Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 23.01.1995; Aktenzeichen 7 M 7313/94) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Beschluß des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. Januar 1995 – 7 M 7313/94 –, mit dem der Antrag der Beschwerdeführer auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen gegen eine Genehmigung nach § 6 Atomgesetz (AtG) zur Aufbewahrung bestrahlter Brennelemente in einem privaten Zwischenlager in Gorleben abgelehnt worden ist.
I.
1. Am 16. April 1982 erhielt die Rechtsvorgängerin der
Brennelementelager Gorleben GmbH, die Beigeladene zu 1. des Ausgangsverfahrens, eine Baugenehmigung für eine “Anlage zur Aufbewahrung von Kernbrennstoffen” bestehend aus einer Transportbehälter-Lagerhalle und Nebengebäuden. Damit wurde im wesentlichen der Bau einer Halle zur (Trocken-)Lagerung abgebrannter Brennelemente in 420 Spezialtransportbehältern zugelassen.
Der Beschwerdeführer zu 2. legte gegen die Baugenehmigung Widerspruch ein und beantragte im Verwaltungsrechtsweg, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Baugenehmigung anzuordnen. Der Antrag blieb vor dem Verwaltungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht erfolglos. Die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde mangels Erschöpfung des Rechtswegs als unzulässig verworfen (vgl. BVerfGE 77, 381 ff.).
Unter dem 16. September 1980 hatte die Beigeladene zu 1. bei der Antragsgegnerin beantragt, ihr gemäß § 6 Abs. 1 AtG die Aufbewahrung von bestrahlten Brennelementen aus Leichtwasserreaktoren mit einem Gehalt von maximal 1500 Tonnen Uran in 420 Transportbehältern vom Typ Castor im Zwischenlager Gorleben für höchstens 40 Jahre zu genehmigen. Am 5. September 1983 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen zu 1. die beantragte Aufbewahrungsgenehmigung. Mit einem als “erster Nachtrag zur Aufbewahrungsgenehmigung” bezeichneten Bescheid vom 6. September 1988 genehmigte die Antragsgegnerin verschiedene Änderungen und Ergänzungen des ursprünglich genehmigten Vorhabens. Zugleich ordnete sie die sofortige Vollziehung “der Aufbewahrungsgenehmigung vom 5. September 1983 in der Fassung dieses Nachtrages” an. Mit Bescheid vom 27. April 1994 erging eine “zweite Änderung und Ergänzung der Aufbewahrungsgenehmigung”, die am 24. Juni 1994 ebenfalls für sofort vollziehbar erklärt wurde. Zwischenzeitlich wurden auf dieser Rechtsgrundlage in den Jahren 1995 und 1996 zwei Castorbehälter im Zwischenlager Gorleben eingelagert.
2. Die Beschwerdeführer, die im näheren Umkreis des Zwischenlagers wohnen, erhoben im Jahre 1983 gegen die Genehmigung in Gestalt der jeweiligen Änderungsbescheide Klage, über die das Verwaltungsgericht noch nicht entschieden hat. Einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Genehmigung in der Fassung des ersten Nachtrags lehnte das Verwaltungsgericht durch Beschluß vom 12. April 1990 ab; die Beschwerde zum Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht blieb erfolglos.
Nach Erlaß der “zweiten Änderung und Ergänzung der Genehmigung” vom 27. April 1994 beantragten die Beschwerdeführer erneut die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen. Zur Begründung machten sie – wie in den Hauptsacheverfahren und im vorausgegangenen Eilverfahren – unter anderem geltend, daß für den Betrieb des Zwischenlagers nicht nur eine atomrechtliche Aufbewahrungsgenehmigung nach § 6 AtG, sondern eine atomrechtliche Errichtungsgenehmigung erforderlich sei.
Das Verwaltungsgericht Lüneburg gab dem Antrag mit Beschluß vom 21. November 1994 im wesentlichen statt.
Gegen diesen Beschluß erhoben die Bundesrepublik Deutschland, Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, und die Beigeladene zu 1. Beschwerde. Die Beschwerdeführer traten den Beschwerden entgegen.
Mit Beschluß vom 23. Januar 1995 änderte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht den Beschluß des Verwaltungsgerichts Lüneburg und lehnte den Hauptantrag der Beschwerdeführer, soweit ihm das Verwaltungsgericht entsprochen hatte, und ihren Hilfsantrag ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Bei der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Abwägung der wiederstreitenden Interessen der Beteiligten müsse das Interesse der Beschwerdeführer an einer vorläufigen Verhinderung des Vollzugs der Genehmigung schon deswegen hinter dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin und der Beigeladenen zu 1. zurücktreten, weil sich diese Genehmigung bereits bei summarischer Würdigung als rechtmäßig und die dagegen erhobene Klage als unbegründet erweise.
