Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung bei falscher Bezeichnung des Finanzamts
Leitsatz (redaktionell)
Es begründet zwar regelmäßig die Annahme subjektiv vorwerfbarer Außerachtlassung der zumutbaren Sorgfalt, wenn der Rechtsmittelführer den Einspruch an ein falsches Finanzamt adressiert, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt aber trotzdem in Betracht, wenn das unzuständige Finanzamt die Weiterleitung schuldhaft verzögert oder überhaupt unterlässt.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4; AO 1977 § 110
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19. Dezember 2000 – VII R 7/99 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben und die Sache an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 EUR (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslegung und Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschrift des § 110 Abs. 1 AO 1977.
1. Der Beschwerdeführer war alleiniger Geschäftsführer einer GmbH. Diese hatte erhebliche Steuerrückstände. Das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung in Düsseldorf ermittelte zur Höhe der Steuerschuld und korrespondierte in diesem Zusammenhang mit dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers. Mit Haftungsbescheid vom 23. März 1995 nahm ihn das Finanzamt Mönchengladbach-Mitte als gesetzlichen Vertreter nach §§ 34, 69 AO für Steuerrückstände der GmbH in Höhe von rund 611.000 DM in Anspruch. Dagegen hat der Beschwerdeführer am 19. April 1995 Einspruch erhoben, der an das Finanzamt Düsseldorf adressiert war, dort am 21. April 1995 einging und zu den Akten genommen wurde. Der Beschwerdeführer legte am 19. Juli 1995 erneut Einspruch ein, dieses Mal beim Finanzamt Mönchengladbach-Mitte und beantragte zugleich die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Hierzu trug er vor, er habe bereits am 19. April 1995 Einspruch gegen den Haftungsbescheid eingelegt. Der Brief sei auf Grund eines Büroversehens an das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung in Düsseldorf adressiert worden. Die Bearbeiterin des Finanzamts Düsseldorf habe das Schreiben in der Meinung, es handele sich um die Information über einen bei dem Finanzamt Mönchengladbach-Mitte erhobenen Einspruch, in den Akten abgelegt und nicht dorthin weitergeleitet.
Die Einspruchsentscheidung, mit der das Finanzamt den Einspruch als unzulässig zurückgewiesen hatte, hat das Finanzgericht aufgehoben (EFG 1999, S. 258).
Der Bundesfinanzhof hat das Urteil des Finanzgerichts auf die Revision des Finanzamts mit Urteil vom 19. Dezember 2000 (BStBl II 2001 S. 158) aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das Finanzamt habe die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 Abs. 1 AO 1977 zu Recht versagt. Der Beschwerdeführer habe die Einspruchsfrist schuldhaft versäumt. In der falschen Bezeichnung der Rechtsbehelfsbehörde liege ein ihm zuzurechnendes Verschulden seines Bevollmächtigten.
Die Verantwortlichkeit des Bevollmächtigten für die Fristversäumnis entfalle auch nicht deshalb, weil das unzuständige Finanzamt die Weiterleitung des Schriftstücks im ordentlichen Geschäftsgang nicht vorgenommen habe und dadurch möglicherweise die Fristversäumnis erst eingetreten sei. Es könne offen bleiben, aus welchen Gründen die Sachbearbeiterin des unzuständigen Finanzamts die Rechtsbehelfsschrift nicht weitergeleitet habe. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme auch in Fällen, in denen die empfangende unzuständige Behörde die Übermittlung des Rechtsbehelfsschreibens hinauszögere oder gar unterlasse, nur in Betracht, wenn den Rechtsbehelfsführer an der fehlerhaften Anbringung selbst kein Verschulden treffe. Da das Finanzamt Düsseldorf lediglich die Besteuerungsgrundlagen ermittelt, den Haftungsbescheid aber weder vorbereitet noch erlassen habe, hätte es möglicherweise umständlicher Nachforschungen über das zuständige Finanzamt bedurft. Wegen des damit verbundenen Arbeitsaufwandes könne von der Behörde nicht erwartet werden, jedes eingehende Schreiben unverzüglich inhaltlich daraufhin zu prüfen, ob es sich hierbei um einen Rechtsbehelf gegen einen von einer anderen Behörde erlassenen Verwaltungsakt handele und gegebenenfalls den richtigen Adressaten zu ermitteln. Dies würde zu einer überhöhten zusätzlichen Belastung führen. Das tatsächliche oder vermutete Verschulden der unzuständigen Behörde könne nur ausnahmsweise – z.B. bei willkürlichem, offenkundig nachlässigem und nachgewiesenem Fehlverhalten – dazu führen, dass die Verantwortlichkeit des Absenders entfalle.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG. Der Bundesfinanzhof habe die Anforderungen an die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand überspannt. Es liege ein so gravierendes, offenkundig nachlässiges Fehlverhalten der Behörde vor, das die Verantwortlichkeit des Absenders entfallen lasse, wenn die Finanzverwaltung einen im Original vorgelegten und mit einer Vollmacht versehenen Einspruch nicht weiterleite, sondern abhefte.
