernden Mitteln haben der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen namens der Bundesregierung, die Mehrzahl der Landesregierungen sowie die Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs Stellung genommen.
Ferner sind Stellungnahmen der Bundesanstalt für Straßenwesen, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, des Deutschen Verkehrssicherheitsrats, der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, der Gesellschaft gegen Alkohol- und Drogengefahren und des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel als sachkundigen Dritten eingeholt worden.
Das Gericht hat zudem bei Prof. Dr. Günter Berghaus (Institut für Rechtsmedizin der Universität Köln) und Prof. Dr. Hans-Peter Krüger (Interdisziplinäres Zentrum für Verkehrswissenschaften an der Universität Würzburg) gutachterliche Äußerungen zu Fragen im Zusammenhang mit dem Konsum von Cannabis eingeholt.
Hinsichtlich des Inhalts der eingeholten Stellungnahmen und Gutachten wird auf den dieser Entscheidung beigefügten Abdruck des Beschlusses der Kammer vom 20. Juni 2002 – 1 BvR 2062/96 – Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Voraussetzungen einer stattgebenden Kammerentscheidung sind gegeben (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.
Die gegenüber dem Beschwerdeführer verfügte Fahrerlaubnisentziehung und die darauf bezogenen, mit der vorliegenden Verfassungsbeschwerde angegriffenen Gerichtsentscheidungen enthalten einen verfassungswidrigen Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Denn allein aus der einmaligen Feststellung, dass der Beschwerdeführer unerlaubt eine kleine Menge Haschisch besessen hat, ergab sich kein hinreichend konkreter Gefahrenverdacht und somit kein berechtigter Anlass, die Fahreignung des Beschwerdeführers nach § 15 b Abs. 2 StVZO zu überprüfen. Seine Weigerung, sich der geforderten Begutachtung zu stellen und die mit ihr verbundene Beeinträchtigung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts hinzunehmen, durfte im Fahrerlaubnisentziehungsverfahren daher nicht zu seinen Lasten gewürdigt werden. Dies ist jedoch geschehen. Zur weiteren Begründung wird auf den beigefügten Abdruck des Beschlusses der Kammer vom 20. Juni 2002 – 1 BvR 2062/96 – Bezug genommen.
Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen, mit denen die Fahrerlaubnisentziehungsverfügung der Verkehrsbehörde vom 11. Mai 1995 bestätigt worden ist, beruhen auf der festgestellten Grundrechtsverletzung. Die Entscheidungen sind daher aufzuheben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Da die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben, braucht der Frage nicht nachgegangen zu werden, ob mit ihnen auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen worden ist.
Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Verwaltungsgericht zurück zu verweisen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den durch das Bundesverfassungsgericht hierzu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 357 ≪361 ff.≫; 79, 365 ≪366 ff.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 841109 |
BA 2004, 251 |