3. Mit ihrer am 21. Februar 1995 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 2 Abs. 2, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG durch den Beschluß des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. Januar 1995. Zur Begründung tragen sie im wesentlichen vor:
Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig, auch wenn der Rechtsweg in der Hauptsache noch nicht erschöpft sei. Die Hauptsacheverfahren seien gegen die Baugenehmigung seit 1982 und gegen die Einlagerungsgenehmigung seit 1983 anhängig, ohne daß bisher in erster Instanz eine Entscheidung ergangen wäre. Unter diesen Umständen würde es auf eine Verweigerung effektiven Rechtsschutzes hinauslaufen, wenn sie mit ihrem Begehren wiederum auf das Verfahren der Hauptsache verwiesen würden, zumal wegen der sofortigen Vollziehbarkeit der atomrechtlichen Genehmigung jederzeit Transportbehälter in Gorleben eingelagert werden dürften.
Zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde verweisen die Beschwerdeführer im wesentlichen auf ihren Vortrag im Verfahren 1 BvR 1561/82 (BVerfGE 77, 381 ≪390 f.≫).
II.
Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Insbesondere ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Grundrechte angezeigt, weil die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist. Ihr steht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen.
Die Ablehnung vorläufigen Rechtsschutzes enthält für die Antragsteller zwar eine selbständige Beschwer, die sich mit derjenigen durch die spätere Hauptsacheentscheidung nicht deckt (BVerfGE 35, 263 ≪275≫). Sie kann deshalb grundsätzlich selbständig mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden (BVerfGE 35, 263 ≪275≫; 53, 30 ≪48≫; 69, 315 ≪339 f.≫; 77, 381 ≪400 f.≫; 86, 15 ≪22≫). Das ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn die Verletzung von Grundrechten gerade durch die Eilentscheidung gerügt wird (BVerfGE 59, 63 ≪84≫; 65, 227 ≪233≫; 77, 381 ≪401 f.≫). In diesen Fällen verlangt § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nur, daß der Rechtsweg des Eilverfahrens erschöpft wird.
Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde erfordert jedoch, daß die Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus auch sonstige prozessuale Möglichkeiten ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Daraus folgt, daß die Erschöpfung des Rechtswegs im Eilverfahren dann nicht ausreicht, wenn das Hauptsacheverfahren hinreichende Möglichkeiten bietet, der Grundrechtsverletzung abzuhelfen, und dieser Weg den Beschwerdeführern zumutbar ist. Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn wie im vorliegenden Fall mit der Verfassungsbeschwerde ausschließlich Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf das Hauptsacheverfahren beziehen, wenn die tatsächliche und einfachrechtliche Lage durch die Fachgerichte noch nicht ausreichend geklärt ist und dem Beschwerdeführer durch die Verweisung auf den Rechtsweg in der Hauptsache kein schwerer Nachteil entsteht (BVerfGE 77, 381 ≪401 f.≫; 78, 290 ≪301 f.≫).
Nach diesen Grundsätzen sind die Beschwerdeführer auf die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache zu verweisen. Wegen der Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen im Beschluß des Ersten Senats vom 26. Januar 1988 (BVerfGE 77, 381 ≪402 ff.≫) verwiesen.
Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht deshalb zulässig, weil in den Hauptsacheverfahren der Beschwerdeführer gegen die Baugenehmigung und die Aufbewahrungsgenehmigung für das Zwischenlager seit 1982 bzw. 1983 eine erstinstanzliche Entscheidung bisher nicht getroffen worden ist. Eine unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes wird nicht dadurch zulässig, daß im Hauptsacheverfahren über einen langen Zeitraum keine Entscheidung ergeht. Denn der Subsidiaritätsgrundsatz soll vor allem sicherstellen, daß durch die umfassende fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte dem Bundesverfassungsgericht ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet wird und ihm die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Gerichte, insbesondere auch der obersten Bundesgerichte, vermittelt werden. In atomrechtlichen Verfahren erlangt dieser Gesichtspunkt besondere Bedeutung, weil vielfach schwierige technisch- naturwissenschaftliche Sachverhalte zu beurteilen sind, die von den Verwaltungsgerichten im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in der Regel nur kursorisch erörtert werden, so daß das Bundesverfassungsgericht genötigt sein könnte, auf ungesicherten tatsächlichen Grundlagen weitreichende Entscheidungen zu treffen.
Dem Umstand des sich über Jahre erstreckenden Ausbleibens einer Entscheidung in der Hauptsache kann aus den dargelegten Gründen nicht dadurch Rechnung getragen werden, daß in diesem Fall die Zulässigkeitsanforderungen an eine Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes gesenkt werden und das Bundesverfassungsgericht gehalten ist, ohne fachgerichtliche Entscheidung in der Hauptsache über die Verfassungsbeschwerde inhaltlich zu befinden.
Daran vermag auch der in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltene Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes, der verlangt, daß rechtzeitig innerhalb angemessener Zeit eine abschließende gerichtliche Entscheidung ergeht (BVerfGE 54, 39 ≪41≫; 55, 349 ≪369≫; 60, 253 ≪269≫; 88, 118 ≪124≫), nichts zu ändern. Bleiben die Gerichte in einer dem Art. 19 Abs. 4 GG widerstreitenden Weise untätig und verletzen sie damit ihre Pflicht zur Durchführung von Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit, hat der Rechtsuchende die Möglichkeit, gegen dieses grundrechtswidrige Unterlassen mit der Verfassungsbeschwerde vorzugehen.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Grimm, Hömig
Fundstellen