3. Das Bundesministerium der Finanzen sowie das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesarbeitsgericht, das Bundessozialgericht und der Bundesgerichtshof haben zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Die angegriffene Entscheidung des Bundesfinanzhofs verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG.
a) Die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG gebietet eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. BVerfGE 77, 275 ≪284≫; 78, 88 ≪99≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 2000 – 1 BvR 830/00 –, NVwZ 2000, S. 1163 und Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 31. Juli 2001 – 1 BvR 1061/00 –). Dem Richter ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 ≪369 f.≫). Dies hat der Richter auch bei der Prüfung, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, zu berücksichtigen. Deshalb dürfen die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden. Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zu den Gerichten eröffnet (vgl. BVerfGE 15, 275 ≪281 f.≫).
b) Mit diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen steht das angegriffene Urteil des Bundesfinanzhofs nicht in Einklang.
Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist für den Fall, dass jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Gibt der Rechtsbehelfsführer die Behörde, bei der der Rechtsbehelf anzubringen ist, fehlerhaft an, begründet dies nach der ständigen Rechtsprechung der obersten Gerichte regelmäßig die Annahme subjektiv vorwerfbarer Außerachtlassung der zumutbaren Sorgfalt (vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 1995, NJW 1995, S. 2105; BVerwG, Beschluss vom 6. August 1997, NJW 1998, S. 398; BAG, Urteil vom 30. März 1995, NJW 1995, S. 2742; BSG, Urteil vom 26. August 1994, SozSich 1995, S. 433; BFH, Urteil vom 10. Juni 1999, BFHE 189, 573). Andererseits besteht aber für die Behörden grundsätzlich die Verpflichtung, leicht und einwandfrei als fehlgeleitete fristwahrende Einspruchsschreiben erkennbare Schriftstücke im Zuge des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs ohne schuldhaftes Zögern an die zuständige Behörde weiterzuleiten (vgl. BFH, Beschluss vom 6. Mai 1998, BFH/NV 1999, S. 146). Hat die unzuständige Behörde die Übermittlung schuldhaft verzögert oder überhaupt unterlassen, kommt im Falle willkürlichen, offenkundig nachlässigen und nachgewiesenen Fehlverhaltens der Behörde nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und in der Literatur vertretener Ansicht die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht (vgl. BFH, Beschluss vom 6. Mai 1998, a.a.O.; Tipke/Kruse, AO – FGO, 16. Auflage 1996, § 110 Rn. 50; Kühn/Hofmann, AO, FGO, 17. Auflage 1995, § 357 Rn. 4 c; Wüllenkemper, DStZ 2000, S. 366 ≪370≫; a.A. Söhn in Hübschmann, Hepp, Spitaler, AO (FGO), 10. Auflage 1995, § 110 Rn. 32).
Zwar hat der Bundesfinanzhof diese verfassungsrechtlich unbedenklichen Grundsätze zur Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch in der angegriffenen Entscheidung zu Grunde gelegt. Bei Anwendung des Maßstabs hätte er jedoch die Frage eines etwaigen offenkundig nachlässigen Fehlverhaltens auf Seiten der Behörde prüfen und nicht offen lassen dürfen. Dabei hätte er berücksichtigen müssen, dass ein solches Fehlverhalten eines Behördenmitarbeiters jedenfalls dann vorliegt, wenn ein leicht als Rechtsbehelfsschreiben zu erkennendes Schriftstück eingeht, der Mitarbeiter dieses Schreiben ohne weiteres auch als Irrläufer erkennen kann, aber gleichwohl es zu den Akten nimmt und auch sonst nichts weiter veranlasst.
Das Finanzamt Düsseldorf, an welches das Einspruchsschreiben adressiert war, war als Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt richtiger Adressat eines Einspruchs. In dem Schreiben selbst waren sowohl der angefochtene Haftungsbescheid als auch die erlassende Behörde bezeichnet, sodass das Schreiben leicht als Irrläufer hätte erkannt und ohne weitere Nachforschungen an das zuständige Finanzamt weitergeleitet werden können. Dass es sich nicht lediglich um die Information über einen bei einem anderen Finanzamt erhobenen Einspruch handeln konnte, musste sich auf Grund der Tatsache, dass es sich nicht etwa um eine Fotokopie einer Einspruchsschrift, sondern um das mit einer Originalvollmacht versehene Originalschriftstück handelte, geradezu aufdrängen.
Das Urteil des Bundesfinanzhofs beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist daher aufzuheben und die Sache an den Bundesfinanzhof zurückzuverweisen (§ 93 c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG).
c) Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Papier, Haas, Hohmann-Dennhardt
Fundstellen
HFR 2003, 74 |
NJW 2002, 3692 |
NVwZ 2003, 1114 |
SGb 2003, 35 |
AO-StB 2003, 184 |
FSt 2003, 525 |
KammerForum 2003, 66 |